Rückzug in die Zitadelle

Skepsis Rainer Fischbach seziert den "Mythos Netz"

Sind die Zeiten vorbei, als Studienanfänger als Berufswunsch angaben, später "mal irgendwas in den Medien" machen zu wollen, während ihre Eltern traurig waren, bei der Ausgabe der Telekom-Aktien übergangen worden zu sein? Dass mit dem Internet und anderen Computertechniken eine neue Ära der Menschheitsgeschichte beginnt, behaupten heute weniger Stimmen. Vor allem behaupten sie das weniger laut, seit mit der New Economy-Finanzblase manches utopische Versprechen abrupt ans Ende kam. Es lautete ungefähr: "Bald werden alle überall miteinander kommunizieren können, wodurch nationalstaatliche Grenzen bedeutungslos werden. In einer vernetzten Gesellschaft wird es ganz neue Formen demokratischer Mitbestimmung geben, Wissen wird zur entscheidenden Produktivkraft werden und die Großindustrie bald überholt sein. Das Netz überwindet Raum und Zeit."

Noch jede neue Kommunikationstechnik wurde zur Zeit ihrer Entstehung als Ende der Kultur verurteilt oder als Heilsbringer begrüßt. In seinem neuen Buch Mythos Netz wendet sich der Autor Rainer Fischbach dem Fall der Internet-Verehrung zu. Seine Kernthese: Durch raum- und zeitüberwindende Technologien (wie das Internet) werden Raum und Zeit keineswegs obsolet, sondern nur neu strukturiert und entsprechend der gesellschaftlichen Wirklichkeit geformt.

Um das zu belegen, räumt Fischbach mit zahlreichen Legenden über Vergangenheit und Gegenwart des Netzes auf. So ist es beispielsweise weder in der Lage, aufgrund seiner dezentralen Struktur einen Atomkrieg zu überstehen, noch war diese vorgebliche Unverwundbarkeit der Grund für seine Einführung. Fischbach erzählt eine Version der Internetgeschichte, die nichts gemein hat mit den Mythen über mit kaum mehr als einer Vision und Entschlossenheit ausgestatteten Internet-Pionieren. Stattdessen zeigt er, wie das Internet von Anfang an durch politische und wirtschaftliche Interessen geprägt wurde. In einer Anekdote berichtet er, wie Ende der achtziger Jahre die Universitäten Neuenglands plötzlich vom Forschungsverbund ARPA abgeschnitten wurden. Obwohl (auf der "logischen Ebene" der Datenpakete) siebenfach mit dem übrigen Netz verbunden, brach die Verbindung ab. Denn alle diese sieben Verbindungen liefen über ein einziges Kabel, das versehentlich bei Bauarbeiten durchtrennt wurde. Seine Pointe: Auch die scheinbar körperlose digitale Kommunikation bleibt notwendig und immer mit der Materie verbunden.

Fischbachs Kritik gilt dem technikgläubigen Futurismus so unterschiedlicher Autoren wie Norbert Bolz, Manuel Castells oder auch Antonio Negri und Michael Hardt, den Autoren des Bestsellers Empire. Als das sie verbindende Element macht Fischbach die Metapher "Netz" aus. Mit deutlichen Worten prangert er die Unkenntnis an, mit der über "Netzwerkgesellschaft" und "vernetztes Denken" schwadroniert wird. Der größte Teil der geisteswissenschaftlichen Debatte über das Internet und seine mathematischen Grundlagen ist demnach, kaum überraschend, steiles Gerede. So ist etwa die allseitige Vernetzung der Nutzer lediglich eine potenzielle, aus der für ihre wirkliche Beziehung nichts folgt. Und im Gegensatz zu einer weitverbreiteten Ansicht zeichnen sich weder Netze an sich, noch das Internet im besonderen durch eine nicht-hierarchische Struktur aus. Fischbach zeigt, dass dieser Diskurs auf der Vermischung verschiedener Ebenen beruht: "Es gibt keinen Informationsprozess ohne physische Basis, und umgekehrt kann jeder physische Zustand Träger von Information sein."

Gerade die linken Internet-Utopisten provozieren seinen Widerspruch. Mag auch in der breiten Öffentlichkeit die Netz-Euphorie verflogen sein, in der sozialwissenschaftlichen Debatte über "immaterielle Arbeit" und "Wissensgesellschaft" lebt sie weiter. Dem Utopismus von Negri und Epigonen setzt Fischbach informierte Skepsis entgegen und konfrontiert die Klischees über die weltumspannende Kommunikation mit der sozialen Wirklichkeit der globalen Marktgesellschaft. In einer Synthese ganz unterschiedlicher Untersuchungen über Technologiefolgen, Wirtschaftsgeschichte und Stadtentwicklung prognostiziert er, dass die weltweite Ungleichheit noch weiter zunehmen wird. Statt die soziale Kluft zu überbrücken, vertieft sie der technische Fortschritt unter den gegebenen Bedingungen entsprechend einer "Logik der Spaltung". Gerade die wirtschaftsliberale Attacke auf öffentliche Einrichtungen und Infrastrukturen wie Post, Energie, Wasserversorgung oder Telekommunikation verschärft den Gegensatz zwischen gutversorgten Metropolen und Peripherie. Laut Fischbach waren gerade sie es, die auf dem nationalstaatlich verfassten Territorium Atopie, also die Bedeutungslosigkeit des Raumes, herstellten - indem sie beispielsweise gewährleisteten, dass auch dorthin Post geliefert wird, wo es sich für private Anbieter nicht lohnt. Der Markt, nach dessen Bild die Netzenthusiasten die Welt gestalten wollen, fördert die Zusammenballung bestimmter Dienste an wenigen Orten, während er andere Regionen veröden lässt. In den Zentren des Kapitals ziehen sich die Wohlhabenden in eine "Zitadellenkultur" zurück und schotten sich ab vor dem ausgegrenzten Rest der Menschheit.

Unter Berufung auf den technikkritischen Philosophen Günther Anders kommt Fischbach zu einem tief pessimistischen Fazit: "Die Gefahr ist real, dass die Reste menschlicher Empfindung erfrieren im Kältestrom der universalen Tauschgesellschaft, dass der Komplex aus anarchischer Ökonomie, gesellschaftlicher Anomie und staatlicher Repression den Spielraum des Lebens und erst recht die Chancen widerständigen Handelns soweit einschnürt, dass jene sich nicht als Übergangs-, sondern als finale Verfallsform menschlicher Gesellschaft herausstellen könnte." Angesichts dieser Perspektive sieht Fischbach in der Wiederherstellung der öffentlichen Güter und Dienstleistungen die politische Schlüsselforderung, von deren "Erfolg oder Misserfolg die Möglichkeit oder Unmöglichkeit emanzipativer Politik" abhängt.

Rainer Fischbach (2005): Mythos Netz: Kommunikation jenseits von Raum und Zeit? Rotpunktverlag, Zürich 2005, 304 S., 22 EUR


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