"Wenn man Marx ernst nimmt, dann ist dieser Programmentwurf mehr bei Marx als alle deutschen sozialdemokratischen und kommunistischen Parteiprogramme sei 1848", schreibt Michael Brie - einer der Mitautoren des PDS-Programmentwurfs - in seinem Plädoyer für dieses Papier. In der Debatte darüber wird gefragt: Schert die PDS mit ihrem Bekenntnis zu Unternehmerinteressen und politischer Liberalität aus dem Kontrastprogramm der Republik aus? Hin zur Mitte, wie sie alle sind? Oder gibt sie sich als letzter Romantiker dieser Republik zu erkennen, der das Grundgesetz beim Wort nimmt?
Nein, ich entschuldige mich nicht für meine Autorschaft zum Entwurf eines neuen Parteiprogramms der PDS. Und ich entschuldige mich auch nicht für das Wortungeheuer "Freiheitsgüter". Freiheit braucht Güter, um mehr zu sein als ein bloß formales Recht. Und wenn Hannah Arendt Recht damit hat, dass Politik auf Freiheit zielt, dann ist dieser, unser Programmentwurf ein politisches Programm der Freiheit. Und da es um die Freiheit jeder und jedes Einzelnen geht, ist es zugleich ein egalitäres Programm. Die konsequente Verbindung von libertärem und egalitärem Sozialismus ist - so zumindest die Sicht der Verfasser - eine wesentliche Stärke der neuen Programmphilosophie.
Der Anschluss der DDR an die Bundesrepublik Deutschland wurde möglich, weil die große Mehrheit der Bevölkerung sich vor die Alternative Freiheit oder Sozialismus gestellt sah und die Freiheit wählte. Und jene, die dies auch heute nur als Griff nach der D-Mark missverstehen, sollten wissen, dass auf dem dünnen Rand dieses Geldes die Worte eingeprägt waren: Einigkeit und Recht und Freiheit. Es war eben auch der Griff nach der Freiheit. Mehr als zehn Jahre später hat sich die Tagesordnung verändert und muss weiter verändert werden: Der Programmentwurf resümiert sich in der Forderung: Nicht Freiheit oder Sozialismus, sondern sozialistische Politik als Politik der Befreiung, der Emanzipation, des Freiheitsgewinns für jede und jeden. Der Antikapitalismus dieses Programms entspringt nicht der Ablehnung von Märkten oder Rechtsstaat als solcher, sondern jener Märkte, jener Rechtsformen, jener Formen politischer Herrschaft und imperialer Machtsicherung, die Dominanz von Profit und Kapitalverwertungsinteressen über die Gesellschaft und das Leben jeder und jedes Einzelnen begründen und den Zugang großer Mehrheiten der Bevölkerung zu den wichtigsten Freiheitsgütern moderner Gesellschaften einschränken oder sie dieser Güter ganz berauben.
1919 bei der Gründung der KPD, damals noch als einer linkssozialistischen, demokratischen Partei, sagte Rosa Luxemburg, nun sei man wieder unter dem Banner von Marx. Wenn man Marx ernst nimmt bei seinem Anspruch, er habe das Manifest einer Bewegung geschrieben, deren Ziel eine Gesellschaft sei, in der die freie Entwicklung einer und eines jeden die Bedingung der freien Entwicklung aller sei, dann ist dieser Programmentwurf mehr bei Marx als alle deutschen sozialdemokratischen und kommunistischen Parteiprogramme sei 1848. Wenn man dagegen Sarah Wagenknecht glauben will, die Sozialismus am Maß der Verstaatlichung und der Vorherrschaft des Staatseigentums misst, dann ist dieser Entwurf tatsächlich weiter vom Staatssozialismus entfernt als das Godesberger Programm der SPD. Und dies ist gewollt.
Mit diesem Entwurf wollen wir tatsächlich in der Bundesrepublik und der EU ankommen - ankommen, um sie zu verändern - freier, sozialer, gerechter. Unser Ankommen ist nicht Anpassung, sondern Gewinn an realistischem Veränderungswillen. Deswegen enthält dieser Entwurf eine umfangreiche Analyse des modernen Informationskapitalismus und seiner sozialen Akteure. Realismus ist nicht der Gegner eines radikalen Gestaltungsanspruchs, sondern seine Bedingung. Wir sind Realisten, weil wir die Dominanz von Profit über die Gesellschaft weder mit der Freiheit, noch mit der Würde des Menschen, noch mit dem Überleben der Menschheit vereinbar sehen. Und dieser Realismus macht uns zu Sozialisten, die auf eine grundsätzliche Veränderung der gesellschaftlichen Macht- und Eigentumsstrukturen drängen.
Der Entwurf für ein neues Parteiprogramm, zugleich Überarbeitung der Ideensubstanz des alten Programms und weitgehende Neufassung des Textes, ist das Resultat sehr langwieriger Diskussionsprozesse. Er geht zurück auf die Abkehr von Staatssozialismus und Marxismus-Leninismus über die Jahre der DDR, bezieht sich auf die Auseinandersetzungen von 1989, schlägt neue Lösungen für die im Programm von 1993 offen gebliebenen Fragen vor und resümiert fünf Jahre Programmdebatte der PDS. Und natürlich ergreift er Partei in dieser Debatte.
Es wird sich erst noch zeigen, ob die PDS dieses Programm annimmt. Es wird sich erst erweisen müssen, ob die dort zusammengefassten Maßstäbe sozialistischer Politik tatsächlich Maßstäbe der wichtigsten Akteure der PDS - ihrer Mitglieder, Aktivisten, der Führungspersönlichkeiten - sind oder werden können. Es ist vor allem auch ein Programm, dass die Umrisse von alternativen Reformen und eines erneuerten Sozialismus in Deutschland skizziert - eines Sozialismus, der sich der Freiheit jeder und jedes Einzelnen verpflichtet sieht und deshalb an sozialen Umgestaltungen arbeiten will, die diese Gleichheit der Freien ermöglicht; einer sozialistischen Bewegung, offen in die Gesellschaft hinein und engagiert in ihrer Gestaltung nach eigenen sozialistischen Vorstellungen; einer sozialistischen Partei, die ihre Kraft nutzen will, um vor allem die Kräfte außerhalb des Parlaments zugunsten von sozialer Gerechtigkeit zu stärken.
Dieses Projekt hat nur Chancen, wenn es zugleich ein politisches, zivilgesellschaftliches und kulturelles Projekt wird. Dies ist nur möglich, wenn es innerhalb der PDS von der Mehrheit gewollt wird. Wirkliche Bedeutung wird ein derartig visionäres Projekt jedoch erst dann erlangen, wenn es durch neue politische Gruppen und neue Generationen angeeignet und umgewandelt wird. Davon ist die PDS noch weit entfernt. Die PDS im engeren Sinne und das Projekt einer modernen sozialistischen Partei in Deutschland hat aber nur eine Zukunft, wenn es in Programmatik und politischer Praxis Freiheit und Gleichheit wirklich zu vereinigen mag. Die Autoren des Programmentwurfs haben versucht, einen Schritt in diese Richtung zu gehen. Andere werden über diesen Entwurf urteilen.
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