DAS LEBEN AUF EINEM SCHMUTZIGEN TELLER Die Erinnerungen der italienischen Journalistin Liana Millu an Auschwitz und das schmerzhafte Überleben zeigen den Holocaust aus weiblicher Perspektive
Angesichts der Zweifel, die im letzten Jahr an der Echtheit der KZ-Erinnerungen des Schweizer Schriftstellers Binjamin Wilkomirski laut wurden, sind erneut die ästhetischen und moralischen Besonderheiten von Holocaust-Literatur betont worden. Daß Wilkomirski in seinen 1995 erschienenen Bruchstücken eine Kindheit im KZ von Majdanek und Auschwitz beschreibt, die möglicherweise nur das Produkt seiner Phantasie ist, hat unter den Lesern und Kritikern seines vielfach preisgekrönten Werkes Verunsicherung und Empörung ausgelöst. Wieviel Fiktion »verträgt« die Holocaustliteratur? Darf der Holocaust von Betroffenen und Nichtbetroffenen mit dem gleichen autobiographischem Gestus beschrieben werden? Solche und andere Fragen beschäftigen die irrit
en die irritierten Leser. Die Gefahren liegen in der Rezeption, denn ist es nicht gerade die scheinbare oder heraufbeschworene Authentizität der beschriebenen Schrecken, die bei Lesern und Kritikern automatisch Betroffenheit erzeugt und den großen Erfolg solcher Texte bewirkt. Das zweifelhafte Angerührtsein, der »Schuldstolz«, wie ein Kritiker es nannte, ist aber möglicherweise oft nichts anderes als eine subtile Form der Abwehr. Diese Fragen erweisen sich bei der Lektüre der 1997 erschienenen Kurzgeschichten Der Rauch über Birkenau als obsolet. Denn die italienische Journalistin Liana Millu, die während des zweiten Weltkriegs im Widerstand aktiv war und nach Ausch witz deportiert wurde, zielt darin nicht auf die Betroffenheit durch ihr persönliches Schicksal, sondern beschreibt Situationen, in denen die spezifische Grausamkeit und Entmenschlichung von Auschwitz paradigmatisch erscheinen. In den bereits 1947 niedergeschriebenen und schon vor Jahrzehnten im Original erschienenen Geschichten wird das alltägliche Grauen der KZ-Haft an einzelnen Beispielen wie unter einem Brennglas fokussiert. Die Wahl der Kurzgeschichte für diese Momentaufnahmen unterstützt die Verdichtung wirkungsvoll und legt es gleichzeitig dem Leser nahe, Pausen bei der Lektüre einzulegen und angesichts des Schreckens innezuhalten.Primo Levi verweist in seinem Vorwort sehr zu recht darauf hin, daß alle sechs Erzählungen von spezifisch weiblichen Aspekten des Lebens der Gefangenen im KZ handeln, deren Situation aus verschiedenen Gründen noch um einiges schlimmer ist als die der Männer. Und in der Tat gehen die Geschichten in besonderer Weise auf die Gefühls- und Lebenserfahrung von Frauen ein und verleihen diesem Zeugnis dadurch seine Einzigartigkeit. Wenn Lili, der die Eifersucht ihrer Aufseherin zum Verhängnis wird, von deren Freund, dem deutschen Lagerkapo, als weibliches Wesen wahrgenommen wird, so zeigen sich an diesem Beispiel - trotz des tragischen Endes - auch das Potential und die Überlebensfunktion von (weiblicher) Eitelkeit. Die Geschichte erinnert an den Bericht eines amerikanischen Offiziers, dem bei der Befreiung des Lagers Bergen-Belsen aufgefallen war, daß sich die überlebenden Frauen mit der gleichen Gier auf Lippenstifte wie auf Lebensmittel stürzten.In den Mittelpunkt einer jeden Erzählung stellt Liana Millu eine Frau. Da ist Maria, die wider alle Vernunft ihre Schwangerschaft austragen will. Da sind Bruna, die ihren Sohn im benachbarten Quarantänelager entdeckt, und die Russin Zina, die ihr Leben aufs Spiel setzt, indem sie Ivan zur Flucht verhilft, denn er ähnelt ihrem von den Nazis ermordeten Mann. Das Barbarische der Vernichtung wird am Gang der schwangeren Frauen und Mütter in die Gaskammern auf besonders erdrückende Weise ins Bild gesetzt. Nur einmal kann sich eine Frau vor der Gaskammer retten, weil sie in einem jungen SS-Mann den Sohn einer Mutter anspricht. »Maria vom Wunder«, wie sie fortan genannt wird, hatte ihm auf der Schwelle zum Tod halbverückt vor Angst und vor Wut ins Gesicht geschrien: »Ich bin deine Mutter! Warum willst du mich umbringen? Du wirst doch deine Mutter nicht umbringen?«Zur Sprache kommt auch ein in den meisten KZ-Berichten bisher vernachlässigtes Kapitel spezifisch weiblicher Lagererfahrung: die sexuelle Ausbeutung weiblicher Häftlinge und die Seelenpein, die in der Möglichkeit liegt, sich als Frau das eigene Leben - zumindest vorübergehend - mit dem Körper erkaufen zu können. Die Gewissensqualen der Frauen, die sich auf diesen Handel einlassen, werden im Konflikt zweier Schwestern deutlich gemacht. Die 18jährige Lotti meldet sich zum »Puffkommando«, weil sie sich gegen den sinnlosen und ungerechten Tod auflehnt. Moralische Einwände läßt sie angesichts der Ausnahmesituation nicht gelten: »Im Lager durchwühlen wir die Abfallhaufen und lutschen an Knochen, die andere schon ausgespuckt haben, und da sollte ich das Leben verweigern, nur weil es mir auf einem schmutzigen Teller angeboten wurde?« Ihre todkranke Schwester Gustine verurteilt ihre Entscheidung und sagt sich von ihr los, erklärt sie für tot. Doch die schreckliche Realität von Auschwitz ist, daß Gustine als Rauch über Birkenau aufsteigen wird, während Lotti weiterlebt.In Die Brücke von Schwerin ist die Autorin der Vermittlung von Geschichte aus weiblicher Perspektive treu geblieben. Elmina, die Erzählerin gehört zu jenen Überlebenden, die nach der Evakierung der KZ's und der Befreiung wie Strandgut auf den Landstraßen Mitteleuropas zurückgeblieben sind und die sich nur noch mit letzter Kraft in die Freiheit schleppen. Der Fußmarsch zur »Brücke in Schwerin«, wo britische Soldaten für den Weitertransport sorgen sollen, wird für Elmina zu einer Reise in die Vergangenheit, die Brücke zum Symbol für den Übergang in ein neues Leben. Die langersehnte, mühsame Heimkehr wird begleitet von Kindheitserinnerungen, in denen sie sich ihrer Identität vergewissert. Die Gefühle bei ihrer Befreiung vergleicht sie mit der Euphorie, die sie empfand, als sie als junges Mädchen ihr Elternhaus verläßt: »Ich grub in meinem Gedächtnis, um den großen Tag heraufzuholen, jede einzelne Stunde jenes großen Tages, an dem ich einst mit demselben wunderbaren Freiheitsgefühl Âendlich!« gesungen hatte. (...) Gesagt, gesungen, getanzt hatte ich es an dem Tag, als ich das Haus meiner Tanten verließ, um so zu leben, wie ich es wollte, nicht so wie meine Familie es wünschte.« Wie ein roter Faden ziehen sich die Begrenzungen und Deformationen, die mit ihrer Rolle als Frau verbunden sind, durch den Strom der Bilder, von denen sie heimgesucht wird. Sexueller Mißbrauch, ungewollte Schwangerschaft, Abtreibung, gefühlsmäßige Ausbeutung und Unterdrückung durch Männer, das sind einige der zentralen Erinnerungen, die ihr der schmerzhafte Rückblick in die Vergangenheit aufdrängt. Nur die glückliche Zeit mit ihrem Geliebten Oal, der ebenfalls verhaftet wurde, bilden eine Ausnahme. Doch Elmina ahnt, daß sie ihn nie mehr wiedersehen wird. Wie von unsichtbaren Furien getrieben, bahnt sie sich ihren Weg in die Freiheit. Der Fußmarsch nach Schwerin gleicht einem Gang durch die Unterwelt, bei dem feindliche Mächte zu besiegen und zahlreiche Gefahren zu bestehen sind. Die Deutschen, denen Elmina begegnet, reagieren mit reflexhafter Abwehr. Hartherzig verweigern sie die nötige Hilfe und murmeln »das haben wir nicht gewußt« beim Anblick der eintätowierten Nummer. Als Elmina von Birkenau erzählt, ziehen sich die Täter auf ihr Selbstmitleid zurück. »Wir haben auch zu leiden gehabt. Oh, was haben wir gelitten!« Ganz andere Reaktionen zeigt Willem, der Holländer, dessen Frau durch die Deutschen umkam und der selbst im KZ war. Er kann und will die Deutschen nicht hassen, denn »der Haß auf etwas Unrechtes könne zutiefst unrecht sein«. Überhaupt gehört die Beschreibung der Begegnung von Elmina und Willem zu den eindrücklichsten und intensiv sten Passagen des Buches. Die schonungslose Beschreibung der zärtlich-hilflosen sexuellen Begegnung der beiden, die zwischen Tod und Leben schweben, spiegelt eine ungewohnt offene, krude und zugleich rührende Menschlichkeit. Ebenso ungewöhnlich und neu wie diese Beschreibung sind manche Bilder, mit denen Gefühle veranschaulicht werden. Die Verletzung, die Elmina als Kind erfahren hatte, als die Lehrerin ihr Judentum vor der Klasse zur Schau stellte, faßt die Autorin in das Bild eines verschrumpelten und zerknitterten Nylonhemdes »das mit dem heißen Bügeleisen in Berührung gekommen war.«Da die Lektüre von dem Spannungsbogen lebt, mit dem Elmina und damit auch die Leser dem Erreichen der Brücke entgegenfiebern, stellt sich angesichts des abrupten Endes Frustration ein. Das Ziel wird zwar erreicht, doch es entspricht nicht den hochgesteckten Erwartungen: »Es war absolut nicht die wunderschöne Brücke aus meinem Traum. Kaum konnte man das eine Brücke nennen.« In dieser Enttäuschung bahnt sich bereits die Unmöglichkeit der schmerzlosen Überwindung der Vergangenheit an. Sie deutet eine Realität an, mit der die Verfolgten und Geschundenen des Nationalsozialismus bis heute leben müssen.Liana Millu: Der Rauch über Birkenau. Verlag Antje Kunstmann, München 1997, 190 S., 32.- DM Liana Millu: Die Brücke in Schwerin. Verlag Antje Kunstmann, München 1998, 194 S., 32.- DM
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