"Es müssen die Mittel geschaffen werden, staatlich freigiebig zu sein gegen die Armut. Nicht als Almosen, sondern als Recht auf Versorgung, wo der gute Wille zur Arbeit nicht mehr kann." Mit diesen Worten begründete Otto von Bismarck das System der Sozialversicherung im Deutschen Reich. 1883 wurde die gesetzliche Krankenversicherung eingeführt, 1884 eine allgemeine Unfallversicherung, 1889 die Alters- und Invalidenversicherung. Über die SPD, die ab 1890 wieder legal war, gab der Kanzler in einem Anfall von Ehrlichkeit zu Protokoll, dass - wenn es sie nicht gäbe - die "mäßigen Fortschritte auch nicht existieren" würden.
Dieses System der Grundsicherung wird in Deutschland seit geraumer Zeit wie ein Feindbild behandelt, als trage es die Schuld an der um sich greifenden Armut. Im neuesten Positionspapier der SPD-Landeschefs Matthias Platzeck (Brandenburg) und Jens Bullerjahn (Sachsen-Anhalt) firmiert Bismarcks Sozialstaat als Grundübel, das es an der Wurzel zu packen gelte. Man fragt sich bei der Lektüre, soll das Konzept eine Antwort auf brennende Fragen der Gegenwart sein? Oder hat man es eher mit den rhetorischen Glasuren einer Politikergeneration zu tun, die den Sozialstaatsgedanken, zu dem es keine menschenwürdige Alternative gibt, seit 16 Jahren aushöhlt und das waidwunde Wild nun endgültig zur Strecke bringen will?
Mit der realen Lage in Brandenburgs Erwerbslosen-Hochburgen jedenfalls hat dieser Ruf nach Dynamik und Eigenvorsorge kaum etwas zu tun. Was dort von den mittellosen Unterschichten unternommen werden kann, geschieht. Sie verlassen ihre Heimat oder machen sich "selbstständig", um festzustellen, es gibt längst zu viele Friseure, zu viele Imbissbuden, zu viele Handwerker, die sich gegenseitig das Wasser abgraben. Wenn diese "Anbieter" um ihre Kundschaft ringen, konkurrieren sie sich gegenseitig nieder. Wie sollen da "Lebenschancen" genutzt werden, die es nicht gibt? Wie soll da laut Platzeck "vorgesorgt" werden?
Die Autoren des Positionspapiers halten sich an den Glauben, mehr Bildung werde alles richten und automatisch mehr Arbeit nach sich ziehen. Bildung gleichsam als Wunderwaffe. Platzeck muss es sich gefallen lassen, dass seine Thesen mit dem verglichen werden, was er als Regierungsmitglied seit 1990 und als Brandenburgs Ministerpräsident seit 2002 in dieser Hinsicht vollbracht hat. Seit 16 Jahren ist das märkische Bildungswesen ein Feld fortwährender Revolutionierung und Missionierung - doch die Ergebnisse, zieht man etwa die Pisa-Studien heran, sind verheerend. Permanent trachtet die Bildungspolitik des Landes danach, ihre Existenzberechtigung und Modernität mit neuen bunten Kampagnen unter Beweis zu stellen. Nach der Wende zum Beispiel galten Kopfnoten als obsolet, konnten zentrale Fächer wie Deutsch oder Mathematik abgewählt werden, gab es das Abitur erst nach 13 Schuljahren. Inzwischen wird auf ganzer Linie zurück gerudert.
Der uneingeschränkte Rechtsanspruch auf einen Kita-Platz und der kostenlose Schülertransport per Bus sind dem Sparstift zum Opfer gefallen. Es gab einmal das Konzept "Kurze Wege für kurze Beine" - heute hat das Bundesland die im Schnitt längsten Schulwege in Deutschland. Das Gesetz schreibt in Brandenburg vor, dass jedes Kita-Kind einmal im Jahr dem Arzt vorzustellen ist, um mögliche Entwicklungsstörungen frühzeitig erkennen zu können. Tatsächlich ist der Anteil derer, bei denen das wirklich geschieht, auf die Hälfte zurückgefallen. Keine Mahnung, kein Protest, keine Drohung der Landesregierung gegenüber den zuständigen Kommunen hat daran etwas ändern können. "Fehlendes Geld", das reicht als Begründung.
"Lebenslanges Lernen" wird dem schlichten Brandenburger in Festreden regelmäßig verordnet. Gleichzeitig ist an den Volkshochschulen sowohl die Zahl der Unterrichtsstunden wie auch der Teilnehmer stark gesunken. Verbuchte der brandenburgische Volkshochschulverband für den kläglichen Rest von 21 Häusern im Jahr 2000 immerhin noch über 190.000 erteilte Stunden für 126.000 Menschen, so waren es 2004 noch 122.000 Stunden für 80.000. Die Teilnehmer müssen heute bis zu 5,20 Euro pro Unterrichtsstunde zahlen, vor zwei Jahren reichten noch zwischen 1,50 bis 3.50 Euro.
In den neunziger Jahren wurden Milliardensummen in das Bildungs- und Umschulwesen für ostdeutsche Arbeitslose investiert. Der Glaube, das könne die Lage auf dem Arbeitsmarkt beeinflussen - um nicht zu sagen, entscheidend verbessern -, teilten sämtliche Parteien. Mehr oder weniger stillschweigend wurde diesem frommen Wunsch zwischenzeitlich abgeschworen. Waren vom Arbeitsamt bezahlte Qualifizierungen vor zehn Jahren noch die Regel, sind sie heute die Ausnahme. Eine ganze Bildungsindustrie ist in Ostdeutschland zusammengebrochen, weil der Staat nicht länger ein ihm nutzlos erscheinendes Instrumentarium finanziert. Können Platzeck und Bullerjahn davon abstrahieren?
"Skandinavisch schlau" soll es nach ihrem Willen künftig in Deutschland zugehen. Zumindest Platzeck war so frei, sich mit der CDU genau für den Koalitionspartner zu entscheiden, mit dem er sein skandinavisches Bildungsideal nun ganz bestimmt nicht durchsetzen wird. Der nordeuropäische Grundsatz, Kinder möglichst spät auf den Bildungswegen zu trennen, wird in Brandenburg gerade aufgegeben. Bislang konnte die SPD noch ihre sechsjährige gemeinsame Grundschule verteidigen. Das wird mit den von der CDU verlangten "Begabtenklassen", die mit dem fünften Schuljahr am Gymnasium starten, von nun an unterlaufen. Was also haben die neuen SPD-Thesen mit der seit 16 Jahren von der SPD in Brandenburg geprägten Wirklichkeit zu tun? Platzecks politische Praxis wird durch seine theoretischen Traktate als Fiasko sondergleichen offenbart. Warum äußert er sich trotzdem? Um fortschreitende Wirklichkeitsverluste zu dokumentieren?
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