Was Mutter mir antat

Ich und meine Mutter »Die DDR war eine strenge Mutter«, hat Volker Braun einmal gesagt. Das bewog uns zu der Frage, ob der real existierende Sozialismus eine moderne Form ...

»Die DDR war eine strenge Mutter«, hat Volker Braun einmal gesagt. Das bewog uns zu der Frage, ob der real existierende Sozialismus eine moderne Form des Matriarchats hervorbrachte, und wir befragten für die Geschlechter-Seite des Freitag Schriftsteller aus dem Osten zu ihrem Verhältnis zur Mutter.

Nach einigen Absagen - »Wie bitte? Och nö, ne? Also wirklich nee. Da können Sie mich in 20 oder 30 Jahren noch mal nach fragen« - gaben uns drei Autoren Auskunft. Ihre einzige Gemeinsamkeit scheint die abwesende Mutter, die»mater abscondita« zu sein. Peter Wawerzinek hatte nie eine Mutter. Er könnte sich allerhöchstens Berlin, Herbert Achternbusch oder Katja Lange-Müller als Mutter vorstellen, aber eigentlich ist er sich selbst »Vatermutter« genug. In Eberhard Häfners Gedicht erscheint die Mutter als Metapher für einen verlorenen Zustand, der als Traum zurückkehrt. Gegenwart und erinnerte Vergangenheit treffen aufeinander - ein kurzer Moment Zeitlosigkeit: Der Träumende hört seinen eigenen Kinderruf. Und Mathias Wedel erinnert sich an anale Kollektiverlebnisse und den Ersatz der Mutter durch militante weiße Krippentanten. ... es bleibt unerschöpflich, das Thema:

Ja, ich bekenne - auch wenn meine Zahnärztin sich angewidert abwenden, mein Hund mich ignorieren und meine Gattin schwören wird, dass sie mich nie verlässt: Ich war ein Krippenkind. Wir müssen uns stellen. Pionierleiter, IM, Hebammen Lehrer, Richter, Grenzer, Trainer und die Spitzenfunktionäre der Kultur-Bund-Abteilung »Sukkulenten und Kakteen« mussten schon dran glauben. Wir Krippenkinder aber sollten uns die Reste unseres infantilen Frohsinns - wisst ihr noch, wenn es Pfannkuchen gab? - und unserer legendären Sauberkeit - »erst der Po und dann die Pfoten, andersrum ist es verboten« - bewahren. Warten wir nicht, bis man uns einzeln entlarvt. Handeln wir, wie wir es mit dem Breichen eingelöffelt gekriegt haben: in Gruppe.

Wenn mich meine Mutter am Montagmorgen gegen sechs entsorgte ... Ja, ihr habt richtig gehört! Ich wurde montags abgegeben und freitags, achtzehn Uhr dreißig wieder freigeschlossen. Abendverpflegung wurde am Freitag noch in der Einrichtung ausgereicht. Ich bin das ideelle Gesamtkrippenkind, das Krippenkind an sich, der Mielke unter den Hosenscheißern. Laut meinem damaligen Kaderentwicklungsplan sollte ich Staatssekretär für Kirchenfragen werden - und ich wäre es geworden, so um 1994. Mein erstes Wort war auch nicht »Mama«, sondern, wie bei allen gesunden Kindern in der analen Phase »Aa«. Mein zweites war aber schon »Morgenappell«. Denn nur wer Stuhldrang durch Handaufheben meldete, wurde vom Bett abgefesselt. Aber wehe, wenn dann nur heiße Luft kam! Das war Verscheißerung der Gruppe und unserer weißen Tanten, meist Majorinnen oder Majorsgattinnen! Wer eingeplattert hatte, wurde von der Meute kreischend mit Fröbel-Holzklötzchen gesteinigt. An den Narben auf der Stirn erkenne ich noch heute jedes ehemalige Krippenkind.

Aber es gab auch ausgesprochen heitere Momente: Wir saßen auf den Töpfchen unterm Stalin-Bild - unsere Gruppenführerin sang »Suliko« zur Harmonika (wenn nicht gerade Ulbricht im Radio sprach) - und wir durften nur aufstehen, wenn alle was gemacht hatten. Hei, war das ein Anfeuern und Daumendrücken und kollektives Flatuieren! Ein Mannschaftswettbewerb, wer die Rote Grütze vom Mittag am raschesten in braune verwandelt. (Ein frühes Farbsymbol für viel später aufbrechende nazistische Tendenzen?)

Deshalb unternehme ich auch heute so gerne Busreisen mit der Volkssolidarität - das Urinieren im Kollektiv an der Raststätte Bayreuth Nord: einmalig!

Wir haben das alles verdrängt! Psychologen und Kriminologen aus dem Westen - also Fachleute, die sich mit Verbrechern beschäftigen - helfen uns jetzt dabei, uns aufzuarbeiten. Denn jetzt sind wir gemeinsam älter und Täter geworden. Die Erwachsenen von drüben sind uns aber gar nicht böse deswegen. Das gefällt uns, denn in der Krippe haben wir auch manchmal Lob bekommen. Unsere Wochenkrippe trug den Ehrentitel »Bereich der vorbildlichen Ordnung, Sicherheit und Sauberkeit«. Das bekam nicht jeder, nur die Schweinemastanlage und wir.

Manchmal, einmal im Jahr, zum Internationalen Kindertag trifft sich unser Krippenkollektiv »Oberst Graf Schenk von Stauffenberg« wieder. Dann wundern wir uns, dass wir aus Frauen und Männern bestehen. Denn in der Krippe waren wir immer nur künftige sozialistische Menschen gewesen. Einmal, als meine Mutter mich abholte, sagte die Vollzugsangestellte vorwurfsvoll zu ihr: »Ihr Kind hat während der Mittagsruhe sein Geschlecht entdeckt.« - »So?«, sagte meine Mutter, »welches hat es denn?« und versprach, die Ernährung umzustellen.

Zwar habe ich keinen farbigen nichtdeutschen Mitbürger erschlagen und auf keinen polnischen Nachbarn den Hund gehetzt. Insofern habe ich nicht alle Erwartungen unserer westdeutschen Therapeuten an uns Krippenkinder erfüllt. Aber das wird noch, meinen die, wenn Krippencorpsgeist wieder uns ergreift und wir die Bomberjäckchen anziehn.

Dann knallt´s, aber richtig. Und wir stehen erst auf, wenn alle was gemacht haben.

(Aus Leinenzwang für Schwaben, erschienen im Eulenspiegel Verlag) Mathias Wedel, geb. 1953 in Erfurt, lebt in Berlin.

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