Dass Madonna sich immer wieder neu erfindet, wird mittlerweile nicht mehr nur beschworen und bestaunt. Es wird vorausgesetzt. Zumal in einem Jahr wie diesem, in dem der Popstar eine neue Generaloffensive in eigener Sache startet: Im Februar war auf der Berlinale ihr Regiedebüt zu sehen. Im Mai will sie beim Filmfestival von Cannes ihren Dokumentarfilm über Malawi vorstellen. Und dieser Tage erscheint ein neues Album, Hard Candy, inklusive Singleauskoppelungen, Clips und Welttournee.
Eines der zentralen Themen im Arbeiten von Madonna war und ist das der Selbstbestimmung - als Künstlerin wie als Frau, was sich nur schwerlich trennen lässt. Spätestens seit dem 1986 erschienenen Album True Blue, für das Madonna zum ersten Mal als Songschreiberin, Interpretin und Co-Produzentin verantwortlich zeichnete, gilt sie nicht nur als Produkt, sondern auch als Schöpferin ihrer selbst. Oder verhaltener: Spätestens seit Mitte der achtziger Jahre wird immer wieder die Frage nach der tatsächlichen oder lediglich behaupteten Autorschaft Madonnas gestellt und ist doch unbeantwortet geblieben.
Mit der Vorstellung ihrer ersten Regiearbeit, dem im Panorama-Programm der Berlinale gezeigten Spielfilm Filth And Wisdom, ist diese Diskussion in eine neue Runde gegangen. Als Indiz hierfür lässt sich werten, dass während der Pressekonferenz der Name von Jean-Luc Godard, einem der Großmeister des französischen Autorenkinos, gleich zweimal mit ihr in Verbindung gebracht wurde: Godard habe gesagt, ein guter Titel sei der halbe Film, ob sie dem zustimme. Sie sei eine glühende Verehrerin Godards, so Madonna, und deshalb froh, dass ausgerechnet sein Name falle. Und ja, der Titel eines Films sei von immenser Wichtigkeit. Zweite Frage: Wie es denn käme, dass eine der drei Hauptfiguren aus Filth And Wisdom der Hauptdarstellerin aus Godards À Bout de Souffle bis aufs Haar gleiche. Sie liebe diesen Film, antwortete Madonna. Und ja, Jean Seberg, sie sei die Referenz gewesen.
2008 also zitiert Madonna Godard. Nun, das hat sie schon einmal getan, und zwar im Videoclip zu Papa Don´t Preach. 1986 war das, Regie führte James Foley. Bemerkenswert scheint dies, weil sich die Übernahmen seinerzeit nicht in Äußerlichkeiten wie dem kurz geschnittenen Haar oder dem quergestreiften Pullover erschöpften. Madonnas Mädchenrolle war vielmehr ein Rückgriff auf die dramaturgische Konzeption der von Jean Seberg gespielten Figur Patricia Franchini, was als kompliziertes Miteinander aus Übernahme und Manipulation Gestalt annahm und zusätzlich mit autobiografischen Anspielungen auf Madonna angereichert war: Beide US-Amerikanerinnen mit italienischen Wurzeln. Beide mit einer ungewollten Schwangerschaft konfrontiert. Doch während Patricia eine Abtreibung zumindest in Erwägung zieht, entscheidet sich das Mädchen für das Kind und nimmt allen Mut zusammen, um dies nicht dem Liebhaber, sondern dem eigenen Vater gegenüber zu vertreten.
All dies legt die Vermutung nahe, dass es auch bei der Figur aus Filth And Wisdom mehr Anknüpfungspunkte als nur äußerliche gibt. Juliette arbeitet als Apothekenhelferin. Ihr bislang unerfüllter Lebenstraum ist es, nach Kenia zu reisen, um sich dort verwaister Kinder anzunehmen. Schnell wird deutlich, dass die Reise nach Afrika eine Flucht vor eigenen Problemen ist. Mehrfach flackert deren Auslöser in Streitgesprächen mit der Schwester auf: Der Vater scheint beide Töchter missbraucht zu haben. Dass sich ihr Chef in sie verliebt, dieser Liebe aber keine Zukunft einräumt, bringt die ersehnte Rettung. Heimlich meldet der Apotheker Juliette bei einem Hilfsprojekt an und bezahlt ihr den Flug.
Zwar hat Madonna die Darstellung der Juliette an Vicky McClure delegiert. Als Drehbuchautorin und Regisseurin aber hat sie sich ihrer Figur auf derart vielfältige Weise eingeschrieben, dass sie im Ergebnis nichts anderes thematisiert als einmal mehr Madonna: Hier der Wunsch, das Leid afrikanischer Waisen zu lindern, was Madonnas aktuelles Engagement in Malawi spiegelt. Dort die Rückbindung an eine Figur, die sie selbst vor über 20 Jahren verkörperte und die ihrerseits eine Reihe autobiografischer Bezüge aufwies. Juliette ließe sich demnach als eine Art Fortschreibung von Patricia und der Mädchenfigur verstehen - auch wenn der für beide Figuren so zentrale Konflikt auf eigentümliche Weise gespalten und ins Off verlegt wird: Der Vater, vor dem Juliette ins Ausland flieht, bleibt unsichtbar. Das Kinderleben, das es zu retten gilt, ist nicht die eigene Leibesfrucht, sondern ins Hunderttausendfache multipliziert und auf einem anderen Kontinent zuhause.
In der Summe mag man diese Bezüglichkeiten komplex finden, entlegen oder schlicht verquast. Schwerer als die Tatsache aber, dass die Nachvollziehbarkeit der Bezüge ein hohes Maß an Aufmerksamkeit verlangt, wiegt das unklare Verhältnis von Fakt und Fiktion, weil es sich im Fall von Filth And Wisdom gegen die Autorin wendet: Dass Juliette ihre eigentlichen Probleme hinter einem Helfersyndrom versteckt und Vater und "Liebhaber" zynischerweise zu einer Figur zusammengezogen werden, macht die Rolle durchaus glaubwürdig. Kaum anzunehmen ist allerdings, dass Madonna auch diese Aspekte der Figur als Anspielung auf die eigene Biografie verstanden wissen will. Und noch ein weiterer Gedanke drängt sich auf: Ganz gleich, wie hoch der konzeptuelle Anteil Madonnas an der jeweiligen Arbeit sein mag, ein tatsächliches Gelingen scheint untrennbar an ihren Körper, an die Kraft ihrer Performance gebunden. Die Kunst Madonnas ist es, sich fremde Rollen performativ anzueignen und dabei immer als Madonna sichtbar zu bleiben. Erst als Performerin wird sie im umfassenden Sinne zum auteur.
Gut also, dass Madonna für Hard Candy wieder selbst in den Ring steigt. Von Steven Klein hat sie sich für das Cover ihrer aktuellen CD und das Titelblatt des Hochglanzmagazins Dazed Confused als Kickboxerin ablichten lassen: Ein spätes riot girl, das Zuckerbrot und Peitsche verspricht. Andere Entscheidungen zeugen nicht von so viel Willen zur Selbstbehauptung. Ihrer Intuition folgend, hatte sie für die Mitarbeit an ihren letzten Alben mehr oder minder Unbekannte wie Mirwais oder Stuart Price verpflichtet und mit ihrer Hilfe triumphiert. Als würde sie dieser Intuition nicht länger trauen, hat sie diesmal auf Erfolgsgaranten gesetzt: Timbaland und Pharell Williams gehören seit über zehn Jahren zu den einflussreichsten Produzenten in den Bereichen Hip-Hop und R Justin Timberlake ist einer der erfolgreichsten Newcomer des jüngsten Zeit. Ein letztes Zugeständnis an ihre Plattenfirma Warner Records, die American Life als zu exaltiertes Experiment abtat und die Madonna vielleicht deshalb nach Hard Candy verlässt?
Irritierend ist auch, dass Madonna auf der ersten Singleauskopplung im Duett mit Timberlake auftritt, also nicht nur hinter den Kulissen ein beträchtliches Maß an Eigenständigkeit abgibt. "Sometimes I think what I need is a you intervention", singt Madonna, und "There´s enough room for both". Wahrlich ungewohnte Töne aus dem Mund einer für ihre Egomanie berüchtigten Einzelkämpferin. Sieht man hiervon ab, handelt es sich bei 4 Minutes um ein ordentliches Stück Musik. Leicht überinstrumentiert. Mit ausgeprägter Basslinie. Dunkel dröhnend und durchaus tanzbar - was Madonna und Timberlake im Clip eindrücklich belegen. Unter Regie der französischen Nachwuchskünstler Jonas François ertanzen sich die beiden ihren Weg durch eine Privatwohnung, über Autos auf einem Parkplatz und durch einen Supermarkt. Hin und wieder erscheinen sie dabei nicht nur als Partner, sondern auch als Spiegelbild des jeweils anderen. Justin Timberlake als neue Madonna? Das versprach eigentlich der deutlich wandlungsfähigere Robbie Williams zu werden.
Die prismatischen Auffaltungen der Bilder, die Madonna und Justin bei ihrem Tun verfolgen, und die sich öffnenden Querschnitte, die das Innere von Körpern und Gegenständen freigeben, deuten an, dass "Oberfläche" das eigentliche Thema des Clips ist. Hiermit korrespondiert, dass Madonna zwar Timberlakes Mutter sein könnte, man ihr das im Clip aber in keiner Weise anmerkt. Das ringt Bewunderung ab, scheint gleichzeitig aber irgendwie unangemessen. Oder, um es mit den Worten einer Bekannten auszudrücken: Kann Madonna das einst gegebene Versprechen, eine alternative, gültige Grenzen außer Kraft setzende Weiblichkeit zu verkörpern, doch nicht halten? Muss auch Madonna, die so souverän mit den Gesetzmäßigkeiten der Unterhaltungsindustrie zu jonglieren schien, schlussendlich klein beigeben und zur Berufsjugendlichen mutieren? Nicht erst seit 2008 quält sie sich mit makrobiotischen Diäten und mehreren Stunden workout pro Tag. Niederer und gehobener Boulevard spekulieren über Schönheitsoperationen und bewundern das Ergebnis. Fast schon unfreiwillig komisch wirkt vor diesem Hintergrund, dass hard candy in einschlägigen Internetforen als eine Bezeichnung für minderjährige Mädchen verwendet wird.
Wie dem auch sei. Madonna hat einen neuen Vertrag mit Live Nation, der drei Studioalben und vier Konzerttourneen umfasst. Wer oder was Madonna in Zukunft sein wird, bleibt also abzuwarten. Nur soviel scheint klar. Mit fast 50 Jahren hat Madonna alle Schlachten geschlagen, die es im Showgeschäft zu schlagen gilt. Vielleicht hat sie sich deshalb zu guter Letzt eine ungleiche Gegnerin gewählt: die Zeit.
Matthias Weiß ist Kunsthistoriker und Theaterwissenschaftler und arbeitet seit 2005 im Sonderforschungsbereich Kulturen des Performativen an der FU Berlin. Seine Dissertation über Zitatverfahren in den Videoclips von Madonna ist 2007 unter dem Titel Madonna revidiert. Rekursivität im Videoclip im Dietrich Reimer Verlag erschienen.
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