Der grosse Hauch

Schweizer Abend Kolumne

Im schweizerischen Neuchâtel (Neuenburg) lockte das "Beau-Rivage" mit günstigen Wochenendpreisen auf "eine Insel der Ruhe und Raffinesse", die "in privilegierter Seelage allen Luxus eines Grandhotels bietet". Dieser Verführung konnte ich nicht widerstehen, zumal im Neuenburger Kunstmuseum mein Lieblingsautomat vor sich hin dämmert, "l´écrivain" (der Schriftsteller), ein knallbuntes Männchen, das an einem Pult sitzt und, wenn´s eingeschaltet wird, mit zittriger Hand anfängt, schöne Sachen auf ein Papier zu schreiben, zum Beispiel "der große Hauch".

Die Ankunft im Hotel war ernüchternd. Obwohl ich ausdrücklich "mit Blick auf den See" und das teurere "de luxe"-Arrangement gebucht hatte, wurde ich seitwärts untergebracht. Zwar sollten die Sonderpreise auch nach vorne raus gelten, aber offenbar nicht für mich. Unlustig betrat ich mein Zimmer, einen geräumigen Tresorraum mit kleinen Fenstern, ausgestattet in edlem, warmem Kirschbaumholz. Eine der Türen führte in einen begehbaren Kleiderschrank. Kaum öffnete ich diese, blühte ich auf und wurde von Stund an verfolgt vom Traum, meinen Lebensabend mit begehbarem Kleiderschrank zu verbringen. Besser gelaunt öffnete ich die nächste Tür und stand im Bad, einem Salon in mattem Marmor. Mit Spiegeln bis an den Horizont, die jedem Gast den Eindruck vermitteln, er habe Hintergrund. Trotz eingeschränkter Seesicht fing ich an, mich im Zimmer wohl zu fühlen.

Da folgte der zweite Streich: Das Frühstück war nicht im Preis inbegriffen. Eine Saumode wie die, Flugpreise ohne Flughafentaxen anzugeben. Wie soll einer fliegen, ohne ein- und aussteigen zu können, wie schlafen ohne Aussicht auf Kaffee?! Wütend nahm ich mir vor, am nächsten Morgen nüchtern in die Altstadt zu taumeln, um dort zu frühstücken - ein Vorsatz, den ich nach kurzem Entdeckungsrundgang fallen ließ. Die erreichbaren Cafés waren innenarchitektonisch so niederschmetternd gestaltet, dass sie niemandem auf die Beine helfen können.

Zurück im Hotel, ging ich in die Veranda-Bar. Rosa glühende Bauernsöhne aus dem Umland, dem so genannten Großen Moos, saßen verträumt neben der rosa schimmernden Stadtjugend und tranken in Begleitung von rosa duftenden Frauen Aperitif. Rund herum nichts als Glas, von der Decke bis zum Boden. Unmittelbar davor dehnte sich der in der untergehenden Sonne brennende See, der im Herbst manchmal sogar mit richtigen Wellen und weißen Schaumkronen auftrumpft, im Winter neblig dampft, und dessen gegenüberliegende Ufer sich nicht selten im Dunst verlieren - ein See, der diesen Namen ohne Einschränkung verdient.

Neuenburg war lange Zeit Fürstentum. Noch vor 150 Jahren gehörte es dem preußischen König. Auf engem Raum zeugen repräsentative Familiensitze früherer Grafen und Prinzen von dieser Vergangenheit, Residenzen wie das Hôtel DuPeyrou (heute eine erste Adresse zum Speisen) und andere Palais´ alten Adels, deren Fassaden glücklicherweise noch nicht zu Tode renoviert worden sind. Oder das "Le Cardinal", eine veritable, alteingesessene Brasserie, in der es Meeresfrüchte zu essen gibt wie früher in französischen Filmen mit Jean Gabin. Das Lokal ruht mit einer solchen Selbstverständlichkeit in sich, dass es nicht einmal nötig hat, als Geheimtipp gehandelt zu werden. Seine Spezialität ist Sauerkraut mit drei Sorten Fisch und Muscheln. Wer jetzt müde abwinkt und sagt, das kenne ich von da oder dort, wo es mit zwei Michelinsternen ausgezeichnet worden ist, der gesteht damit bloß ein, dass er es nie im "Le Cardinal" gegessen hat.

Das Frühstück in der einzigartigen Veranda - angesichts des Sees im Licht der aufgehenden Sonne, direkt vor den Panoramascheiben, durch die auch bei eisigster Kälte kein Windhauch hereinweht - war ein Genuss. Die Stühle waren bequem, die Tische groß, die Tücher aus steifem, schwerem Leinen. Ich bin kein Freund von Nasskaltem am frühen Morgen, probierte aber, weil es so verlockend aussah, einen Löffel Birchermüsli, und selbst das lohnte sich. Während ich da saß und übers Wasser schaute, spürte ich mit Erleichterung, dass mich weder der Frühstücksaufpreis noch die beschnittene Seesicht im Zimmer länger quälten: Ausstattung und Lage des "Beau-Rivage" machen beides zu vernachlässigbaren Details.

Wer jedoch auf solche Details empfindlich reagiert, dem sei als Alternative das "Alpes et Lac" genannt, oben, direkt gegenüber vom Bahnhof. Die Sicht aus den Zimmern ist - auch wenn man das Wasser nicht direkt an den Füssen hat - ähnlich majestätisch wie die aus den Luxussuiten unten. Und wer See pur haben will, der muss sowieso auf den "accès aux utopies" (Zugang zu den Utopien) hinaustreten, eine begehbare Plastik in Form eines Riesensprungbretts, das von der Uferpromenade etwa fünfzehn Meter in die freie Luft hinausragt. An seiner äußersten Kante steht ein Bänkchen. Da sitzt man dann, schwankend zwischen Himmel und Wasser, und spürt den großen, eisigen Hauch.


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