Wie in der Gaststätte Schröder, im Proberaum, bei jeder Autofahrt und jeder Ansammlung, bei der mehr als drei Personen zusammenkamen, herrschte auch hier auch an der Aral-Tankstelle Witzzwang. Eine Wortmeldung, bei der am Ende nicht laut wiehernd gelacht werden konnte, musste auch hier als durchgefallen gelten.“ Moritz von Uslar, Deutschboden, Seite 307
Sowohl der Erzähler eines Witzes wie auch sein Adressat müssen, wie schon Sigmund Freud herausgefunden hat, reichlich psychische Energie aufwenden, um den Witz als Spiegel seiner Wirklichkeit zu empfinden. Die Wirklichkeit der Dauer-Arbeitslosen, Geringbeschäftigten und Hartz IV-Empfänger in Deutschboden muss also schon sehr trist sein, wenn sich der Alltag nur noch durch den von Uslar festgestellten „Witzzwang“ bewältigen lässt. Nun ist das Gesagte für einen Witz weniger wichtig als der Affekt, den er auslöst. Also das Lachen. Unbändiges Lachen, Lachsalven, Schreilachen. Lachen – das lässt sich auch an Moritz von Uslars „teilnehmender Beobachtung“ ablesen – hat immer mit Lust zu tun, ist ein narzisstischer, zuweilen auch ein sadistischer Prozess, der auf Kosten anderer geht. Lachen ist verbunden mit der regressiven Lust, in die Stimmung unbeschwerter Infantilität zurückzukehren. Übers Lachen wird kein Sinn gestiftet, sondern Sinn zerstört.
Doch womit lässt sich diese Lust an der Zerstörung der bestehenden Ordnung am besten befeuern? Antwort: Mit Alkohol natürlich. Und wo kann man diesen Lachorgien am besten fröhnen? Noch besser als an der „Aral-Tankstelle“? In der Kneipe natürlich. Hier treffen sich lange befreundete oder auch wildfremde Menschen und bilden einen meist männlichen Mikrokosmos der Gesellschaft.
Selbständiges Genre
Die Literatur, weniger die hochkulturelle denn ihre populär-komische Richtung, hat diesen beiden Einsichten auf ihre Weise Rechnung getragen und die Kneipe zu einem mythologischen Aufenthaltsort befördert. Fröhliche und depressive Trinker, aggressive und leutselige Zecher haben seit Jahrzehnten einen Stammtisch in der deutschen Belletristik. Der Kneipenroman hat sich zu einem selbstständigen Genre ausgebildet. Mit seinem sechsten Kapitel von Deutschboden, das den Besuch in der „Gaststätte Schröder“ schildert, schließt der Reporter, das alter ego des Popjournalisten Moritz von Uslar, an bekannte literarische Vorbilder an.
„Es war Liebe auf den ersten Blick gewesen“: Wenn sich der Reporter dann an einen langen Abend, der zu einer endlosen Nacht wird, in der die Zeit zum Stillstand gekommen scheint, erinnert, geht es ihm nicht anders als Eckhart Henscheids Jung-Rentier Moppel in Geht in Ordnung – sowieso – genau (1977) oder Frank Schulz’ Anzeigenblatt-Journalisten Bodo Morten in Morbus Fonticuli oder Die Sehnsucht des Laien (2001). Nicht zu vergessen Sven Regeners Kreuzberger Schankwirt Herr Lehmann (2001). Die Kneipe ist diesen Figuren zur zweiten Heimat geworden, der Blick auf die kleine oder auch große Außenwelt lässt sich nur mit einem Grundpegel an Alkohol im Blut ertragen.
Bei aller Unterschiedlichkeit der Situierung dieser – ohne jeden Anspruch auf Vollständigkeit genannten – Trinker-Gestalten fällt auf: Sie sind eher randständige Existenzen in einem Kosmos der chronischen Schluckspechte und der hoffnungslosen Quartalssäufer. Sind eher Chronisten denn Aktivisten in einem tollen Geschehen. Handeln weniger als dass sie gehandelt werden. Wie etwa Regeners Frank Lehmann, der immer nur „Herr Lehmann“ genannt wird und der sich diese Objekt-Behandlung ebenso beharrlich wie erfolglos verbittet. Oder Henscheids Erzähler Moppel, der ein Mann der verpassten Gelegenheiten ist. Geradezu tragische Dimensionen nimmt dies exzessive Leben bei Schulzens Bodo „Mufti“ Morten an. Der wird in zu einem Fall für die geschlossene Anstalt, nachdem er an permanenter Über- und Unterforderung seiner Selbst gescheitert ist.
Witz-Marathon
Der Unterschied zwischen diesen Gestalten zum Reporter in Deutschboden liegt auf der Hand. Dessen Einsatz ist bescheiden, sein Risiko hält sich in Grenzen: Er hält sein Olympus-Aufnahmegerät mal in diese, mal in jene Richtung, um bloß keinen Gag und keine Geschichte zu verpassen. Er ist ein geduldeter Zuschauer, ein Fremder, der nicht mal dem „beinhart und schnell“ gesprochenen regionalen Dialekt folgen kann. Nein, dieser Gast leistet keinen aktiven Beitrag zum Witz-Marathon der Kleinstadt – und doch ist er in den Augen der anderen komisch. Geschuldet ist dies seinem Auftreten. Dem Hütchen, das er ständig trägt und in der Mark Brandenburg ähnlich auffällig wirkt wie die schwarzen Melonen der Blues Brothers. Der Reporter borgt sich seine Kleidung, er verkleidet sich.
Auffällig wird er durch sein elegantes Diktiergerät, dessen Funktion immer wieder aufs Neue erklärt werden muss. Und dem eierschalfarbenen Fiat 500, der – typisch für Uslars selbstironische Enthüllungsattitüde – auch noch gesponsert sein soll. Zumindestens in den Augen des Lesern wird dieser Reporter der Postmoderne vollends dann zur „Witz-Figur“, wenn er sich seiner unerwiderten Neigung zum Boxen hingibt. Zwei Haken, ein Niederschlag markieren den dramatischen Höhepunkt von Deutschboden und leiten das schiedlich-friedliche Ende des Ausflugs ein.
„Ich werde hier verrotten!“
Dieser Reporter aus Oberhavel alias Hardrockhausen alias dem nordbrandenburgischen Städtchen Z. – dessen Namen indiskret-neidische Kollegen von der Welt neulich ergoogelt haben –, dieser Reporter ist als literarische Figur nur mäßig spannend. Er erlebt die Kneipe nicht als lebenslängliches Schicksal, er muss nicht in der Provinz ausharren. Er ist ein von vornherein zeitlich begrenztes Abenteuer, eine Wette mit sich selbst und den Kumpels aus dem Berliner Luxus-Grill.
Wichtig an diesen Geschichten aus Brandenburg ist, was der Reporter Uslar im Handgepäck mitgebracht hat an Einsichten und Erkenntnissen. Berührend ist seine Begegnung mit Speedy alias Marco Kottschek, dem wohl einzigen Schwarzen von Oberhavel, Sohn eines bei seiner Geburt schon abhanden gekommenen Mosambikaners. Ein Treffen, das erst nach mehreren Anläufen klappt, bei dem Uslar wie ein unsicherer Freier auftritt und dem Jungen 50 Euro Interview-Honorar gleich zu Beginn in die Hand drückt. Was soll man mehr an der Haltung von Speedy bewundern? Den Optimismus, mit dem er seinen Alltag in den alten, verlassenen Ziegelei-Kasernen schildert oder den Fatalismus, mit dem er seinem Leben ins Auge sieht: „Ich werde hier verrotten.“
Solche Passagen liest man gerne, wie sich überhaupt das ganze Buch gut liest – bis man zu den Klassikern der Gattung greift: Die erzählerische Kraft des Moritz von Uslar ist einfach nicht zu vergleichen mit der Sprachgewalt eines Eckart Henscheid, nicht mit dem Sprachwitz eines Frank Schulz. Hier wird weder die große politische Bühne oder die Philosophiegeschichte von Nietzsche bis Deleuze in die Kneipe geholt. Hier gibt es keine satirischen Vergleiche über das bevorstehende „Ende der Schwerindustriellen wie der Schwerintellektuellen“, stattdessen geht es proletarisch ausgenüchtert zu, da hilft auch nicht die soundsovielte Molle Bier im „Schröder“. „Das Rauschen des Lebens auf dem Land“, das den Oberpfälzer Henscheid ein Leben lang fasziniert hat, ist bei Uslar einer anhaltenden Windstille gewichen.
In der dritten Person
Der Autor von Deutschboden schützt für seinen Reporter keine Belesenheit und Intellektualität vor, darin ist er ganz dem Stil amerikanischer hard-boiled-Schriftsteller verpflichtet. Sein Stil ist beschreibend und weitgehend chronologisch aufgebaut. Einziger dramaturgischer Kunstgriff ist die Klammer von Prolog und Epilog in der Berliner Champagner-Bar. Der gleiche Ort, die gleichen Freunde und am Ende das Gefühl, jetzt das auf dem Diktiergerät Festgehaltene niederschreiben zu müssen. Seine größte Enthüllung ist, dass es das kultisch-komisch verehrte Kaff Deutschboden gar nicht gibt. Das Straßenschild knickt weg, Häuser finden sich keine. Deutschland – ein Raum ohne Boden, eine Fiktion gar?
Uslars direkte Schreibtechnik lässt auch keinen Vergleich mit einem mäandernden Frank Schulz zu. Dessen Kunstgriff besteht darin, die angeblich geheimen, und erst nach Bodo Mortens Einweisung in die Psychiatrie gefundenen Notizbücher zu veröffentlichen. Die Form des Tagebuchschreibens in Deutschboden ist dagegen sehr simpel und direkt. Der Autor schreibt von sich als Reporter mal in der dritten Person, aber meist sogar in der Ich-Form.
Damit reiht sich Deutschboden in eine lange Reihe aktueller, deutscher Literatur ein, die in der gleichen Haltung von Unmittelbarkeit geschrieben ist. Der Schriftsteller erzählt aus der Ich-Perspektive, er berichtet aus seinem kleinen Bereich der eigenen Wahrnehmung. Eine Form, die meist leicht zugänglich und einfühlsam geschrieben ist, die manchmal über die unerschütterliche Lakonie, wie bei Regener, ihren eigenen Sound entwickelt, und die die Zeit-Literaturkritikerin Iris Radisch unlängst etwas despektierlich „Plapperliteratur“ genannt hat. Eine Literatur in einfachen Sätzen, ohne jeden formalen Ehrgeiz, die nicht stören will und deren Flughöhe so niedrig wie möglich ist. Was sehr abschätzig klingt, aber durchaus ambivalent zu verstehen ist. Denn das stolze Beharren auf einer inneren literarischen Sprach- und Klangwelt, die ihre eigene Hermeneutik entfalten soll, habe die Literatur in eine Sackgasse geführt.
Kleinstadthelden
So verstanden, ist Uslars Buch gewiß keine große Literatur, aber doch ein sehr interessanter literarischer Wegweiser in eine Welt der alten DDR, die von Vorurteilen und mit Ängsten besetzt ist. Und was lernen wir daraus? Dass Oberhavel und mit ihm weite Landstriche der Republik keine Domäne dumpfbackiger Rassisten sind, eher verstehen sich Raoul Co. als kleine Ich-AG, wenn auch ohne jedes Startkapital. Andererseits sind diese Gebiete von einem Machismo durchzogen, wie man ihn kaum für möglich gehalten hätte.
In Deutschboden spielen Ausländer und Frauen eine randständige Rolle. Die einen gibt es nicht, die anderen halten sich in einer anderen Sphäre als der von Kneipe und Tanke auf. Frauen, junge Frauen zumal, gehen offenbar ihre eigenen Wege. Und wenn sie es nicht tun, sondern an den Kleinstadthelden hängen, dann wissen sie doch sehr genau, dass sie in der Rangordnung erst nach den Autos kommen. Es spricht Bände, dass Uslar erst gar nicht die Anstrengung macht, mehr als ein paar wenige zu interviewen. So gesehen, ist Deutschboden ein klassisches Stück Jungs-Literatur. It’s a man‘s world. Die Frage, wie und worüber eigentlich Frauen lachen, bleibt bei diesem Blickwinkel unbeantwortet. Aber spekulativ gefragt: War es nicht genau das, was Uslar an seinem Ausflug in die unzivilisierte Wildnis interessiert hat? Die Hoffnung, auf eine solche grobianische Männlichkeit ohne schlechtes Gewissen zu treffen. Andere suchen so etwas in den osteuropäischen Ländern, wo sie noch reicher fündig werden. Soziale Studien sind immer auch Geschlechterstudien.
Michael André ist Filmdramaturg. Er war schon häufiger mit Literaturverfilmungen befasst, so mit der Verfilmung von Sven Regeners Neue Vahr Süd, die am 1. Dezember in der ARD zu sehen ist
Deutschboden. Eine teilnehmende BeobachtungMoritz von Uslar Kiepenheuer & Witsch 2010, 378 S., 19,95
Herr LehmannSven Regener Roman, Goldmann TB 2003, 288 S., 8,95
Morbus Fonticuli oder Die Sehnsucht des Laien Frank Schulz Eichborn 2002, 766 S., 34,90
Geht in OrdnungSowiesoGenau, aus: Die Trilogie des laufenden Schwachsinns Eckhart Henscheid nur noch antiquarisch erhältlich
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