A man loves a woman. Sie, die Schöne, ist unsterblich in ihn, den Draufgänger, verliebt. Das ist der Stoff, aus dem das Theater ist. Die Geschichte wird wieder und wieder, Variationen über einem musikalischen Thema gleich, auf der Bühne erzählt. Aber, es fehlt ihr noch etwas die Dramatik, deshalb: Sie lieben sich inniglich, dürfen sich äußerer Umstände halber aber nicht lieben. In Paul Claudels Stück Der Seidene Schuh heißt sie Doña Proëza, er Don Rodrigo. Und beider Pech ist es, dass sie Figuren aus dem Spanien des ausgehenden sechzehnten beziehungsweise beginnenden siebzehnten Jahrhunderts sind. Die äußeren Umstände sind unter anderem: Sie ist verheiratet mit dem um Jahre älteren, gestrengen Richter Don Pelyo. Und weil zu dieser Zeit nicht die Liebe, sondern das Jawort die Ehe stiftet, so darf und so wird das gegenseitige Begehren der beiden Liebenden nicht gestillt werden. Und - sie tun alles Mögliche und Unmögliche, um sich zu begegnen und um sich zu entfliehen.
Dies ist der eine Teil der Geschichte. Der andere ist die Bekehrungsgeschichte des Exjesuiten Don Rodrigo, der jetzt Doña Proëza liebt. Im Prolog ist ein Jesuitenpater an den Mast eines sinkenden Schiffes gebunden. Er fleht in seinem Untergehen für die Seele von Rodrigo, er bittet Gott, in ihm das himmlische Begehren zu entfachen - durch die unerfüllte Liebe zu einer Frau. Und diese Frau wird Doña Proëza sein. Sie wird zum Werkzeug Gottes, wird darin bekräftigt von ihrem Schutzengel und opfert sich schließlich, damit die beiden Liebenden sich wahrhaft lieben können, in einer anderen Welt versteht sich.
Der Seidene Schuh ist ein Stück Welttheater. Einerseits im klassischen Sinn. Denn es sind nicht Menschen, die die Handlung vorantreiben, sondern stattdessen sind sie Gottes Figuren, er hält ihre Fäden fest in seinen Händen. Keine Figur ist auf der Bühne ein Individuum, alle sind sie Gestalten.
Andrerseits sprengt Claudel jeglichen räumlichen Rahmen, denn, so die Bühnenanweisung, »der Schauplatz der Handlung ist die Welt«. Seltsam, plötzlich bekommt der Seidene Schuh einen Bezug zum Tagesgeschehen, obwohl die Handlung im frühbarocken Spanien spielt. Denn die Strukturen der Welt haben sich anscheinend über die Zeiten hinweg nicht geändert: Seltsam diese Eroberungen; seltsam diese Weltmacht (Spanien), die christliche Werte verteidigt; seltsam, diese Herrschenden (die spanischen Könige), die das Bild beherrschen; seltsam dieser Kampf gegen die Anderen (die Mauren); auch seltsam der Wunsch (Rodrigos als Vizekönig von Amerika) »die Welt zu erweitern«.
Kein geringeres und auch kein leichteres Werk als Paul Claudels Der Seidene Schuh sollte es sein, mit dem sich Stefan Bachmann als Schauspieldirektor vom Theater Basel verabschiedet. An die acht Stunden Aufführungszeit, an die sechzig Rollen, dies sind die Rahmendaten des Stücks. Für das Basler Theaterfoyer hat Barbara Ehnes nicht nur ein Bühnenbild, nein, sie hat einen ganzen Theaterraum, ein Totaltheater mit drei Spielebenen - anknüpfend an Ideen von Walter Gropius von 1927 - gestaltet. Für die Inszenierung besorgte Herbert Meier eine Neuübersetzung.
Über weite Strecken ist die Basler Inszenierung texttreu, nur wenige Änderungen und Kürzungen wurden vorgenommen. Claudels Diktum »Alles muss etwas provisorisch und in Bewegung sein, nachlässig und improvisiert, aus lauter Begeisterung!« wird mit großer schauspielerischer Lust gefolgt. Eine kurze Beschreibung genügt und alle befinden sich auf einem anderen Kontinent, in einer frisch erbauten Kirche oder vor eine Dornenhecke. In Claudels Stück gibt es keine Menschen mit Fleisch und Blut, sie folgen alle ihrer von außen gegebenen Rolle. Und in Basel stehen auf der Bühne keine psychologischen Wesen, alle Personen bleiben immer plakativ. Alles wird in barocker Manier zur Schau gestellt, Gipsfassaden verstecken mit schönem Schein die Abgründe. Indem alles, große Gefühle ebenso wie krude Katholizität, in derselben Weise präsentiert werden, auf eine Ebene gestellt wird, bekommt Der Seidene Schuh einen Inhalt, eine Dichte, eine Tiefe. Und dies, gerade weil in der Inszenierung alles an der Oberfläche bleibt. Plötzlich sind die Gefühle wieder glaubhaft.
Die annähernd sechzig Rollen werden von fünfzehn Schauspielern gespielt. Es ist unmöglich alle zu nennen, aber: Maria Schrader spielt eine Doña Proëza, die beherzt ihre Gefühle unterdrückt, damit sie ihr höheres Ziel erreichen kann. Jens Albinus ist ein Don Rodrigo, wie er im Buche steht, kraftvoll, verzweifelt, ungerecht, bemitleidenswert. Dem väterlichen Ehemann Don Pelayo gibt Traugott Buhre eine große Glaubwürdigkeit. Ein echter Nihilist ist der von Sebastian Blomberg gespielte Don Camillo, ihm kann man alles zutrauen, und doch bleibt Camillo die vernünftigste Figur im Spiel. Josef Ostendorf ist ein Don Balthasar, der unglücklicher Beschützer Doña Proëzas, ihm möchte man auch nicht die Ehefrau anvertrauen. Peter Kern schnoddert hoch auf seinem Thron als König von Spanien und man weiß sofort, dass die Armada untergehen muss. Doña Musica rappt als naives Ding, von Melanie Kretschmann gegeben, über die Bühne. Klaus Brömmelmeier ist ein ungläubiger Chinese, den man gern taufen möchte, damit er gerettet ist. Und mit Barbara Lotzmann als Negerin Jobarbara möchte man kein Hühnchen zu rupfen haben.
Auf Tragisches folgt Komisches, Heiliges auf Profanes, Üppiges auf Minimalistisches, mit manchem mag man nicht übereinstimmen, doch macht nichts, denn Stefan Bachmann bietet vielerlei phantasievolle Visualisierungen und Interpretationen. Eine Schlüsselszene sei hervorgehoben: Die Begegnung von Don Rodrigo und Don Camillo, der beiden Gegenspieler, der beiden Männer Doña Proëzas. Don Rodrigo ist der Geliebte, Don Camillo der aus Staatsräson geheiratete zweite Ehemann. Nur indem sich Proëza ihm mit ihrem Körper hingibt, kann sie den Auftrag des Königs erfüllen, Camillo zu bezwingen. Aber das heißt, Camillo ist es, der sie sexuell besitzt und Rodrigo ist es, der sie geistig liebt. Don Camillo tritt im glänzend roten samtenen Kleid - in Proëzas Kleid - auf, Rodrigo im Torero-Anzug. Allein dies genügt schon, um die Konstellation zu verdeutlichen. Don Camillo hat ein Schriftstück von Proëza für Rodrigo in seiner Hand. Darauf steht, »Ich bleibe, Gehen Sie.« Die wahre Liebe ist und bleibt - für Claudel - die körperlich unerfüllte.
Großes wurde mit der Basler Inszenierung angekündigt - und es wurde eingehalten. Das Basler Ensemble unter Stefan Bachmann zeigt, dass Der Seidene Schuh kein katholisches Lehrstück sein muss, wenn es vom Kreuz seiner Katholizität befreit wird. Aber, auch das muss gesagt werden - nach acht Stunden sitzen tut das eigene Kreuz schon weh.
Der Seidene Schuh wurde von Theater Basel in Kooperation mit der Ruhrtrienale produziert. Er wird diese Spielzeit im Theater Basel gezeigt, ab dem 5. Juni 2003 auch in Bochum in der Jahrhunderthalle.
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