Nun ist sie also selbst im "Traumcafé" angekommen. Dort im luftigen Kaffeehaus über den Wolken wird sie wohl die alten Freunde wiederfinden, die politischen Mitstreiter aus Prag, Egonek und Weiskopf, die Exilgenossen aus Frankreich und Mexiko, Anna Seghers und Theo Balk, und bei einer Tasse überirdischen Kaffees mit ihnen über Gott und die Welt plaudern. Franz Kafka, den wortkargen Himmelsbewohner aus ihrer Erzählung Traumcafé einer Pragerin, wird sie sofort in eine Diskussion über die deutschsprachige Literatur in Prag verwickeln und ihm stolz vom Literaturhaus für deutschsprachige Autoren erzählen, das auf ihre Initiative hin in Prag entstanden ist. Und ich stelle mir vor, wie Lenka den Himmel kritisch inspiziert. "No", wird sie sagen, dieses für sie so typische "No", mit dem sie stets ihre Anekdoten begann und in dem so viel von der ironischen Distanz enthalten war, mit der sie den zahlreichen unliebsamen Ereignissen ihres Lebens die Schärfe nahm. "No, bin ich schon mal hier, guck´ ich mir das an!" wird sie sagen, die Gäste im Jenseits interessiert und neugierig anschauen und sich dabei schon eine neue Geschichte ausdenken. Denn das Geschichtenerzählen war ihre Passion und damit hat sie sich über die schweren Stunden ihres Lebens und vor allem im Gefängnis gerettet. "Weggehen im Kopf" nannte sie das und wenn sie diese Geschichten erfand, bewegte sie sich aus der Realität in eine andere Welt und gewann auf diese Weise ein Stück Freiheit.
Die 1916 in Prag geborene und in einer zweisprachigen Familie aufgewachsene Autorin Lenka Reinerová erlebte im Prag der dreißiger Jahre noch die befruchtende Symbiose des Miteinanders von Menschen verschiedener Nationalität, nichtjüdischer und jüdischer Herkunft. Bereits als blutjunges Mädchen hatte sie Kontakt zur deutschen Emigrantenszene und wurde von F.C. Weiskopf, dem Redakteur der Arbeiter-Illustrierten-Zeitung, als Journalistin engagiert. Wie viele ihrer damaligen Mitstreiter musste sie sich 1939 auf eine lange unfreiwillige Wanderschaft ins "Anderswo" des Exils begeben. "Join the jews, see the world - schließ´ dich den Juden an und lerne die Welt kennen" mit diesem bitteren Witz kommentiert sie die absurde Situation der Emigranten, denen sie auf ihrer Flucht in Marseille und Casablanca begegnete und die das grausame Schicksal der Verfolgung in die entlegensten und exotischsten Winkel dieser Erde führte. So wie Lenka Reinerová selbst, die es zunächst nach Frankreich verschlug.
Aufgrund ihrer Aktivitäten im "Haus der tschechoslowakischen Kultur" wurde Lenka Reinerová im Herbst 1939 verhaftet und nach sechsmonatigem Gefängnisaufenthalt im südfranzösischen Frauenlager Rieucros interniert. In der Extremsituation der Einzelhaft im Pariser Frauengefängnis beginnt sie zu schreiben: "ein Kinderbuch, eine Art Detektivgeschichte mit ganz jungen Helden, ein Kinderkrimi ohne Gewalt und Blut." Und während ihres mehr als einjährigen Lageraufenthaltes verfasst sie Märchen und zahlreiche Liedertexte, die bei festlichen Anlässen im Lager zur Aufführung kamen. 1941 erhält sie ein Visum für Mexiko, doch die Fahrt ins rettende Exilland endet zunächst mit einer unfreiwilligen Zwischenstation in Marokko und dem Wüstenlager Oued Zem in der Sahara.
Mit der ihr eigenen unverwechselbaren Art, einer besonderen Mischung aus Ironie und unverwüstlichem Optimismus, sieht Lenka Reinerová in der Einzigartigkeit der Situation nicht die Bedrohung, sondern die Chance, ein ihr völlig unbekanntes Land kennen zu lernen. Statt zu verzweifeln sagt sie sich: "jetzt bist du in Afrika, jetzt guck´ dir das an." Im Dezember 1941 gelingt es ihr, das rettende Exilland Mexiko zu erreichen, wo sie den jugoslawischen Arzt und Schriftsteller Theodor Balk heiratet. In Mexiko bewegt sie sich im Kreis der deutschen kommunistischen Emigranten und nimmt an deren kulturellen Aktivitäten teil. Sie schreibt Reportagen für die Zeitschrift Freies Deutschland und arbeitet für die tschechoslowakische Exil-Botschaft.
1945 kehrt das Paar nach Europa zurück. Der Heimkehr folgt viel Bitterkeit und Enttäuschung. Anfang der fünfziger Jahre verbringt Lenka Reinerová als Opfer der stalinistischen Politik fünfzehn Monate in Untersuchungshaft. Anschließend wird sie mit ihrer Familie in die Provinz abgeschoben und erst 1964 rehabilitiert. Danach war sie lange Zeit verantwortliche Redakteurin der deutschsprachigen Monatszeitschrift Im Herzen Europas. Nach der Niederschlagung des "Prager Frühlings" erhält sie Publikationsverbot, wird aus der KP ausgeschlossen und verliert ihre Arbeit in einem Verlag. Sie wird zwar später rehabilitiert, doch der Schmerz und die Enttäuschung über die ungerechte Behandlung, den Verrat durch Genossen und vermeintlich Gleichgesinnte sitzen tief. Das zeigt sie in ihre Erzählung "Tragischer Irrtum und richtige Diagnose", in der sie ihre politische Verfolgung und ihre schwere Krebserkrankung miteinander in Verbindung bringt.
Ob das einmal gegen sie gefällte Urteil auf einem "bedauerlichen Irrtum" beruht oder aber die Realität spiegelt, am Ende steht für sie das gleiche Fazit: "Es gibt Dinge, die man nicht überleben kann, selbst wenn man es überlebt. Mit anderen Worten, die man nicht loswerden kann. ... Irgendwie gehen sie mit einem mit. Das ist im Leben nicht weg zu löschen." Einzig das Schreiben bedeutet "Bereicherung und Erleichterung des Lebens auch wenn man sich denn damit herumschlägt und es einen quält." So wie die immer wiederkehrende Frage, warum sie als einzige ihrer ganzen Familie überlebte. "Wieso gerade ich?"
Bei all dem hat sie nie das Leiden der anderen aus dem Blick verloren, in ihren autobiographisch gefärbten Texten wie zum Beispiel in Mandelduft (1998) wird das eigene Leben immer mit dem großen Ganzen verknüpft. Auch wenn in den letzten Jahren im Rummel um ihre Person zunehmend ihr kommunistisches Engagement und ihre kämpferische Lebenshaltung in den Hintergrund gedrängt wurden und man sie zu einer Ikone stilisierte. so bleibt eine große Genugtuung über diese nachgeholte Würdigung einer außergewöhnlichen Frau.
Denn erst gegen Ende ihres Lebens wurde sie von einer größeren Leserschaft entdeckt. Dabei hatte sie bereits lange Zeit vorher mit der Schriftstellerei begonnen. Grenze geschlossen, die Erinnerungen ans Exil, erschien schon in den fünfziger Jahren im Aufbau-Verlag, dem sie ihr Leben lang treu blieb. Und seit Beginn der 80er Jahre veröffentlichte Lenka Reinerovà dann kontinuierlich: Der Ausflug zum Schwansee (1983) Es begann in der Melantrichgasse (1985) und Die Premiere (1989). Im wiedervereinigten Deutschland erhielt sie zunehmend Aufmerksamkeit für ihre Bücher und Anerkennung für ihr Lebenswerk. Es begann die Zeit der Ehrungen und Preise: 1999 erhielt sie den Schiller-Ring der Deutschen Schillerstiftung, 2003 die Goethe-Medaille und schließlich 2006 das Große Bundesverdienstkreuz. Ihre Heimatstadt Prag verlieh ihr bereits 2002 die Ehrenbürgerschaft. Dass sie sich selbst aus dem Tschechischen übersetzt, wie es erläuternd auf dem Deckblatt eines ihrer Bücher heißt, hat sie übrigens stets sehr amüsiert.
In ihren literarischen Texten wird die Vergangenheit rückblickend relativiert, ihre Dramatik entschärft, in einem versöhnlichen "auch das ging eines Tages vorüber" aufgehoben. Als guter Geist ist dabei der von ihr immer wieder beschriebene "Hausengel" am Werk. "Der kommt, wenn er merkt, dass man selbst den guten Willen hat, sich nicht von einer bösen inneren oder äußeren Gefahr unterkriegen zu lassen, ganz allein damit jedoch nicht fertig werden kann." In diesem liebevoll, versöhnlichen Blick auf den Alltag gepaart mit einem unnachahmlich ironischen Ton, liegt die besondere Qualität ihres schriftstellerischen Werks, dieser großen Dame der deutschsprachigen Literatur Prags, die am vergangenen Freitag im Alter von 92 Jahren in Prag verstorben ist.
Mechtild Gilzmer ist Gastprofessorin für Französische Philologie an der TU Berlin.
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