Florenz stand seit Monaten als Tagungsort des "Europäischen Sozialforums" (ESF) fest, das am Mittwoch seine Pforten geöffnet hat. Kein italienischer Politiker hatte die Wahl des Veranstaltungsortes kritisiert; die Landesmedien berichteten kaum über das anstehende Ereignis. Erst zwei Wochen vor Veranstaltungsbeginn erschien das Sozialforum im Urteil vieler Kabinettsmitglieder und Parlamentarier der Regierungskoalition plötzlich als gefährliche Bedrohung der öffentlichen Sicherheit. Wie auf Kommando überschwemmten hochrangige Kabinettsmitglieder die Medien mit allerlei düsteren Vorhersagen für das Sozialforum. Innenminister Giuseppe Pisanu (Forza Italia) etwa, der dem ESF stets mit Gelassenheit oder Desinteresse entgegengesehen hatte, warnte unversehens vor zu erwartenden schweren Krawallen am Rande der Veranstaltung. Es bestehe "konkrete Gefahr", dass "gewaltbereite Ausländer" die Renaissance-Stadt in Schutt und Asche legen. Vom Saulus zum Paulus gewandelt, korrigierte Pisanu über Nacht seine noch Anfang Oktober vertretenen Schätzungen, in der toskanischen Metropole würden fünf bis sechstausend (harmlose) ausländische ESF-Teilnehmer eintreffen, erheblich nach oben: "mindestens 10-12.000" Europäer würden dem Aufruf nach Florenz folgen, unterrichtete er sichtlich angespannt das Parlament. Diese unübersichtliche Menge drohe von Anhängern des berüchtigten Schwarzen Blocks und "anarchistischen Aufrührern" unterlaufen zu werden. Dass die Zahlenspiele des Ministers jeglicher Grundlage entbehren, räumte allerdings selbst der italienische Geheimdienst SISDE ein: "Diese Zahlen sind heute nicht überprüfbar", kommentierten SISDE-Mitarbeiter Pisanus Ausführungen.
Prophetisch verkündete auch Silvio Berlusconi, es werde "mit Sicherheit zu Gewalttätigkeiten und Verwüstungen kommen". Er sei "persönlich immer gegen die Veranstaltung in der Kunststadt Florenz" gewesen. Das vor einer Woche zu einer hektischen Sondersitzung einberufene Kabinett signalisierte schließlich halbherzig seine Zustimmung zum Florentiner Treffen - trotz "schwerwiegender, starker und begründeter Sorgen", die sich vor allem auf die für Samstag geplante Großkundgebung gegen einen neuen Golfkrieg richten.
Wie aber ist zu erklären, dass die Rechtspopulisten so kurzfristig Alarm schlagen? Anderthalb Jahre nach dem als "Revolution" angekündigten Amtsantritt Silvio Berlusconis sind Italiens Staatskassen leer, die Wirtschaft stagniert (Beispiel Fiat), die Lebenshaltungskosten steigen, Einsparungen und blinde Privatisierungswut lähmen das Gesundheits- und Bildungswesen und das Rechtssystem hat durch umfangreiche Gesetzesänderungen, die dem Regierungschef und seinen "Spezis" den lästigen Justizärger vom Halse halten, an Effizienz und Glaubwürdigkeit verloren. Mit seinem Haushaltsentwurf ist Wirtschaftsminister Giulio Tremonti im Oktober gar das Kunststück gelungen, Arbeitgeberverbände und Gewerkschaften, Wirtschaftsvertreter und Umweltschützer, Hausbesitzer und Mieterschutzbund, Katholische Kirche und Rifondazione Comunista friedlich zu einen - im entschiedenen Widerstand gegen die Finanzpläne.
In dieser misslichen Lage hat das lange angemeldete und behördlich genehmigte "Europäische Sozialforum" Blitzableiterfunktion für den Ministerpräsidenten-Außenminister und seine Freunde übernommen. Um von realen Schwierigkeiten und eigenem Unvermögen abzulenken, richtet die Regierung den Blick der Öffentlichkeit gezielt auf das anstehende ESF in Florenz.
Dass der Großteil der italienischen Medien diesen Schwenk unverzüglich mitvollzogen hat, ist kaum verwunderlich: Fünfeinhalb der sieben landesweiten Fernsehkanäle und die Mehrheit der großen Tageszeitungen werden mittlerweile direkt oder indirekt vom Regierungschef kontrolliert. Daher folgten Sondersendungen und Talkshows über die Bedrohung der idyllischen Arnostadt durch "Globalisierungshasser" den besorgten Presseerklärungen der Regierungsvertreter auf den Fuß. Wie nicht anders zu erwarten, sind - teils während der Sendungen, teils im Anschluss daran - die unvermeidlichen "anonymen Drohbriefe" aufgetaucht, in denen Anschläge auf Kunstwerke wie den berühmten David angekündigt wurden. Im Treppenhaus des Florentiner Denkmalpflegeamtes stellte die Polizei sogar einen "rudimentalen Brandsatz" sicher - "eine mit Lunte versehene alkoholgefüllte Flasche".
Das systematische Heraufbeschwören des blocco nero, des Schwarzen Blocks, durch Kabinettsmitglieder bedeutete freilich nichts Gutes. Besonders Pisanus Warnung vor "Infiltrationen durch den Schwarzen Block" und seine Erklärung, die Regierung werde zwar imstande sein, die Sicherheit in Florenz zu garantieren, "ich weiß allerdings nicht, um welchen Preis", haben daher am Vorabend der Großdemonstration Böses ahnen lassen. Die Anspielung auf den G 8-Gipfel in Genua ist überdeutlich. Auch damals warnten Regierungsvertreter im Vorfeld der Demonstrationen beständig vor der "Gefährlichkeit und Unberechenbarkeit des Black Blocks" - bis dieser wirklich in Aktion trat. Die Bilder martialisch auftretender, mit militärischer Präzision operierender schwarzvermummter Randalierer im abgeriegelten Genua schockten weltweit das Fernsehpublikum. Bis heute dienen sie der italienischen Regierung als Rechtfertigung für den blutigen Polizeieinsatz, bei dem Hunderte Demonstranten teils schwere Verletzungen davon trugen und der 23-jährige Carlo Giuliani von einem Carabiniere erschossen wurde. Kurioserweise ist die Identität der Schwarzen von Genua trotz massiven Polizeiaufgebotes, zahlreicher Verhaftungen und umfangreichen Filmmaterials bis heute ungeklärt; kein Black Block-Anhänger ist festgenommen oder verurteilt worden - mehr noch: verschiedene Aufnahmen zeigen Polizisten und Schwarzvermummte im freundschaftlichen, man möchte sagen: kollegialen, Gespräch am Rande der Demonstration, so dass mitunter der Verdacht geäußert wurde, die Randale habe im Einvernehmen - wenn nicht im Auftrag - der Geheim- und Sicherheitsdienste stattgefunden.
Die Florentiner Forumsveranstalter haben sich nicht irritieren lassen. Sie vertrauen auf die Besonnenheit der Demonstranten. Auf mögliche Provokationen sei man vorbereitet. So wurden alle Teilnehmer aufgefordert, Kameras und Fotoapparate nach Florenz mitzubringen, um Störungsversuche jeder Art umfassend dokumentieren zu können.
Doch erst eine Naturkatastrophe hat die Situation um das ESF merklich entspannt: das Erdbeben in Mittelitalien, bei dem 26 Schulkinder und drei Erwachsene den Tod fanden. Hier hat sich dem zwischen alle Stühle geratenen Berlusconi eine unerwartete Gelegenheit geboten, sich in der Rolle des strahlenden Machers und bürgernahen Retters zu präsentieren. Medienwirksam in Szene gesetzt, lässt er sich ins Erdbebengebiet einfliegen, schüttelt Hände, verspricht millionenschwere Soforthilfe, kündigt den raschen mustergültigen Wiederaufbau an und plädiert für die Errichtung eines nationalen Denkmals für die Opfer. Die Profilierungssucht des Multimilliardärs scheint fürs erste befriedigt; das ESF gerät damit wieder in den Windschatten der Politik und der Medienmaschinerie. Fast möchte man darüber etwas aufatmen.
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