Wer die Butter hat, wird frech

Narziss und Goldlack Weshalb kann der Westen im Osten nicht über seinen mentalen Schatten springen?

Leser der Süddeutschen Zeitung erfuhren vor einigen Wochen, worin die deutsch-deutsche Misere besteht. In dem Umstand nämlich, dass vor anderthalb Jahrzehnten 17 Millionen zusätzliche "Anspruchsberechtigte" der Bundesrepublik aufgebürdet worden sind. Die Einwohnerschaft unserer glücklich vereinten Nation teilt sich nach dieser Lesart in 62 Millionen Deutsche und - inzwischen - 15,5 Millionen "Anspruchsberechtigte". Ist das ein Ausrutscher, eine singuläre Entgleisung? Nein, ist es nicht. Die Ignoranz und die Unlust, sich in Ostdeutsche hineinzudenken bis hin zum Wunsch, sie zu verachten - sie feiern weiter Triumphe.

Seit 1990 arbeite ich als Journalist in der brandenburgischen Landespolitik, manche West-Kollegen sind dort genau so lange tätig wie ich. Man kommt mit ihnen gut oder weniger gut aus, die einen sind sympathischer als andere - doch davon abgesehen: Nicht ein einziges Mal in dieser Zeit hat man mir die Frage gestellt: Du warst doch vorher hier, wie war das damals, wie verhielt sich dies oder jenes? Es kam diesen Kollegen einfach nicht in den Sinn, so etwas lag außerhalb ihrer Vorstellungskraft. Sie haben deshalb nicht gefragt, weil sie davon überzeugt sind, alles zu wissen. Alles jedenfalls, was nötig ist, um für Ostdeutsche Zeitung zu machen. Oder Fernseh- und Hörfunkprogramme.

Der deutsch-deutsche Dialog bleibt so voller Tabus und Unaufrichtigkeiten, grundiert wird er von einem schlichten Tatbestand: Die einen haben das Geld, und die anderen haben es nicht. Und wer die Butter hat, wird frech, schrieb Kurt Tucholsky. Wie Unternehmer oder "Investoren", denen man gern jede "Macke" verzeiht. Doch die sind in diesem Fall weniger gemeint als die Zehntausende, die - aus den "alten" Ländern stammend - den ostdeutschen Staatsdienst für sich erobert haben und sich à la BAT fürstlich bezahlen lassen. Sie gerieten einst in diese Positionen dank Ausschreibungsbedingungen, die ein Ostdeutscher einfach nicht erfüllen konnte. Die Folge: Von den 4.500 Beschäftigten im höheren Dienst Brandenburgs sind im 15. Jahr der Einheit 3.800 Westdeutsche. Der Tonfall in der brandenburgischen Staatspolitik ist ein gepflegtes Rheinländisch oder ein nicht minder gepflegtes Bayerisch. Von Hartz IV sind diese Herrschaften nicht bedroht - sie sind diejenigen, die dieses Verfahren dirigieren.

Gleichsam sinnbildlich erscheint dabei die brandenburgische Trennungsgeldaffäre. Hunderten von "uneigennützigen Aufbauhelfern" in hohen, höchsten und allerhöchsten Rängen war es nicht genug, dass sie in Brandenburg ihr 100-Prozent-Westgehalt bezogen, während immer mehr der dort Lebenden arbeitslos wurden oder jedweden Tarifschutz verloren. Nicht gereicht haben Zuschläge, Zuschlagszuschläge, Buschzulagen, Ministerialzulagen und weiß der Teufel was noch. Während immer mehr Familien im Osten auseinander gerissen wurden und dafür keinen Cent sahen, wurde im Landesdienst beim Trennungsgeld in einem Maße ungerechtfertigt abgeräumt, dass dem Betrachter nur noch schwindlig werden konnte. Selbst nach den Maßstäben des überaus großzügigen Beamtenrechts wurden Unsummen zuviel ausgeschüttet. Bei einer von der PDS beantragten Expertenanhörung im Landtag kam heraus, dass es sich eben nicht um eine "Lücke im Gesetz" handelte, sondern eindeutig um ein Mentalitätsproblem.

Die Durchschnittsrente in Brandenburg beträgt derzeit 800 Euro. Brandenburgische Beamte im Ruhestand und westdeutscher Herkunft beziehen im Durchschnitt über 3.500 Euro. Da weiß man doch, was es zu verteidigen gilt. Und sollte ein Pensionär irgendwann in die alte Heimat zurück ziehen wollen, dann zahlt ihm das Land allein für den Umzug bis zu 10.000 Euro. Eine solche Klassengesellschaft soll man deutsche Einheit nennen?

Ein auf Pfründe fixiertes Pharisäertum hat sich im Osten Privilegien gesichert, die alles in den Schatten stellen, was zu DDR-Zeiten üblich war. In die vermutlich demnächst mit voller Härte ausbrechenden deutschen Verteilungskämpfe kann diese Kaste voller Gelassenheit gehen. Der große und der kleine Mandarin, sie werden ihre Besitzstände zu verteidigen wissen - und dies juristisch bestens abgesichert (man denke an die gut formierten Lobby-Organisationen wie etwa ver.di, die GEW und den Beamtenbund). Sie stellen - unabhängig von den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen - wie Kurt Tucholsky seinerzeit schrieb - ohne zu zögern die Interessen ihrer Kaste über die des Landes. Und die Volksvertreter aller Ebenen haben ihnen dabei stets geholfen. Wer die Butter hat, wird frech.

Der Zugang zu den Ostdeutschen ist für die weitaus meisten Westdeutschen auch deswegen erschwert oder unmöglich, weil sie einer selbstgefälligen oder zumindest beschönigenden Vorstellung von ihrer eigenen Rolle anhängen. Sie sehen sich konsequent als "Bringer" und den Osten als eine Zone, in die unablässig "unser Geld" fließt wie in ein Fass ohne Boden. Eine auch nur oberflächliche Betrachtung verrät, welches Zerrbild da bedient wird. Wie viele der Milliarden Förder-Euro klingeln nicht umgehend wieder in der westdeutschen Kasse? Der so genannte "Aufbau Ost" war unbestreitbar zuallererst ein Konjunkturprogramm West, bei dem weite Teile des Ostens auf ein vor-industrielles Stadium zurückgeworfen worden sind.

Die Treuhandanstalt hat maßgeblich dafür gesorgt, dass heute noch ganze sieben Prozent des produktiven Kapitals im Osten in ostdeutscher Hand sind. Wie ist es vor diesem Hintergrund gemeint, wenn Brandenburgs Ministerpräsident Platzeck (SPD) dazu aufruft, "aus eigner Kraft" loszulegen und "die Geschicke in die eigenen Hände" zu nehmen? Natürlich können sich zu den zehn überzähligen Friseusen am Marktplatz noch weitere zehn stellen und mit den Scheren klappern. Deswegen gibt es doch nicht mehr Köpfe, die frisiert sein wollen. Konjunktur haben heute Insolvenzverwalter und Schuldnerberater, die Menschen aus gescheiterten Ich-AGs helfen müssen. Warum will das nicht in den Kopf der Regierenden? Auch der unbändige Wille von Millionen Ostdeutschen "loszulegen", kann keine Milliardeninvestitionen ersetzen.

Doch ist das bislang Erwähnte noch nicht einmal das Entscheidende im deutsch-deutschen Dialog. Überheblichkeit von Siegern und das Bedürfnis, der eigenen Propaganda zu glauben - sie sind so alt wie die Menschheit. Was aber macht diese Überheblichkeit besonders schwer erträglich? Die nachgewiesene Erfolglosigkeit? Extrem verschuldet und mit Ansprüchen in spektakulärer Höhe belastet, sind die neuen Länder von einer selbsttragenden Entwicklung 2005 sehr viel weiter entfernt als 1990. So sieht sie aus, die Bilanz der "uneigennützigen Aufbauhelfer". 15 Jahre lang haben sie Rezepte verschrieben und sich nicht daran stören lassen, wenn die in den neuen Ländern ohne Wirkung blieben. Und nun soll das Ganze laut Kanzler Schröder lediglich ein "Vermittlungsproblem" sein? Die Ablehnung in Ostdeutschland gilt einer Politik, die durchaus verstanden und ob ihrer Wirkungslosigkeit hautnah erfahren wird.


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