Der Frühling ist in Budapest ein Ereignis. Er fegt über die Ungarische Tiefebene heran wie Dschingis Khan, bricht in die Stadt ein, kippt schwere, warme Luft durch die Fenster in die Wohnungen und spült Stühle und Tische nach draußen. Der Putz an den Fassaden wirft Blasen und bröckelt ab. Die Passanten verlangsamen ihre Schritte, bleiben vor verstaubten Schaufenstern stehen, betrachten seltsam verzogene, ausgebleichte Schuhe aus alten Lagerbeständen, selbstgefertigte Rasierapparate, absonderliche Plastikmonster aus der Volksrepublik China, Zinnsoldaten, vergilbte, orthopädische Ersatzgelenke - und denken an ihre Geliebten.
Gezieltes Shopping fällt in so einer Atmosphäre schwer. Verlangt ist eher das Talent, loszuziehen ohne Erwartungen, ohne Hoffnung; das Talent zu spazieren. Den Falten der Stadt entströmt ein zarter Duft von Balkan. Zwar gibt es da und dort auch luxuriöse Boutiquen, doch bestimmen sie nicht das Straßenbild. Die Aussicht, etwas Exquisites zu finden, das man nicht überall sonst mindestens ebenso gut finden könnte, ist gering, größer schon die Chance, auf etwas Überraschendes zu stoßen. Man entdeckt auf seinen Streifzügen begeisternde Jugendstilfassaden, abenteuerliche Hinterhöfe, koschere Konditoreien, die größte Synagoge Europas, verrammelte Läden und solche, bei denen die Türen offen stehen und den Blick frei geben in dämmrige Labyrinthe. Traut man sich hinein, kann man Sachen auf die Spur kommen, von denen man längst vergessen hat, dass man sie sucht. Über allem liegt eine unangestrengte Gelassenheit; kaum jemand leidet unter dem Zwang, Geschäfte machen zu müssen. Die Waren wirken wie liegengelassen. Reklamen hängen in Schaufenstern nicht, um zum Kauf zu animieren, sondern weil sie einmal jemandem gefallen haben und man sich seither an sie gewöhnt hat - manche Produkte, für die sie werben, gibt es gar nicht mehr.
In der Nähe von U-Bahn-Stationen wird es belebter. Männer, Frauen und Kinder stehen da und strecken einem Socken, Blumen, russische Feldstecher, Gasanzünder, Peperoni oder Trainingshosen entgegen. Die einen murmeln dazu einen Preis, die anderen sagen gar nichts. So richtig überzeugt von der Notwendigkeit, Umsatz zu machen, scheint niemand zu sein.
Auch vor den Markthallen trifft man auf diese angewehten Gestalten, die ihren Krimskrams feilbieten oder bloß ein wenig im Dunst der Warenwelt ihre Stunden verdösen wollen. Die Markthallen sind sehenswert. Nicht nur die zentrale, besonders prächtige am Vámház körút, sondern auch die kleineren, versteckt liegenden (es gibt insgesamt fünf). Verglichen mit einem überquellend lauten, prallen, mediterranen Markt sind dies hier eher raunende, schattigfeuchte, wabernde Basare mit Frittierbuden und schummerigen Ecken. Angeboten wird alles, was gerade wächst, dazu Geflügel, Gänseleber, Putenschenkel, Enteneier, Salami in allen Ausführungen, Speck, Schmalz. Außerdem gibt es jeweils einen abgegrenzten Bereich, in dem alte Bauern und Bäuerinnen mit Kopftüchern und schwarzen oder sehr bunten Kleidern ihre selbstgemachten Erzeugnisse anbieten: Zwetschgenmus, Blut-, Leber- und geräucherte Würste, dicke Bohnen, von Hand geschöpfte, fette Sahne, Frischkäse.
Auffallend ist das viele Personal überall. Selbst in kleinsten Kiosken drängen sich zwei, drei Verkäuferinnen von meist überwältigender Liebenswürdigkeit und gleichzeitig wohltuender Geschäftsuntüchtigkeit auf. Man kann unbehelligt herumstöbern, kaufen oder nicht, weitergehen, an einem klebrigen Imbiss stehen bleiben, einen Espresso aus einem Plastikbecher trinken und seinen Gedanken nachhängen. Nicht dass die Stimmung orientalisch wäre, in die man verfällt, eher lässt sie sich mit einem Vers erklären, der hier an der Wand in der Zentralbibliothek zu lesen ist: "Ach, welch anstrengendes Leben / jeden Morgen und Abend / muss man sich an- und ausziehen!" (János Arany)
Mit etwas Glück fällt der Blick auf eine fotokopierte Einladung, die an der Imbisswand hängt und für eine Zigeunerkapelle wirbt. Wer Angst hat, in eine Touristenfalle zu tappen: Veranstaltungen, die unter dem Patronat des Roma-Parlaments stattfinden, sind in der Regel authentisch. Außerdem gibt es eine Bewegung, die sich "táncház" (Tanzhaus) nennt, was für traditionelle, spannend synkopische Volksmusik mit Geigen und Celli steht. Sowohl Zigeuner- wie auch táncház-Musik erfreuen sich großer Beliebtheit. Veranstaltungsorte und -termine herauszubekommen ist nicht ganz einfach. Das meiste läuft über Mundpropaganda, inzwischen auch übers Internet. Es lohnt sich, danach zu suchen. Die Konzerte dauern meist bis tief in die Nacht. Man kann kommen und gehen, wann man will. Je später der Abend, desto mehr vorwiegend junge Leute tanzen zu den betäubend langen, stark rhythmisierten Stücken. Die Luft wird heiß im Saal, die Stimmung hypnotisierend.
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