Die Europäische Union hat mit dem Kopenhagener Gipfel 2002 die Beitrittsperspektive der Türkei bestätigt. Auch wenn kein präziser Zeitrahmen vereinbart wurde, erschien das Votum doch als deutliches Signal dafür, dass sich die EU als politische Union definiert und nicht als spirituelle Familie. Die Diskussion über die Akzeptanz und Integrierbarkeit der kulturellen Identität des Kandidaten wird nicht nur äußerst kontrovers geführt, sie hat auch ihren Höhepunkt noch nicht erreicht.
Nicht nur der moderne türkische Nationalstaat, sondern auch die meisten anderen heutigen Staaten des Nahen Ostens sind größtenteils aus den Trümmern des Osmanischen Reiches entstanden. Ihre Territorialgrenzen haben bekanntlich mit der Vorgeschichte der dort lebenden Völker nichts zu tun, sondern wurden willkürlich durch die Siegermächte des Ersten Weltkrieges festgelegt. Dabei blieben einige Völker wie die Kurden und Armenier auf der Strecke, andere - die Israelis zum Beispiel - sahen sich in die Region transplantiert. Die Staats- und Gesellschaftsordnung des Osmanischen Reiches und seine Kultur wurden in einem enormen Gewaltakt zerstört und zur Bedeutungslosigkeit verurteilt. Diese kollektive Gewalterfahrung hatte die Wirkung eines Traumas in kollektiver Dimension. Sie prägt seit jeher die Fremd- und Selbstwahrnehmung der Völker des Nahen Ostens. So legte Jürgen Habermas 2001 in seiner Rede bei der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels dar, dass die Wurzeln des muslimischen Terrorismus vor allem in den Gefühlen der Erniedrigung und weniger in der Armut der muslimischen Welt zu suchen seien.
Im 20. Jahrhundert hat für die muslimischen Länder des Nahen Ostens der Übergang von traditionellen Gemeinschaften zu standardisierten und anonymen Massengesellschaften seinen Anfang genommen. Dieser grundlegende soziale Strukturwandel fand in dieser Region ebenso statt wie auf dem europäischen Kontinent - nur eben zeitlich verschoben. Während die kulturelle Standardisierung sich in Europa im Namen einer Nationalkultur durchsetzte, die als solche den Gegenstand der gesellschaftlichen Selbstverehrung ausmachte, vollzog sich dieser Wandel bei den muslimischen Ländern vornehmlich in einer Weise, bei der die Religion als zentrales Element gesellschaftlicher Selbstgestaltung - wenn überhaupt - wenig an Stärke verlor. (*) Fand in Europa des ausgehenden 19. Jahrhunderts mit dem sozialen Strukturwandel der Industrialisierung eine Neuorganisierung kollektiver Emotionalität - sprich: eine Verschiebung der emotionalen Bindung von der Religion auf die Nation - statt, blieb und bleibt eine solche Entwicklung in den meisten Ländern des Nahen Ostens weiterhin aus.
Ein Blick auf den öffentlichen Diskurs, in die Schulbücher und Medien dieser Länder reicht aus, um zu bestätigen, dass die Sozialisationsinstitutionen Familie und Schule nicht nur Instrumente waren, um eine Nationalkultur zu errichten, sondern auch sozialer Generierungsort eines kollektiven Traumas. Hier liegt einer der wichtigsten Gründe, warum sich innerhalb dieser nicht historisch gewachsenen Territorialstaaten der muslimischen Welt mit einigen Ausnahmen keine ausgeprägte staatsfähige Nationalkultur entfalten konnte, wie sie für eine säkulare Staats- und Gesellschaftsordnung im modernen Europa unabdingsbar war. Betrachtet man den Widerstand der muslimischen Welt gegen eine säkulare Staats- und Gesellschaftsordnung vor diesem Hintergrund, so scheint er vornehmlich sozialpsychologischer Natur zu sein.
Die Historiker der westlichen Welt neigen dazu, den Islam gar als unvereinbar mit der Säkularisierungsidee der europäischen Moderne zu erklären und die Beständigkeit der traditionell-religiösen Vorstellungsstrukturen aus dem inneren Wesen des Islam herzuleiten. So finden in der Debatte über die angebliche Unvereinbarkeit der muslimischen Länder mit der Säkularisierungsidee die sozialpsychologischen Zusammenhänge kaum Beachtung. Aber der Umstand, dass der Islam die Moderne nicht hervorgebracht hat, ist noch lange keine Begründung dafür, dass er mit der Moderne unvereinbar sei.
Die Türkei ist ein Land, in dem die Reformbewegung zur Modernisierung des Landes auf eine lange Geschichte zurückblickt. Sie unterscheidet sich mit ihrer säkularen Staatsordnung fundamental von den meisten anderen muslimischen Ländern. Die Gründer der modernen Türkei hatten die französische Revolution von 1789 gut studiert und sehr früh erkannt, dass die breite Masse der Bevölkerung nicht nur durch politische und kulturelle Aufklärung für die Sache der Nation zu gewinnen war. Auch gingen sie davon aus, dass die junge Republik nicht über die Voraussetzungen verfügte, den Übergang in die Moderne ohne die rigorose Unterdrückung des Islam in allen sozialen Lebensbereichen zu vollziehen und ihn auf eine private Angelegenheit des Einzelnen zu reduzieren. Es folgte daher eine fundamentale, mit Gewalt durchgeführte Zerstörung des traditionellen Symbolkomplexes als deren Facetten man beispielsweise das Verbot der traditionellen türkischen Musik (die offizielle Geschichtsschreibung sprich von der Musikrevolution), die gesetzliche Einführung von Nachnamen, das Verbot von religiösen Feiertagen, die Aufhebung des Kalifats, die Einführung des lateinischen Alphabets oder auch das Verbot des arabischen Gebetsrufs nennen kann. Alle Bereiche der Kunst und Literatur, von der Bildhauerei bis zur Musik, wurden zum Zweck eines national kodierten Symbolsystems instrumentalisiert und als Elemente einer türkischen Nationalkultur neu aufgefasst. Das neue kulturelle Symbolsystem sollte das religiöse Selbstverständnis durch ein nationales ersetzen, die Nationalkultur anstelle der Religion als primäre Quelle gesellschaftlicher Sinnstiftung dienen.
Der französische Soziologe Emile Durkheim, dem die Gründer der türkischen Republik große Teile ihres Gesellschaftsbildes verdanken, meinte, dass die Säkularisierung in der europäischen Moderne nur insofern gelang, als anstelle der Gottesverehrung die Selbstverehrung der Gesellschaft trat. Heute - mehr als nahezu 80 Jahre nach Gründung der modernen Republik - basiert die soziale Integration in der Türkei tatsächlich auf der Selbstverehrung der Gesellschaft. Die Mehrheit der Bevölkerung bekennt sich zur säkularen Gesellschaftsordnung, so dass die Konstitution der Nation als Ehe zwischen Staat und Gesellschaft, zwischen Politik und Kultur, wohl gelungen ist.
Doch auch wenn ein Wandel der sozialen Integration nach dem Vorbild der europäischen Moderne stattgefunden hat, umfasst er nicht die Gesamtheit der Bevölkerung des Landes. Unter den Bedingungen des Zerfalls des Sowjetunion und der rasanten Entwicklung der Kommunikationstechniken gelang es einer politischen Gruppierung, den Islam als eine Art politischer Ideologie wiederzubeleben. Dabei spielte die Tatsache, dass die Trennung zwischen Staat und Gesellschaft nicht aus der inneren Dynamik des Landes hervorging, ebenso eine Rolle wie der politische Wettstreit um die Wählerschaft. Die gegenwärtig regierende AKP ist ein Produkt dieser Umstände. Und es ist noch nicht eindeutig zu erkennen, ob sich die Elite der Partei tatsächlich mit der säkularen Staats- und Gesellschaftsordnung arrangiert hat. Ist dies nicht der Fall, so ist es wahrscheinlich, dass die AKP, nicht zuletzt unter dem Druck des Militärs, das Feld räumen muss, so wie ihre Vorgänger aus der Wohlfahrtsparteipartei (Refah) des einstigen Premiers Erbakan. Wenn doch, so wird dies für die AKP eine historische Chance sein, sich nicht nur als eine politische Reformpartei zu etablieren, sondern darüber hinaus eine in der muslimischen Welt vorbildliche Rolle zu übernehmen, die von universaler Bedeutung sein kann.
Im Gegensatz zur Türkei ist es den meisten muslimischen Ländern nicht gelungen, das Verhältnis zwischen Politik und Religion, Staat und Gesellschaft, dem industriellen Zeitalter gemäß neu zu regulieren. Während europäische Völker über eine mögliche Entkoppelung der politischen Willensbildung von Nationalkulturen diskutieren, ist in den meisten muslimischen Ländern weiterhin keine ausgeprägte staatsfähige Nationalkultur vorhanden. Daher ist es nicht übertrieben zu sagen, dass sich in diesen Ländern der Konflikt zwischen Gesellschaft und Staat mit der fortschreitenden Globalisierung noch weiter zuspitzen wird. Es scheint kaum möglich zu sein, dass diese Entwicklung für Europa ohne Folgen bleibt. Um so bedeutsamer wird es, dass die Westorientierung der Türkei, die derzeit trotz enormer Fortschritte von den rechtsstaatlichen Standards Europas noch weit entfernt ist, mit einer Integration in die EU vollendet wird. Denn dann könnte die Türkei als gelungenes Beispiel einer säkularen Staats- und Gesellschaftsordnung in einem muslimischen Land dienen, wie einst - mit anderen Vorzeichen - die europäischen Länder für die Türkei.
Es deutet alles darauf hin, dass Ankara die Bestätigung einer Beitrittsperspektive in die EU als Zeichen der historischen Versöhnung interpretiert. Genau darin liegt die Chance, die im kollektiven Gedächtnis tief verankerte eingangs erwähnte gesellschaftliche Gewalterfahrung rational zu verarbeiten, um somit eine Dynamik zur Selbstgestaltung in Gang zu setzen. Die Aufnahme der Türkei würde deshalb nicht die Entkernung Europas bedeuten, sondern die Überwindung der kollektiven Hassliebe, die die Türkei den europäischen Völkern entgegenbringt. Und das gilt möglicherweise auch für die gesamte muslimischenWelt. Wenn europäische Außenpolitik nicht nur darauf zielt, Macht- und Einflussbereiche zu erweitern, sondern auch politische Stabilität in den umgebenden Regionen zu fördern, so ist es nicht einleuchtend, warum die EU-Aufnahme der Türkei die Union in außenpolitische Irrelevanz stürzen soll, wie teilweise behauptet wird. Im Gegenteil, mit einem solchen Schritt wird die EU zunächst die politische Stabilität in der Türkei unterstützen, wie das auch in den südeuropäischen Ländern Griechenland, Spanien und Portugal der Fall war, die kurz nach dem Sturz autoritärer Regimes aufgenommen worden sind. Darüber hinaus wird die EU mit einem muslimisch geprägten Mitglied enorm an Einflusskraft auf die Länder des Nahen Ostens und darüber hinaus der muslimischen Welt gewinnen.
Natürlich ist es kaum möglich, ein politisches System auf rein rationalen Prinzipien zu gründen. Das symbolische Repräsentationssystem einer Gesellschaft bildet den zentralen Referenzpunkt ihres Zusammenhalts, der kollektiven Identität. Symbolische Konnotationen des kulturellen Lebens mit ihrem kognitiven und emotionalen Inhalt stellen einen Kernbestand der menschlichen Gemeinschaft dar, sie transformieren die Politik von konkreten Aktivitäten oder Maßnahmen in eine Imagination des Alltags: Erst wenn Diskurs und symbolische Repräsentation einander inspirieren, wirkt das Politische überzeugend und kommt bei seinen Adressaten an.
Auch die EU kann, will sie als Gesellschaftsentwurf nicht utopisch bleiben, auf ein solches symbolisches Repräsentationssystem nicht verzichten. Der Euro, die europäische Fahne oder der Europatag stellen in diesem Zusammenhang bereits Fragmente eines kulturellen Symbolsystems dar, das im Begriff ist, zu einem sinnstiftenden, sinnvollen Ganzen zu werden. Eine entscheidende Frage ist, welche Gestalt dieses kulturelle Symbolsystem der neuen Gemeinschaft in Zukunft annehmen wird. Bewahrt es das Moment einer universalen Offenheit in sich oder strebt es doch an, eine Besonderheit nach dem Vorbild der Nationalkulturen zu begründen und bliebe damit exklusiv.
Sollte sich Europa für die erste Variante entscheiden, so würde das entsprechende Symbolsystem die emotionale Grundlage einer kollektiven Identifikation bilden und stünde mit einer politischen Kultur in Einklang, die soziale Integration (im Sinne von Habermas) nicht auf einem ethnischen, sondern einem moralischen Universalismus zu begründen sucht. In einem solchen Europa hätte die Türkei einen Platz, schließlich fehlt es ihr nicht an nationalen Monumenten, mit denen sie die Serie der Euro-Münzen und -scheine in der Kollektion der Sammler bereichern könnte.
Der Autor ist Soziologe und Sozialpsychologe an der Universität Hannover. Er wurde 1970 im kurdischen Teil der Türkei geboren und lebt seit 1991 in Deutschland.
(*) Diese Auffassung wird auch von Bernard Levis und Ernst Gellner vertreten.(klein>
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