Immer zu früh

Berliner Abende Kolumne

An den Rehbergen steht ein kleines Häuschen, holzverschalt mit einem stolzen Fahnenmast davor, auf dem die deutsche und darüber die europäische Fahne weht. Es ist ein Häuschen, wie es hier einige gibt, das mit ganzer Liebe gepflegt wird. Dahinter beginnen die Rehberge. Ein Park mit Forst und Wiesen und kleinen Tümpeln, groß genug, um sich darin ein bisschen verlaufen zu können.

Das Häuschen und der Fahnenmast werden überragt von einer stolzen Fichte, auf der jeden Morgen ein Vogel sitzt, so erzählt es mir die Bewohnerin. Um sieben kommt er angeflogen und setzt sich auf einen Ast, den die Frau, wenn sie den Hals leicht hoch streckt, von ihrem Küchenfenster aus sehen kann. Dann schaut er sich um und reckt den Hals in die Höhe, um mit ganzer Kehle zu singen. Ganz nach oben schaut er dann und singt.

"Und ausgerechnet diese Fichte will er fällen, unbedingt. Vor zwanzig Jahren habe ich sie mit eigenen Händen eingepflanzt, von einem Ausflug habe ich sie mitgebracht, sie stand am Wegrand, völlig verstaubt. Hier ist sie groß geworden, zusammen mit meinen Kindern, mit mir und ihm. Das Bäumchen gehörte zu uns wie ein Hund zur Familie gehört, der Baum sah uns streiten und lachen und sah meine Kinder aus dem Haus gehen, wie oft sah er mich mit tränenvollen Augen an der Spüle stehen, mit den Händen im Spülwasser. Manchmal glaube ich, der Baum hat mehr von mir gesehen als mein Mann.

Weiß er nicht, dass er mir das Liebste nehmen würde? Nicht, dass er ein böser Mensch wäre, für die Kinder könnte ich mir keinen besseren Vater denken. Und auch ich kann nicht klagen. Die große Liebe war er nicht, das war ein anderer, ein Tänzer, der übers Parkett fegte wie ein Wirbelwind, mein Gott, war ich verrückt nach ihm. Als er kurz vor der Hochzeit eine andere geschwängert hat, verlangte ich das Geld für die Ringe zurück und schmiss ihn raus. Vor Kummer musste ich zum Herzspezialisten, der mir einmal die Woche eine Spritze setzte.

Meinen späteren Mann lernte ich auf einer Beerdigung kennen, er lud mich auf einen Kaffee ein und als ich ihm sagte, dass ich nur Kamillentee trinken kann und Herzspritzen kriege, bot er mir an, mich einmal wöchentlich zum Herzdoktor zu fahren. Verliebt habe ich mich nicht, nicht einmal während der vielen Fahrten hätte ich mir gewünscht, dass er sich zu mir herüberbeugt, um mich zu küssen. Das war immer meine Phantasie. Dass sich jemand im Auto zum mir herüberbeugt und mich küsst. Während all der Fahrten habe ich mir das bei ihm nicht gewünscht. Geheiratet habe ich ihn doch, weil er ein guter Freund wurde und meine Mutter sagte, sei froh, dass noch einer gekommen ist, und vielleicht wusste ich damals schon, dass es für meine Kinder keinen besseren Vater geben könnte.

Er ist ein Eigenbrötler, man muss ihn lassen. Ich habe keine Ahnung, was in ihm vorgeht, so den ganzen Tag, ich weiß es nicht. Man muss ihn lassen. Nur dass ihm plötzlich einfällt, dass der Baum gefällt werden muss.

"Der muss weg, der fällt auf das Haus, irgendwann ist er morsch, dann fällt er um und erdrückt uns alle, der Baum muss weg!"

"Der Baum ist noch gut, er ist jung und in seiner schönster Kraft!"

"In spätestens zehn Jahren ist der Baum tot und fällt auf das Haus!"

"Wenn er in zehn Jahren morsch ist, dann kommt er eben in zehn Jahren weg."

"Wenn er in zehn Jahren erst wegkommt, ist es vielleicht zu spät. Dann kann es sein, dass er schon auf das Haus gefallen ist!"

"Wir lassen ihn neun Jahre stehen, und wenn er dann noch nicht morsch ist, kriegt er noch ein weiteres - sonst kommt er weg."

"Der Baum muss jetzt weg!"

"Was, verdammt, stört dich an dem Baum?"

"Er muss weg."

"Der Baum bleibt."

"Der Baum muss weg!"

Ein halbes Jahr später gehe ich wieder die Straße an den Rehbergen entlang. Ein heftiger Sturm ist über die Gärten gegangen und hat alle Bäume weggeputzt, die sich zu kühn in die Höhe wagten. Viele sind mit ihren Wurzeln aus der Erde gerissen und sehen so wüst aus, dass sie denken mögen, sie seien jetzt Sträucher.

"Wie Streichhölzer sind sie eingeknickt, was sag ich, wie diese billigen Zahnstocher, die sofort abbrechen und dann halb im Zahn stecken bleiben. Der Wald ist wie eingeschüchtert, man meint, sogar die Vögel hätten einen Schock davon getragen. Aber wissen Sie was? Mein Baum hat überlebt. Er hat überlebt. Stellen Sie sich das vor. Das Haus muss ihn geschützt haben. Oder ein Schutzengel vielleicht." Dann schaut sie kurz nach oben.

"Auch der Vogel kommt wie immer, er setzt sich auf den Ast, schaut nach oben und singt."

"Und wohin sind Sie unterwegs?"

"Ich geh zu meinem Mann. Der liegt jetzt dort." Und sie zeigt mit der Gießkanne in der Hand Richtung Friedhof.

"Ich habe nie verstanden, warum es ihm so wichtig war, dass der Baum wegkam, wo er doch wusste, wie sehr ich an ihm hing."


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