Der letzte Taler

Brandenburg Wie sich ein Land seit 1990 finanziell zu strangulieren verstand

Staatsfinanzen sind das Langweiligste und das Dramatischste der Welt. Niemand entkommt ihren Fesseln am Ende wirklich. Über den brandenburgischen Landeshaushalt wiederum lassen sich besonders bizarre Geschichten erzählen. Die Parallelen zum Bundeshaushalt sind nicht zu übersehen.

Als 1789 in Frankreich die Monarchie am Ende war, lag es entgegen landläufiger Meinung nicht an der fehlenden Freiheit - in erster Linie jedenfalls nicht - oder an fehlender Gleichheit. Das ancien régime kam über die heillos zerrütteten Staatsfinanzen ins Straucheln. Die Hälfte der Staatseinnahmen wurde durch Zinszahlungen verschlungen, die Franzosen zahlten Steuern wie nie zuvor, der Staat schien ein riesiges Fass ohne Boden, die Finanzminister Louis XVI. wechselten beinahe monatlich. Niemand wusste verlässlich zu sagen, wie hoch das Königreich verschuldet war. Die Revolution kassierte nicht nur den Absolutismus, sie beendete auch einen nicht mehr hinnehmbaren Ausbeutungsexzess der nichtadligen Schichten Frankreichs.

Drei Jahre zuvor war in Preußen mit Friedrich II. ein König verstorben, der wusste, was seine Erben im heutigen Brandenburg-Preußen nicht zu wissen scheinen: "Siegen wird derjenige, der den letzten Taler in der Tasche hat". Warum dies erwähnen - steht es so schlimm um Brandenburg?

Immerhin fließen 16 Jahre nach der Wende zehn Prozent der Landeseinnahmen in den Schuldendienst, gemessen an den feudalfranzösischen Zuständen nicht übermäßig viel. Und überhaupt, eine grassierende Verschuldung beklagen Zeitungen und Politiker seit langem. Hat eine unablässig wachsende, inzwischen explodierende Staatsverschuldung die Bundesrepublik je in Existenznöte versetzt? Weshalb dann soviel Sorgen um Brandenburg?

Es steht um die Mark wesentlich prekärer als die spröden Darstellungen der Landesregierung vermuten lassen. Mit 18,5 Milliarden Euro hat Brandenburg Mitte 2005 zwei komplette Jahreshaushalte an Schulden angehäuft - ein beängstigender Zustand. Derzeit wird alljährlich etwa eine Milliarde Euro an Tilgung und Zinsen fällig. Um existieren zu können, muss das Land zugleich pro Jahr eine Milliarde an neuen Schulden aufnehmen.

Als die Bertelsmann-Stiftung im Sommer 2005 die Finanzlage Brandenburgs untersuchte, stellte sie fest, dass zu den 18,5 Milliarden Landesschulden noch vier Milliarden an Wohnungsbaukrediten addiert werden müssen, die mindestens zum bedeutenden Teil "faul" seien. (Das heißt, die Miet- und damit Renditeerwartungen treffen nicht ein, weil die Bevölkerung schrumpft). Hinzu kommen weitere durchaus geplante Neuverschuldungen in den kommenden Jahren, so dass laut Stiftung binnen kurzem von 27 Milliarden Euro Schulden auszugehen sei. Für die Autoren der Studie war klar, dass ein solches Missverhältnis von Einnahmen sowie Zins- und Tilgungszahlungen die Gläubiger nachdenklich stimmen und zum Abfordern eines Risikozuschlags animieren dürfte - folglich könnte sich der jährliche Schuldendienst bald auf zwei Milliarden Euro belaufen.

Bevor es vergessen wird: Wir sind bisher noch von der vergleichbar komfortablen Lage des Jahres 2005 ausgegangen. Denn von den zehn Milliarden Euro brandenburgischem Landeshaushalt bestreitet der Bund noch stattliche 2,5 Milliarden, die ihm der "Aufbau Ost" wert sind. Zieht man die von den zehn Milliarden ab, bleiben noch 7,5 Milliarden. Leider werden auch die nicht von Bestand sein, denn in wenigen Jahren wird der Bund seine Aufbauleistung zurückschrauben. (Brandenburg hat dem zugestimmt). Subtrahiert man von diesen 7,5 Milliarden Euro die - hoch gerechnet - zwei Milliarden an Tilgungen und Zinsen, ferner die 2,5 Milliarden für die Besoldung der Landesbediensteten und die bis dahin auf 0,5 Milliarden Euro angeschwollenen Pensionsleistungen, bleiben noch 2,5 Milliarden Euro. Wer dann regiert, ist nicht zu beneiden. Die Brandenburger Bevölkerung auch nicht - jedenfalls gilt das für jenen Teil, der nicht verbeamtet ist.

Noch schlechter käme es, sollte die Wirtschaftskraft Brandenburgs weiter absacken, wofür in einem Land, dessen Bruttosozialprodukt seit 1999 abnimmt, einiges spricht.

Keine Frage, die Landesregierung ist nicht etwa ahnungslos, ihren Gleichmut trägt sie nur äußerlich zur Schau. Hinter den Kulissen wird fieberhaft gerechnet, um den Gau abzuwenden. Die große Parole lautet: Es muss gespart werden. Wenn heute all jene Landesausgaben, die nicht zur Disposition stehen sollen oder können - die Gehälter der Landesbediensteten, die Pensionen, der Schuldendienst, die Verpflichtungen aus Verträgen, die Kirchenzuschüsse sowie die Gegenfinanzierung zur EU- und Bundesförderung -, wenn diese Posten alle bedient sind, bleiben noch vier Prozent des Haushaltes zur eigentlichen politischen Gestaltung übrig. Vier Prozent!

Als 1989 die letzten DDR-Volkswirtschaftspläne beschlossen wurden, mussten die damaligen Räte der Bezirke und der Kreise den zum Gesetz erhobenen Plan umsetzen, doch konnten sie über fünf Prozent des Gesamthaushalts frei verfügen und diese Mittel nach eigenem Ermessen ausgeben. Mit anderen Worten: Der Spielraum des heutigen Potsdamer Landtages ist geringer als der des Bezirkstages Potsdam vor 16 Jahren.

Vier Prozent, nominal 300 bis 400 Millionen Euro, sind theoretisch noch "frei", um Zuschüsse für Theater, Kindertagesstätten oder die Schüler-Reihenuntersuchung und so weiter zu zahlen. Selbst wenn man alle Theater schließen würde, auf die Gesamtbilanz hätte das nicht wirklich Einfluss. Weshalb angesichts solcher "Gestaltungsmöglichkeiten" überhaupt noch ein Landtag zusammentritt, ist schwer nachvollziehbar. Auch ein Bundeskommissar oder Bundes-Verweser könnte in Brandenburg regeln, was noch zu regeln ist.

Haben die seit 1990 politisch Verantwortlichen gewissenlos oder absolut fahrlässig gehandelt? Nein, sie waren gutgläubig und voller Hoffnung. Die Folgen der Verschuldung waren ihnen genau so bekannt wie die Höhe der Zinsen, die für Kredite einmal aufzubringen sein würden. Aber jede Landesregierung spekulierte - anders kann man es nicht nennen - mit einem stabilen Wirtschaftswachstum. Und ließ sich in ihren Visionen nicht beirren, wenn genau das Gegenteil eintrat, denn die Wirtschaft schrumpft seit Jahren, so dass die Steuereinnahmen 2005 bei denen von 1997 liegen.

Die Hoffnung der jetzigen SPD/CDU-Regierung richtete sich eine Zeitlang auf den Bund. Von dort sollte sich das Füllhorn der Entschuldung über Brandenburg ergießen, doch angesichts der desolaten Haushaltslage auch dort ist von dieser Seite weniger denn je Entlastung zu erwarten. Platzeck und Schönbohm haben keine Lösung und es offenbar auch aufgegeben, danach zu suchen. Man denkt wohl an Preußens Maxime: "Die besseren Bataillone helfen sich selbst". Seit 2004 beschert dieses Credo dem Land eine Traumtänzerei nach der Devise "Wir schaffen es aus eigener Kraft!". Gemeint ist, fehlende Milliardeninvestitionen sollen durch eine entschlossene Gemütslage ausgeglichen werden.

Wer Kritikern dieses Gebarens mit dem Einwand begegnet, es habe doch niemand wissen können, dass die Wirtschaft in einen Kriechgang verfalle, dem ist entschieden zu widersprechen. Alarmierende Stimmen hat es gegeben, auch wenn sie nicht sehr zahlreich waren. Stellvertretend sei der SPD-Politiker Horst Maschler genannt, ein gewissenhafter Mann aus Ostdeutschland, der Mitte der neunziger Jahre Präsident des Landesrechnungshofes war. In einem Offenen Brief hatte Maschler seinerzeit die Landesregierung vor einer Finanzpolitik gewarnt, die wohl kurzfristig politisch nützlich sein möge, aber den Spielraum sämtlicher künftiger Regierungen unvertretbar einengen müsse. Denen werde nichts anderes übrig bleiben, als - statt zu regieren - die Schulden der Legislaturperioden seit 1990 zu bezahlen. Maschler wurde vom damaligen SPD-Fraktionschef Wolfgang Birthler abgekanzelt: Er solle sich gefälligst nicht in Dinge einmischen, die ihn nichts angingen. Heute stünde es Birthler gut zu Gesicht, sich zu entschuldigen und öffentlich zu bekennen - Maschler hat Recht behalten.

Als die SPD-Fraktion Anfang 2005 ihren Finanzentwurf vorlegte, Einsparpläne entwickelte, von beabsichtigtem Personalabbau und reduzierter Neuverschuldung sprach, wurde Fraktionschef Günter Baaske während einer Pressekonferenz gebeten, nur einen einzigen Grund dafür zu nennen, warum es diesmal anders laufen sollte als gewohnt. Seine Antwort war kühn: "Finanzminister Rainer Speer bürgt für den Erfolg". Speer, ein unkonventioneller Sozialdemokrat, von Haus aus Betriebsschlosser, Klubhausmitarbeiter und einst in der DDR-Opposition, legt regelmäßig in seiner Freizeit mit Herrn Baaske in Diskotheken Platten auf (das Leben soll ja auch Spaß machen) und liebt es, in Weinrestaurants mit breitem Hosenträger und Laptop fotografiert zu werden, wenn er sich Bilanzen und Zahlen schön rechnet - ändern kann auch er sie nicht.

Bei der Antwort auf die Frage, wie es zu diesem Finanzdesaster kommen konnte, warum die Warnsignale stur missachtet wurden, fällt der Blick zwangsläufig auf eine 15-jährige SPD-Herrschaft. Die Partei, mit ihren nicht einmal 7.000 Mitgliedern eigentlich ein Klub, hat die großen und kleinen Kommandohöhen nahezu ausschließlich mit Getreuen besetzt, die genug "Stallgeruch" verströmen - eine für die Verbreitung unangenehmer Wahrheiten höchst fatale Situation. Alle, die sie aussprechen müssten - aus Einsicht oder Gewissen - sind erstens dem "Klub" verpflichtet, zweitens ihrer eigenen Karriere und bestenfalls drittens der Wahrheit - Apologetik statt Analyse heißt die Parole.

Spätestens seit die CDU mitregiert, schied auch sie als Stimme der Kritik aus. So bleibt nur die Linkspartei, die im Landtag Soll und Haben mitunter genau vor- und zusammenrechnet. Doch geraten ihre Forderungen zugunsten vermeintlich oder tatsächlich Benachteiligter zuweilen in den Geruch, eine noch höhere Neuverschuldung riskieren zu wollen. Zudem haben die Landespolitiker dieser Partei die Hoffnung nie ganz begraben, es könnte doch irgendwann zu einer Regierungsteilhabe Seit´ an Seit´ mit der SPD kommen. So fiel die Kritik ihrer Abgeordneten am Kurs von Stolpe oder Platzeck gelegentlich eher moderat aus.

Akzentuiert wurde alles durch eine spezifische Nachwendesituation: In den Landtag wurden vielfach DDR-Bürgerrechtler gewählt oder Wende-Gewinnler: Lehrer, Wissenschaftler, Ingenieure, Seelsorger - durchdrungen von der Gewissheit, das Böse vertrieben zu haben und das schlechthin Gute zu repräsentieren. Mit der Gestaltung einer märkischen Übergangsgesellschaft in Richtung Bundesrepublik waren sie überfordert. Deshalb wurde Personal aus dem Westen rekrutiert: Minister, Ministerialbeamte, andere öffentlich Bedienstete. Heute wird einem in der Landtagskantine hinter vorgehaltener Hand ehrliche Reue anvertraut. "Wir haben damals einfach den falschen Leuten vertraut." Und Brandenburgs erster Ministerpräsident, Manfred Stolpe bekennt offen: "Wir waren manchmal zu gutgläubig." Nur irgendwann war es zu spät. Die ostdeutschen Wende-Politiker der ersten Stunde treten allmählich in den Hintergrund. Sie werden demnächst auf den Logenplätzen einer öffentlich bezahlten Alterssicherung bei einem guten Wein dem Fortgang einer Tragödie folgen, deren Szenario sie mitgeschrieben haben.

Politik kann für Millionen Menschen die verhängnisvollsten Folgen haben - zu belangen ist niemand. Die Zeche zahlen andere. "Am Muthe hängt der Erfolg", ließ einst Finanzminister Kühbacher (SPD) einen brandenburgischen Landeshaushalt mit einem Fontane-Zitat garnieren. Gewiss doch - und am Übermute hängt der Misserfolg.


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