Noch bis vor kurzem sangen Medien und Pharmaindustrie einstimmig das Loblied der neuen Psychopharmaka. Mittel wie Prozac der amerikanischen Firma Lilly, die in den Stoffwechsel der Transmittersubstanzen im Gehirn eingreifen, versprachen angeblich nebenwirkungsfreie, immer gezieltere und demnächst sogar individuelle Symptombekämpfung - für jeden Patienten eine maßgeschneiderte Tablette, so stellten es die Pressesprecher des Konzerns in Aussicht. Seit zwei Jahren allerdings ist die Euphorie verflogen. Studien aus Großbritannien und Amerika legen nahe, dass Prozac (in Deutschland bekannt unter dem Produktnamen Fluctin) die Neigung zum Selbstmord oder Gewaltausbrüchen sogar verstärken kann. Andere, statistische, Untersuchungen bescheinigen dem Medikament eine Wirksamkeit, die etwa der von Johanniskraut und damit der von Placebos entspricht.
Die Krise der Psychopharmakologie gibt unerwartet einem anderen medizinischen Sektor Auftrieb: der Psychochirurgie. Seelische Krankheiten mit Operation am Hirn zu behandeln, hat einen verdient schlechten Ruf. Zwischen den dreißiger und fünfziger Jahren wurden Schizophrene, Homosexuelle, Verhaltensauffällige oder einfach Unangepasste beinahe wahllos "Lobotomien" unterzogen. Die Mediziner durchtrennten dabei die Nervenbahnen zwischen der frontalen Hirnrinde und dem Limbischen System. Zwischen 1936 und 1955 wurden allein in den USA mehr als 50.000 Menschen dieser Behandlung unterzogen; danach vegetierten sie für den Rest ihres Lebens antriebslos, aber pflegeleicht in den Anstalten.
Chip im Kopf
Diese Vergangenheit ist für Hirnchirurgen, die heute seelische Krankheiten behandeln wollen, eine schwere Hypothek. Selbst enthusiastische Vertreter distanzieren sich von der damaligen "unkritischen Praxis". Vor zwanzig Jahren wurde allerdings eine Alternative zur Lobotomie entwickelt: Statt bestimmte Hirngebiete zu zerstören, werden Neuroimplantate eingebracht, die einen schwachen elektrischen Impuls aussenden. 1987 wurden erstmals solche Elektroden bei Parkinson eingesetzt. Die Wirkung setzt sofort mit dem Einschalten des Stromes ein, das charakteristische Zittern der Patienten verschwindet; wird er abgestellt, kehrt auch der Tremor zurück. Die Tiefe Hirnstimulation (THS), wie das Verfahren genannt wird, hat somit einen entscheidenden Vorteil: Sie lässt sich rückgängig machen. Neurochirurgen sind davon überzeugt, dass während der Stimulation die Krankheitssymptome wirksam unterdrückt werden, danach aber keine anhaltenden Veränderungen im Hirn bleiben. Mit einer Fernsteuerung können außerdem die Parameter Stromspannung, Stromstärke und Impulsfrequenz verändert - sozusagen feinjustiert - werden.
Rätselhafte Wirkung
Die Implantate haben einen Durchmesser von nur einem Millimeter. Gespeist werden sie von einem elektrischen Pulsgenerator unter der Haut im Brustbereich und stimulieren üblicherweise mit einer Stromstärke von vier Volt (bei einer Frequenz von 145 Hertz). Der Strom wirkt in einem Umkreis von bis zu fünf Millimetern - was er dort allerdings bewirkt, ist unklar. Selbst G. Rees Cosgrove, ein Neurochirurg von der medizinischen Fakultät in Harvard, gibt unumwunden zu: "Wir verstehen nicht, wie THS funktioniert!" Dass die Stimulation wirkt, zeigt die Praxis; ihr Wirkungsmechanismus ist unbekannt. Diskutiert werden einander ausschließende Theorien, nach denen der elektrische Strom die Aktivität im stimulierten Kern entweder hemmt oder aber die der nachgeschalteten Zentren anregt. Das ist keine rein akademische Frage: Wären diese Zusammenhänge bekannt, könnte die THS gezielter eingesetzt und beispielsweise an den Tagesablauf der Kranken angepasst werden.
Dass heute derartige Hirnoperationen möglich sind, verdankt sich neben den verbesserten Elektroden der computergestützten Bildgebung. Durch Magnetresonanztomographie (MRT) oder Computertomographie (CT) kann während der Operation nicht nur das Hirn, sondern auch die Sonde mit den Elektroden dargestellt werden. Zuvor wird ein Metallring mit Schrauben in der Schädelplatte befestigt, an den die Instrumente angebracht sind, um das Zielgebiet im Gehirn genau ansteuern zu können. Die Mitarbeit der Kranken ist dabei unerlässlich: Sie müssen dem Arzt über Schwindelgefühle und andere Nebenwirkungen berichten.
"Es war schon eine Quälerei." Wenn Anne Huisman von ihrer Operation erzählt, muss sie schlucken. Die 56-Jährige erkrankte vor drei Jahren an Parkinson, vergleichsweise jung. Von der zwölfstündigen Operation war sie acht bei Bewusstsein. "Man liegt halb, sitzt halb, stundenlang, dazu die Angst, dass es doch zu einer Hirnblutung kommt..." Auch mit der Versorgung nach der Operation war sie unzufrieden: "In der ersten Zeit ging es mir schlechter als zuvor." Gefragt, ob sie die Operation noch einmal machen würde, zögert sie und sagt dennoch: "Unterm Strich hat sich meine Lebensqualität verbessert. Ich kann jetzt sogar wieder Auto fahren."
THS ist keine leichte Operation. Selbst der Pressesprecher von Medtronic in Deutschland, Andreas Bohne, betont, dass die Kranken belastbar sein müssen: "Das ist nichts für jeden." Die international tätige Firma ist weltweit der einzige Anbieter der Implantate. Etwa 25.000 Patienten kommen jedes Jahr hinzu. Zur Behandlung von Parkinson, Dystonien und chronischen Schmerzen ist die Therapie mittlerweile etabliert, über 20.000 Patienten wurden bis heute weltweit operiert. Langzeitstudien weisen daraufhin, dass es längerfristig zu einer gewissen Toleranzentwicklung kommt, worauf üblicherweise die Stromstärke erhöht wird. Obwohl manche Patienten über Nebenwirkungen wie Stimmungsschwankungen, teilweise auch Depressionen, Taubheitsgefühle, Steifheit und Konzentrationsschwierigkeiten klagen, wächst das Interesse unaufhaltsam. Andreas Bohne: "Das wollen viel mehr Leute, als es kriegen ..."
Rückkehr der Psychochirurgie?
Bei der Behandlung von Bewegungsstörungen machte ein merkwürdiger Effekt die Mediziner stutzig: Nach der Operation ändert sich nicht nur die Motorik der Patienten, sondern auch deren Stimmung. Immer wieder berichteten sie von Euphoriegefühlen und gesteigertem sexuellem Verlangen. Diese Zufallsentdeckung inspirierte die Renaissance der Psychochirurgie. Im Moment experimentieren nun drei Forschungszentren mit THS bei seelischen Leiden wie Depressionen, Angst- und Zwangsstörungen. Weitere Studien sind in Vorbereitung; ein deutsch-amerikanisches Projekt untersucht außerdem die Anwendung bei Epilepsie.
Vor drei Monaten veröffentlichte die kanadische Neurologin Helen Mayberg von der University of Toronto die Ergebnisse ihrer Behandlung von schwer Depressiven. Sie stimulierte die Hirnregion Cg 25 bei sechs Patienten. Vier von ihnen hatten sich nach sechs Monaten eindeutig und nachhaltig verbessert. Die mediale Reaktion war überwältigend: eine revolutionäre Therapie entstünde, die effektiver als antidepressive Medikamente sei, ohne deren Nebenwirkungen zu haben. In einem Interview beschrieb Mayberg ihr Vorgehen bildhaft: "Zu meiner Anfangszeit haben wir das Gehirn wie eine Schale Suppe behandelt. Man schüttet eine Chemikalie hinein und rührt einmal herum." Heute dagegen sei es möglich, Fehlfunktion mittels chirurgischer Eingriffe zielgenau zu beheben, statt das Hirn medikamentös zu überschwemmen. Andere Mediziner jedoch bewerten die Ergebnisse vorsichtiger. Die Beurteilung ist nicht einfach, weil die Patienten spüren, ob das Implantat arbeitet oder nicht, weshalb doppel-blinde Kontrolluntersuchungen nicht effektiv möglich sind.
Absehbare Rationierung
Noch sind weniger als 20 Depressive weltweit operiert worden. An der amerikanischen Brown University in Rhode Island werden Depressionen mit THS im Thalamus-Cortex behandelt, ein weiteres Zentrum der Neurochirurgie ist Deutschland. Hier wurden an der Universitätsklinik Köln bereits vier Patienten untersucht, fünf weitere warten noch auf die Implantation. "Wir haben hunderte von Anfragen" berichtet Volker Sturm, Professor an der Universitätsklinik Köln. Er ist ein Veteran der Neuroimplantate, in den siebziger Jahren begann er mit ihnen zu arbeiten. Zusammen mit dem Psychiater Thomas Schläpfer von der Uniklinik Bonn glaubt er, dass Depressionen sich durch die Dauerreizung des Nucleus Accumbens im Vorderhirn bekämpfen lassen. Im August 2007 sollen die Ergebnisse veröffentlicht werden.
Nur Patienten, bei denen alle anderen Therapieformen versagt haben, kommen für THS in Betracht. "Solchen Menschen die Behandlung zu verweigern, wäre unethisch", sagt Sturm. Das allerdings sind nicht wenige: in Deutschland leiden schätzungsweise 800.000 Menschen an therapieresistenten Depressionen. Auch wenn Sturm glaubt, die THS könne irgendwann in großem Umfang angewendet werden - allein die hohen Kosten der Operation von etwa 20.000 Euro machen es unwahrscheinlich, dass demnächst massenhaft psychisch Kranke mit Neuroimplantaten versehen werden.
Sieht der Psychiater Thomas Schläpfer eine besondere ethische Problematik bei solchen Operationen? "Wir haben ein Gate-keeper-Konzept eingebaut; ein unabhängiger Psychiater beurteilt den Zustand und den bisherigen Therapieverlauf der Patienten und wacht über die Einhaltung der Ein- und Ausschlusskriterien." Jeder Patient braucht einen individuellen Antrag bei der jeweiligen Ethikkommission, die Indikation für die Operation stellen die Psychiater, nicht der Chirurg.
Ob in Kanada, den USA oder Deutschland - alle drei Forscherteams bringen die Elektroden an unterschiedliche Stellen im Hirn und haben verschieden Theorien über deren Wirkung. Zwar gilt das Modell, nach dem bestimmte Zentren für bestimme Funktionen zuständig sind, als überholt, aber die Neuropsychiater halten gestörte Regelkreise - also das Zusammenspiel mehrerer Areale - für die Grundlage seelischer Leiden wie der Depression und der Zwangskrankheit. Mittlerweile weiß man, dass Nucleus Accumbens, Cg 25 und Thalamus-Cortex miteinander in Verbindung stehen. Insofern arbeiten die Forscher an unterschiedlichen Stellen desselben Mechanismus.
Verhaltenssteuerung
Schon träumen Mediziner von exakter Verhaltenssteuerung und genauer Hirnkartographie. Die Tendenz der Hirnforscher, komplexes menschliches Verhalten auf rein physikalische Tatbestände zurückzuführen, kritisiert Rafael Capurro, Mitglied des bioethischen Rats European Group on Ethics (EGE): "Durch die Konzentration auf rein symptomatische Behandlungen werden die Menschen daran gehindert, sich mit den tieferen Problemen auseinander zu setzen." Er sieht einen gesellschaftlichen Sog in Richtung eines mechanistischen Menschenbilds, nicht nur in der Forschung, sondern auch in der Gesellschaft allgemein. Auch Thomas Schläpfer sagt: "Die Persönlichkeit des Menschen ist mehr als die Summe seiner Hirnfunktionen", hält aber operative Methoden für grundsätzlich geeignet, um die Symptome langjähriger schwerster Depressionen wenigstens zu mildern.
Berichten THS-Patienten über ihre Erfahrungen, kommen manche verschämt auch auf paranoide Ängste zu sprechen. Das Gefühl, der technischen Apparatur ausgeliefert zu sein, geht dabei über die übliche Hilflosigkeit eines Kranken hinaus. Menschen mit psychotischen Tendenzen kommen deshalb ausdrücklich nicht für THS in Frage: Die Schnittstelle zwischen Mensch und Maschine weckt Roboter-Phantasien - die von manchen Forschern noch bestärkt werden. "Die Hoffnung ist, an immer mehr Stellen immer kleinere Elektroden anbringen zu können, um dann gezielt Verhalten zu erzeugen", berichtet etwa ein deutscher Neurologe, der nicht genannt werden will. Guido Nikkah von der Universitätsklinik Freiburg dagegen hält solche Vorstellungen für unrealistisch: "Wir sind weit davon entfernt, Gefühle erzeugen zu können." Eine neue Qualität kann er im psychiatrischen Einsatz der Neuroimplantate nicht erkennen: "Schließlich verändern Psychopharmaka ebenfalls massiv das Verhalten."
Noch ist THS zur symptomatischen Behandlung psychiatrischer Krankheiten im Experimentierstadium, aber bald könnte eine neue Welle der Psychochirurgie die Krankenhäuser und Heilanstalten überschwemmen. Selbst manche Praktiker mahnen, wie C. Rees Cosgrove: "Wir müssen darauf achten, nicht wieder die Fehler der Vergangenheit zu wiederholen und einfach drauflos zu experimentieren. Die Psychochirurgie wird keine dritte Chance bekommen!"
Neuroimplantate stimulieren mit elektrischem Strom bestimmte Hirnregionen, um so ausgefallene oder gestörte Funktionen auszugleichen. So können Taube, deren Hörnerv bei einem Unfall verletzt wurde, mit einer "neuronalen Prothese" im Hirnstamm wieder "hören": Mit einem Mikrophon werden akustische Signale aufgenommen, in elektrische Signale umgewandelt und mit Elektroden an die Nervenbahnen weitergeleitet. Im Moment experimentieren Neurochirurgen mit ähnlichen Prothesen für den Sehnerv.
Am häufigsten werden Neuroimplantate bei der Tiefen Hirnstimulation eingesetzt, nämlich bei der Parkinson´schen Krankheit, bei Bewegungsstörungen und gelegentlich bei chronischen Schmerzen. Von 1987 bis heute fanden über 20.000 THS-Operationen statt. Sofern die Elektroden exakt platziert und fachgerecht eingestellt werden, lassen sich Symptome wie das typische Zittern oder Steifheit wirksam unterdrücken.
Seit etwa zwei Jahren wird THS auch bei psychiatrischen Leiden wie Zwangsstörungen und Depressionen erprobt, außerdem beginnt gerade eine deutsch-amerikanische Studie über die Wirksamkeit bei Epilepsie. Als weniger erfolgreich erwies sich die Stimulation des Hirnnervs Vagus. In der Europäischen Union wurde diese Therapie 2001 erlaubt, in den USA 2004. Neuere Studien lassen allerdings an ihrer Wirksamkeit zweifeln.
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