Das also ist die israelische Bourgeoisie, Tommy Lapids "ausgebeutete Mittelklasse", der "Fußabtreter der Nation" - dem Leidensklub der Entrechteten gehören an diesem Abend in Ramat Hascharon leicht übergewichtige, gutgekleidete Männer in den Vierzigern und Fünfzigern an, durchsetzt von ein paar Studenten hinten im Saal. Kippahs sieht man aus verständlichen Gründen nicht. Eine Wahlveranstaltung als Heimspiel sozusagen, denn in Ramat Hascharon - einem wohlhabenden Vorort Tel Avivs - residiert die säkularisierte obere Mittelschicht; jene Wählerklientel, auf deren Stimmen Tommy Lapids Shinui-Partei (Shinui bedeutet Wechsel) bei den anstehenden Wahlen rechnen kann. Unter höflichem Applaus tritt der "dicke alte Mann", wie er sich selbst gern nennt, vor sein Publikum. Er spricht, wovon er immer redet: den ultra-orthodoxen "Schmarotzern", der politisch unterrepräsentierten Mittelklasse und seiner Vision eines freien Marktes. Da spricht ein Charismatiker, der political correctness meidet, was seine Hörer nicht im Geringsten stört. Shinui vertrete nun einmal nicht die sefardische Mutter an der Armutsgrenze - Shinui vertrete Frau Levi aus Ramat Hascharon, sagt Lapid.
"Es geht mir um die Mitte unserer Gesellschaft, die hart arbeitet und gut leben möchte, die aber 60 Prozent ihres Einkommens an den Staat abgeben muss, während die Orthodoxen ihre Kinder nicht zur Armee, sondern in religiöse Schulen schicken und von unseren Steuern leben. 684 Millionen Schekel steckt die Regierung jährlich in diese Anstalten. Woher kommt das Geld? Wer muss für die 3,5 Milliarden aufkommen, die unserer Wirtschaft jedes Jahr entgehen, weil die Charedim nicht arbeiten?" Jemand ruft "Wir!" - zustimmendes Raunen durchzieht den Saal.
Sind das wirklich die Themen, die Israel im Winter 2003 beschäftigen? Teilweise scheint es so, denn Umfragen zufolge werden nach der Wahl nicht wie bisher sechs, sondern bis zu 17 Shinui-Abgeordnete in der Knesset sitzen, damit könnte die Partei Lapids nach Sharons Likud und Amram Mitznas Arbeitspartei drittstärkste Kraft werden, vor der linksliberalen Meretz-Partei und vor - das wird Lapid ein besonderer Triumph sein - der ultra-orthodoxen Schas-Partei. Seit Gründung des Staates Israel konnte kein Premier ohne Duldung oder Koalitionsbeteiligung der Ultra-Orthodoxen regieren. Ob Begin, Rabin oder Netanjahu - alle waren sie auf deren Unterstützung angewiesen. Und die hatte ihren Preis. Ein großer Teil der orthodoxen Gemeinschaft arbeitet nicht, zahlt keine Steuern, lebt von Sozialhilfe, ist vom Militärdienst befreit und verlangt vom Staat Unsummen für ihre Jeshivot - deren Seminare rein religiös gehalten sind und vom Bildungsminister nicht beeinflusst werden dürfen.
Obwohl es seit Jahren zum guten Ton unter den großen Parteien gehört, im Wahlkampf anti-orthodoxe Gesetze zu versprechen, scheitert dieses Vorhaben danach regelmäßig an den Mehrheitsverhältnissen. Das könnte diesmal anders sein. Schas hat sich mit internen Querelen selbst geschwächt und wird vermutlich vier bis acht der bisher 17 Knesset-Sitze verlieren. Hieß es sonst "Keine Mehrheit ohne die Orthodoxen!", könnte es bald heißen "Keine Mehrheit ohne Shinui!". Lapid hat - wie schon bei den Wahlen 1999 - angekündigt, unter keinen Umständen einer Koalition beizutreten, zu der auch Schas zählt. Im Gegensatz zu Arbeits- und Meretz-Partei hat Lapid Wort gehalten und so an Glaubwürdigkeit gewonnen. Das pragmatische Argument des Meretz-Chefs Jossi Sarid, er säße lieber in einer Regierung mit der Schas-Partei, wenn sie einen Friedensvertrag mit den Palästinensern zustande brächte, als in einer säkularen Regierung, die auch orthodoxe Soldaten in die besetzten Gebiete schickt, klingt heute - nach dem Desaster des Friedensprozesses - wenig überzeugend. Lapids Wunschregierung ist nun eine Große Koalition mit Shinui, der Arbeitspartei und Sharons Likud. Eine Linksallianz mit der Arbeitspartei, Meretz und den arabischen Parteien schließt er aus.
Der Shinui-Chef tut alles, um seine Partei als "demokratisch, liberal und europäisch" darzustellen und sich selbst als einen das Schachspiel liebenden Intellektuellen, der aufklärerisch gegen die dunklen Mächte der Orthodoxie vorgeht und Politik als "Kunst des Möglichen" neu definiert. Dass israelische Intellektuelle an dieser Selbstbeweihräucherung Anstoß nehmen, hat vorzugsweise mit Lapids beruflicher Vergangenheit zu tun.
Yosef ("Tommy") Lapid, geboren 1932 in einem von Ungarn kontrollierten Teil Jugoslawiens und während der deutschen Okkupation mit seiner Mutter im Ghetto von Budapest interniert, hat eine beispiellose Karriere als Journalist vorzuweisen. Er war Kommentator der Tageszeitung Ma´ariv, später Direktor des staatlichen Fernsehkanals, landesweit bekannt als Interviewer in der TV-Talk-Show Popolitika in den achtziger Jahren. Schon damals mied er political correctness, wenn in seinen Moderationen der Vorschlag auftauchte, als Vergeltung für Selbstmordattentate in palästinensischen Städten Autobomben zu platzieren oder Homosexuelle und Feministinnen in Israel rücksichtslos zu reglementieren. Oder den "Neuen Historikern", die auf eine kritische Reflexion von Dogmen jüdischer Geschichtsschreibung bedacht waren, zu attestieren, sie würden "ihren Kopf in die eigene Scheiße stecken". Heute sagt er dazu: "Ich habe nie etwas gesagt, was ich nicht meinte. Ich habe eben das elektronische Medium zu nutzen gewusst." Als er vor den Wahlen vom Mai 1999 gebeten wurde, den Vorsitz der vor sich hinsiechenden Shinui-Partei zu übernehmen, zögerte er nicht und gewann mit Charme, Charisma und scharfer Rhetorik sechs Mandate, die ihm niemand zugetraut hatte.
Lapid kämpft für ein westliches Israel, und obwohl er jeglichen Rassismus von sich weist, fühlen sich viele sefardische Juden an die Anfänge des Staates erinnert, als eine europäische Elite die einwandernden orientalischen Juden mit Verachtung bedachte und so schnell wie möglich europäisieren wollte. Vielfach werden inzwischen Lapids Aggressionen gegen Schas als unverhohlener Rassismus verurteilt. Der Angegriffene reagiert in der Regel mit Erklärungen wie: "Es geht hier um die Existenz des Staates Israel. Wir haben hart gearbeitet und sind ein hoch technologisiertes westliches Land geworden. Nur wenn wir diesen Standard halten, haben wir eine Überlebenschance im Nahen Osten. Amerika wird auf Dauer keinen ultra-orthodoxen Staat mit religiöser Gesetzgebung unterstützen."
Was hat Lapid zur Lage in den besetzten Gebieten zu sagen? Zu einem palästinensischen Staat? Wie gedenkt er, weitere Selbstmordattentate zu vermeiden? Welche Pläne gibt es für jüdische Siedlungen im Westjordanland? Priorität genießen diese Fragen in Shinuis Wahlkampagne erkennbar nicht. Ja, man sei für Verhandlungen, aber nicht unter Feuer, schon gar nicht mit Arafat. Isolierte Siedlungen müssten evakuiert, andere in Blocks vereint und Israel angegliedert werden. Schließlich müsse eine Verhandlungslösung für Jerusalem gefunden werden. Wenig Substanz und eine schwammige Programmatik, um Überläufer aus anderen Parteien nicht zu vergraulen. Aber kaum jemand stört sich dran.
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