Neben der Saison

St. Lucer Abende Kolumne

Das Val d´Anniviers, ein Seitental des Wallis, galt unter Schweizern lange Zeit als zivilisationsferner Geheimtipp. Bergbauern lebten hier. Schwarze Holzschober auf Pfählen gab es zu besichten, Kupferkessel davor, Hörner, Schädel und Felle von erjagtem Bergvieh an getäfelten Wänden, da und dort eine künstlich angelegte Bewässerungsrinne nebst Mühlrad.

Ein Dorf, am Südhang des Tals gelegen, sechzehnhundertfünfzig Meter über dem Meer, heißt St-Luc. Vor bald 150 Jahren wurde hier das "Bella Tola", eines der ersten Gebirgs-Grand-Hotels erbaut. Das Wort "Grand" ist nicht ganz passend, aber das Hotel macht Freude. Seine Dielen knarren, winzige Balkone hängen windschief vor der vanillefarbenen Fassade, himmelblaue Fensterläden baumeln verwittert in den Scharnieren. Alles wirkt hinfällig, funktioniert jedoch im Detail mustergültig. Die Bettwäsche ist rein und steif wie in allerersten Häusern, die Matratzen stimmen, die Heizung arbeitet vorbildlich, das Bad bietet, was immer man sich von einem Bad nur wünschen kann.

Unten im Haus befinden sich antik eingerichtete Gesellschaftsräume und ein kleiner Festsaal mit schönem Parkett und Deckengemälden. Zur Teezeit brennt im Salon ein Kaminfeuer. Puristen mögen vom Einrichtungsstil vielleicht etwas zu stark an die geliftete Romantik von Laura Ashley erinnert werden, aber das ist Geschmackssache. Ebenso wie die Schalen voller mit ätherischen Ölen getränkter Hobelspäne und getrockneter Blüten, welche den Raumduft dominieren. Ich halte diese Mode für eine Verirrung, ähnlich der, Streudosen voller Geschmacksverstärker auf Restauranttische zu stellen. Zumal die Luft, die hier oben durch die Fenster hereinströmt, dermaßen gut riecht, dass es eine Sünde ist, sie mit Parfum zuzudecken. Wobei das mit der Luft in den Schweizer Bergen so eine Sache ist: Immer wieder wird man als argloser Tourist dazu gezwungen, diese wahrzunehmen und zu loben - was für eine Luft! Atmen Sie! Das bekommen Sie bei sich zu Hause bestimmt nicht so schnell wieder geboten -, so dass viele für den Rest ihres Lebens die Nase voll haben und allergisch auf würzige Gebirgsluft reagieren.

St-Luc ist im Winter ein Ziel für Skifahrer, im Sommer und Herbst eins für Wanderer. Wer weder das eine noch das andere ist, dem sei der Frühsommer empfohlen. Da hat man das Hotel ganz für sich allein, kann sich vor seinem Zimmer ungeniert auf den wackeligen Balkon in die Sonne setzen und über das ausgestorbene Dorf zu seinen Füßen schauen - rundherum nichts als Stille. Die Wanderwege sind verschlammt, die Pisten kahl. Man braucht sich weder um die einen noch um die anderen zu kümmern, kann gleichmütig hinter dem Postauto hertrotten, die trockene Strasse hinauf, zum nächsten Dörfchen, wo ebenfalls alles wie ausgestorben wirkt. Dort setzt man sich auf die Bank vor dem geschlossenen Skiverleih und wartet in der Sonne, bis das Postauto zurückfährt. Unten setzt man sich wieder auf den Balkon in die Stille, nicht einmal Vogelgezwitscher stört, nur das Schmelzwasser rieselt. Gehüllt in den großen, weißen, hoteleigenen Frotteebademantel sitzt man warm da und liest oder döst.

Abends geht man ins einzige Restaurant, das geöffnet hat, ein Berggasthof, in dem trübsinnige Musik aus Deckenlautsprechern läuft, Radio Swiss Pop. Hier wird einem gemischter Salat vorgesetzt, den es sonst nur noch ganz selten gibt, diese bunten Schnipsel mit Maiskörnern oben drüber, vollgesaugt mit der bleichen, dicken Tunke, von der ich nie herausgefunden habe, wo es sie zu kaufen gibt. Danach folgt ein fabelhaftes Käsefondue, dazu Fendant, der lokale Weißwein.

Was für eine grandiose Wehmut, wenn draußen vor dem Fenster, auf Augenhöhe fast, dann auch noch die weißen Berggipfel vis-à-vis sich langsam blau verfärben, kurz rosa aufglühen, verglimmen und in petroliger Schwärze versinken, während kein Laut zu hören ist, nur diese Musik und das Schlurfen des kummervollen Wirts, der an den Tisch tritt und nach weiteren Wünschen fragt, lauernd, weil er fürchtet, sie nicht erfüllen zu können, weswegen man keine mehr wagt anzumelden, zumal einem sowieso längst jegliches Wünschen vergangen ist. Das alles hat Größe, die Wucht der Ausweglosigkeit. Vielleicht sind die Berge schuld daran, die so unverrückbar mächtig dastehen, die Sicht verstellen und jeden dazu zwingen, sie anzustarren.

Reisen neben der Saison ist erholsam. Was für ein königliches Gefühl, allein in einem Grand Hotel zu frühstücken, von der Katze des Hauses umschmeichelt; allein in einem Postauto zu sitzen, privat chauffiert; allein in einer Gaststube Swiss Pop zu hören und sich Fondue auftragen zu lassen; einen ganzen Alpenkranz für sich allein zu haben, ihn mit niemandem teilen zu müssen; und alles so großartig still um einen herum, dass man den chinesischen Fluch zu begreifen beginnt: Möge dein Leben interessant sein.


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