"Hegel bemerkte einmal irgendwo, dass sich alle großen weltgeschichtlichen Tatsachen gewissermaßen zweimal ereignen. Er hat vergessen hinzuzufügen: das eine Mal als Tragödie und das andere Mal als Farce", schrieb einst Karl Marx in seinem 18. Brumaire des Louis Bonaparte.
Mit Brandenburg-Preußen war es bekanntlich nach 1945 endgültig vorbei, und es möge dahingestellt bleiben, ob dies eine Tragödie war. Dass sich nach 1990 territoriale Reste des einstigen Feudalstaates als neues Bundesland formiert haben, dem daran gelegen ist, mit dem alten Preußen zu kokettieren, darf getrost als Farce empfunden werden. Seit der Sozialdemokrat, Preußenfreund und Ex-Ministerpräsident Stolpe langsam aber sicher in Vergessenheit gerät, ist es an seinem Nachfolger, die Fahne des Geschichtserben hochzuhalten. Der in Potsdam aufgewachsene Platzeck verlangte jüngst eine Rückbesinnung auf "preußische Tugenden", was so klang wie: Ich bin ein Preuße, kennt ihr meine Farben. Solcherart Bekennermut verstörte das Publikum und schien dazu angetan, des Urhebers umjubelte Auftritte als Vorsitzender der SPD zu belasten, ausgerechnet jener Partei, die einst mit dem preußischen Staat notorisch und prinzipiell in Fehde lag. Platzeck beeilte sich zu versichern, er sei keineswegs "auf Gleichschritt und Disziplin aus". Man habe ihn gefragt, "ob es nicht auch positive Traditionen gäbe, Respekt, Toleranz, Verlässlichkeit und Anstand". Dem habe er zugestimmt. "Mehr nicht."
Märkischer Rot-Adler
Verquaster Preußenrummel begleitet brandenburgische Politik seit der Wende. "Steige hoch, du roter Adler - hoch über Sumpf und Sand", erklingt es stets um Mitternacht auf lokalen Hörfunk-Frequenzen, die der letzte Eingeborene in seinem ansonsten ausgestorbenen Nest in der Uckermark mit einem schnarrenden Sternradio empfängt. Ein Lied, das erst in der SA und dann von der Wehrmacht gern besiegten Tschechen und anderen Völkern vorgesungen und von Manfred Stolpe zur Landeshymne erkoren wurde. "Heil dir mein Brandenburger Land", ein Gesang, der fast mit jeder Zeile Schwachsinn zum Besten gibt. Dass der Sand, "des Märkers Freude" sei, behauptet Autor Büchsenschütz, und was sich sonst noch so auf blauende Seen und uralte Eichen reimt. Blauen ist ein Vorgang wie das Grünen, und nur im fortgeschrittenen Stadium des Blauens ist dieses Lied zu ertragen.
Die Beschwörung vom Steilflug des roten Preußen-Adlers hat dessen Bruchlandung nicht verhindern können. Seit 1999 ist Brandenburg von einer mühsam erklommenen und teuer erkauften Stufe der Entwicklung zurückgefallen, sein Bruttosozialprodukt sank seither Jahr für Jahr. Um so mehr erfand sein jungdynamischer Regierungschef die peinlich alberne Vision vom "modernen Brandenburg", das um Potsdam herum wirklich ein paar Institute unterhält, aber vorderhand davon geprägt ist, dass seine Ingenieure als Saisonkräfte in Biergärten kellnern, während deren Frauen an Webstühlen sitzen und die akademisch gebildete Jugend jobbt.
Spottet seiner selbst und weiß nicht wie: Nahezu zeitgleich mit Platzecks Preußenbekenntnis veranstaltete die Potsdamer Universität eine Umfrage unter Jugendlichen, deren Ergebnis, oberflächlich betrachtet, tatsächlich "preußische Tugenden" nahe legt. Nichts mehr mit "Null Bock". Brandenburg kann stolz auf seine nachgewachsene Generation sein: rechtsextreme Gesinnungen und Gewaltbereitschaft haben der Studie zufolge an Einfluss verloren, die Genusssucht und Spaßkultur ebenfalls. Stattdessen stehen Leistung und Arbeit hoch im Kurs, viel mehr Schüler und Auszubildende als früher behaupten von sich, gern und strebsam zu lernen. Als Professor Dietmar Sturzbecher dies verkündet, muss er freilich einräumen, dass die Berufsaussichten der Befragten wenig optimistisch stimmten. Wahrscheinlich würden "diese Jugendlichen nach der Lehre den Wegzug ins Auge fassen".
Nur indirekt wurde nach der Treue zu märkischem "Sumpf und Sand" gefragt, doch deuten viele Antworten darauf hin, dass Brandenburgs Jugend von ihrer Heimat nicht viel erwartet und damit keiner Sinnestäuschung erliegt. Dies gibt ihr die Landesregierung in einem Anflug von Aufrichtigkeit sogar schriftlich, im Vorgriff auf Platzecks "modernes Brandenburg", in dem es eben nicht mehr für alle reicht, wenn die Privilegierten ausgesorgt haben, über Land fahren und all jenen Brandenburgern die Grundstücke abkaufen, die in ihrer Heimat nicht mehr leben und arbeiten können. So kommt man zu einem wohlfeilen Sommersitz.
Rheinische Vogel-Schützen
Derweil sinkt das Land in den Staub der Geschichte und scheint den Ehrgeiz zu entwickeln, Preußens Rückständigkeit zu beleben, wie sie für das 18. Jahrhundert typisch war. Ministerpräsident Platzeck erinnert zwar gern an das "große wirtschaftliche Potenzial des preußischen Erbes". Doch während das nationale Bruttoinlandsprodukt 2005 um 1,1 Prozent zugelegt hat, schrumpfte die Wirtschaftskraft Brandenburgs erneut, im ersten Halbjahr immerhin um 0,8 Prozent*.
Preußens Adler gewinnt keine Höhe mehr. Bei Heinrich Heine hieß es von diesem gefiederten Monster: "Du hässlicher Vogel / und wirst du einst / mir in die Hände fallen / so stutze ich die Flügel dir / und hacke dir ab die Krallen./ Du sollst mir dann in luft´ger Höh / auf einer Stange sitzen und ich rufe zum lustigen Schießen herbei / die rheinischen Vogelschützen..."
Preußenfan Stolpe hatte gleich 1990 die rheinischen Vogelschützen gerufen. Neben all jenen, die es ehrlich meinten, strömten ehrgeizige Kanzleivorsteher und redselige Scharlatane daher, die dank ihrer Herkunft in drei bis vier Wochen zu brandenburgischen Karrieren kamen, für die im Westen 25 bis 30 Jahre zu veranschlagen waren. Stolpe übergab sein Preußen dem Rheinbund, fünf Sechstel der Beamten im höheren Landesdienst kommen nun aus Westdeutschland, sie stammen zumeist aus dem "Partnerland" Nordrhein-Westfalen.
Diese Vogelschützen haben den Rot-Adler nicht nur heftig gerupft, sondern gleichzeitig zum Spatz in ihrer Hand abgerichtet. Sie bilden heute die Oberschicht, spielen in Brandenburg seit 15 Jahren ihr Monopoly und resümieren schmunzelnd, es habe halt nicht geklappt wie gedacht. Wenigstens ihre Pensionen sind sicher, auch im Katastrophenfall. Für den Landeshaushalt werden die sich bis 2015 auf Zahlungen von 400 Millionen Euro verzehnfachen.
Nach Platzecks Preußen-Bekenntnis wurde der Berliner FU-Professor Gerd Heinrich (Autor der Geschichte Preußens) mit dem Satz zitiert: "Preußische Tugenden hat es nie gegeben", doch sei das einstige Selbstverständnis dieses Staates in Teilen "begrüßenswert" gewesen. Nach Trennungsgeld lechzende Beamte würden in dieses Bild eher nicht passen, meinte Heinrich in Anspielung auf eine jüngst stattgefundene brandenburgische Staatsaffäre. "Man arbeitete für den König von Preußen und fragte nicht nach dem Nutzen für einen selbst."
Brandenburgs Verschuldung ist 2005 auf 18,5 Milliarden Euro gestiegen, da ist dann vieles egal. Potsdam hat 16 Schlösser, das 17. wird jetzt gebaut, damit der Landtag endlich standesgemäß unterkommt, im Stadtschloss, das als Barockkopie aufersteht. Die Nachfolgekosten mag noch niemand addieren, eine neue Brücke über die Havel freilich wird gebraucht, damit der Verkehr künftig durch bislang unberührte Stadtteile tobt. Geld scheint keine Rolle mehr zu spielen. Und das sollen die Erben Friedrichs II. sein, der genau wusste, dass die Finanzen "Nerven des Staates" sind? Und dessen Vater dem Leibkoch jedes Bündel Petersilie vorzurechnen pflegte?
Wundersame Symbolik des Zufalls: Ausgerechnet am Potsdamer Museum zur brandenburgisch-preußischen Geschichte lässt sich das ganze Drama eindrucksvoll studieren. Dieses Haus im einstigen Kutschstall, eine Herzensangelegenheit von Manfred Stolpe, wurde dem Landtag Mitte der neunziger Jahre in einer besonderen Konfektschachtel serviert. Stolpe trat seinerzeit vor das Parlament und verkündete, ganz ohne Geld aus der Staatskasse werde dieses Museum betrieben, gab es doch einen "Freundeskreis", der dem Regierungschef diese verlockende Aussicht suggerierte. Heute belastet das Gebäude den Landesetat mit 500.000 Euro pro Jahr. Stolpe war einfach getäuscht worden, was niemanden davon abhält, auf einen ähnlichen Coup beim Wiederaufbau der Garnisonskirche hereinzufallen.
Kein Platz im brandenburgischen Gedenkkalender des Jahres 2006 hat bezeichnender Weise ein preußisches Jubiläum, das ungebrochene Aufmerksamkeit verdient hätte. Vor genau 200 Jahren, am 14. Oktober 1806, wurde die preußische Armee bei Jena und Auerstedt in nur wenigen Stunden von Napoleon zu Boden gerissen, im darauffolgenden Frieden von Tilsit verlor des geschlagene Reich die Hälfte seines bis dato zusammengebrachten Territoriums. Im Oktober des Jahres 1806 brach dabei weniger ein Staat zusammen, der als Muster von Toleranz und Anstand galt - es unterlag vielmehr ein reformunfähiges Königstum, das sich auf Friedrich II. und sein Credo berief: "Wenn gegaunert werden muss, so seien wir Hauptgauner". Als 1788 die französischen Bauern erstmals wieder Beschwerde ob ihrer Lage bei Ludwig XVI. führen durften, ereichten Millionen von Klagen das Schloss von Versailles. Einer der Absender schrieb: "Majestät, es ist hier fast so schlimm wie unter dem König von Preußen."
Vor zwei Jahrhunderten scheiterte "das sklavischste Land Europas", wie Gotthold Ephraim Lessing vermerkte, an seiner Erstarrung und Ignoranz. Vergleiche sind erlaubt, aller empörten Zurechtweisung zum Trotz. Preußens Debakel damals und Brandenburgs Misere heute hatten beziehungsweise haben viel mit dem geistigen Zuschnitt und moralischen Zustand der so genannten Eliten zu tun. Und mit deren Unvermögen, genau dies wahrzunehmen.
(*) Brandenburgs endgültige Zahlen für das Jahr 2005 liegen erst im Februar vor
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