der Freitag: Lieber Pep Guardiola, ist dieses besondere Interesse an Kultur, auch an der Vermittlung von Kultur, ein Teil des berühmten „Systems Guardiola“?
Josep „Pep“ Guardiola: Das weiß ich nicht. Aber Miquel Martí i Pol hat immer gesagt, die Poesie ist die Kunst der Armen. Und auch wenn ich schon großartige Lyriklesungen von Schauspielerinnen gehört habe, finde ich eigentlich, dass Lyrik eine sehr private Sache ist, etwas, das man ganz allein genießen sollte.
Über Ihre Arbeit als Trainer des FC Bayern hinaus erfüllen Sie eine wichtige Funktion als Botschafter für die katalanische Kultur. Seit Pep Guardiola hier ist, interessieren sich die Deutschen endlich für Katalonien.
Ich bin nicht nach Deutschland gekommen, um Botschafter zu sein, und ich kann nicht beurteilen, was man hier über die katalanische Kultur denkt. Aber wenn meine Anwesenheit als Bayern-Trainer helfen kann, einen so außerordentlichen Dichter wie Miquel Martí i Pol bekannt zu machen, freut mich das sehr. Ich bin hier, um meine Arbeit so gut wie möglich zu machen – umso besser, wenn ich dabei auch noch Aufmerksamkeit wecken kann für meine Sprache, die ich so sehr liebe, und für die katalanische Literatur, die großartige Dichter hervorgebracht hat – Salvador Espriu, Pere Quart, Joan Salvat-Papasseit, Narcís Comadira, Miquel Martí i Pol und noch viele andere. Es ist eine sehr, sehr reiche Literatur, übrigens auch nicht nur in der Lyrik, auch in der Prosa.
Zur Person
Josep „Pep“ Guardiola wurde 1971 in Santpedor, Provinz Barcelona, geboren. Als Spieler blieb er dem FC Barcelona bis 2000 treu, dann wechselte er zu Brescia Calcio. Als Trainer war er vier Jahre lang für den Heimatverein im Amt, seit Juni 2013 trainiert er den FC Bayern
Wie und wann haben Sie Martí i Pol und seine Gedichte für sich entdeckt?
Wir hatten Bücher von ihm zu Hause, und ich begann sie zu lesen. Und als ich irgendwann in einer Fernsehsendung mit dem Liedermacher Lluís Llach zusammentraf, bat ich ihn darum, mich mit Martí i Pol bekannt zu machen. Er ist dann mit mir nach Roda de Ter gefahren, wo Martí i Pol lebte, und hat mich ihm vorgestellt. Und seitdem trafen wir uns immer wieder.
Wie ist daraus diese außergewöhnliche, beiderseitig so inspirierende Freundschaft entstanden?
Ich würde sagen, die Freundschaft war vor allem für mich inspirierend – denn ich konnte seine Bücher lesen, aber er konnte nicht mehr Fußball spielen. Es war ein Privileg, jedes Mal, wenn man ihn besuchte, kam man als besserer Mensch wieder heraus. Er strahlte eine unglaubliche Güte aus, und zugleich konnte er dich zurück auf den Teppich bringen. Das ist die Poesie – sie zeigt dir, wer du bist.
Was gefällt Ihnen besonders an den Texten von Miquel Martí i Pol?
Ich glaube, wenige haben vom Tod und von der Liebe so gesprochen wie er. Wegen seiner Krankheit musste er sehr introspektiv leben, nach innen blicken. Er spricht von den Dingen, über die wir heute kaum reden, die aber eigentlich unserem Leben erst einen Wert oder Sinn geben. Dichter haben die Fähigkeit, über diese Dinge in wenigen Worten sehr viel zu sagen. Das ist das Wunderbare, und das ist Miquel Martí i Pols große Kunst. Du kannst seine Gedichte lesen, sie immer wieder lesen und wirst immer wieder Neues in ihnen finden.
Elionor
Elionor war
vierzehn Jahre und drei Stunden alt,
als sie zu arbeiten anfing.
Diese Dinge behält man
für immer im Blut.
Sie trug noch Zöpfe
und sagte „sí, senyor“ und „buenas tardes“.
Die Leute mochten sie leiden,
die so sanfte Elionor,
und sie sang, während
sie mit ihrem Besen kehrte.
Die Jahre jedoch vergehen in der Fabrik
hinter dem matten
Grau der Scheiben
und schon bald hätte Elionor
niemandem erklären können, woher ihr
diese Weinkrämpfe kamen
und jenes nicht unterdrückbare
Gefühl, einsam zu sein.
Die Frauen sagten, was ihr passiere,
komme davon, dass sie erwachsen werde und diese Krankheiten
kuriere man, indem man heirate und Kinder kriege.
Elionor, einverstanden mit der sehr klugen
Weissagung der Frauen,
wurde erwachsen, heiratete und bekam Kinder.
Das Älteste, es war ein Mädchen,
war genau drei Stunden zuvor
vierzehn geworden, als es zu arbeiten anfing.
Es trug noch Zöpfe
und sagte „sí, senyor“ und „buenas tardes“.
Aus: La Fàbrica Johannes Hösle (Übersetzung), Maro-Verlag
Seit seinem 14. Lebensjahr arbeitete er in einer Textilfabrik in Roda de Ter, drei Jahrzehnte lang, bis die multiple Sklerose es ihm unmöglich machte. Die Gedichte in seinem Band „La Fàbrica“ handeln von den Menschen in der Fabrik. Ein Genre, das in Deutschland ziemlich in Vergessenheit geraten ist: die Arbeiterlyrik. Zur gleichen Zeit, als bei uns von der „Literatur der Arbeitswelt“ oder vom „Bitterfelder Weg“ gesprochen wurde, schrieb auch der Arbeiter Martí i Pol diese sehr engagierten Gedichte. Ist es heute wichtig, uns darauf zurückzubesinnen?
Ich finde, große Gedichte vergehen nie, sie sind immer aktuell. Das gilt auch für die Fragen, was es bedeutet, sich gegen die Mächtigen zu erheben – oder unter was für traurigen Umständen viele Menschen ihr Arbeitsleben fristen und noch dauernd gesagt bekommen, für etwas anderes würden sie nicht taugen.
1977 verfasste Miquel Martí i Pol dann einen wunderschönen Zyklus von Liebesgedichten: „Estimada Marta“ (Liebe Marta). Es ist sein erfolgreichstes Buch, ein moderner Klassiker – allein auf Katalanisch sind über 60.000 Exemplare verkauft worden.
Die Gedichte aus „Estimada Marta“ sind auf Katalanisch filigran und deftig zugleich, unwiderstehlich musikalisch und sicher ein Grund dafür, dass Miquel Martí i Pol der wohl meistvertonte zeitgenössische Lyriker Kataloniens ist.
Ich sehe ihn vor mir, wie er sich seine eigenen Gedichte anhörte. Wenn ich ihn besuchte, hat er mich immer vorlesen lassen. Mir war das peinlich, aber er bestand darauf, jedes Mal. Dann saß ich mit ihm in seinem winzigen Zimmer überm Fluss, las ihm die Gedichte vor, und er lachte dabei. Er lachte immer. Aus Zufriedenheit, aus Freude.
Immer wieder wird behauptet, Sie hätten seine Gedichte benutzt, um Ihre Spieler zu motivieren, als Sie Trainer des FC Barcelona waren. Stimmt das? Es wäre so schön.
Nein, nein, das war nicht der Grund, aus dem wir so oft gewannen. Lyrik ist doch etwas sehr Persönliches, etwas, das man zu Hause und in Ruhe lesen sollte. Das Einzige, was ich manchmal gemacht habe, ist Spielern Bücher zu schenken. Aber keine Lyrik, sondern zum Beispiel Romane von David Trueba, den ich sehr verehre. Truebas neuer Roman Blitz spielt übrigens in München. Ist aber noch nicht auf Deutsch erschienen.
Auch unter den Bayern-Spielern gibt es welche, die lesen, oder?
Ja, die gibt es. Und die sollten mir jetzt mal Bücher auf Deutsch empfehlen …
Estimada Marta, XV
Fern, Marta, fern von allem und allein;
verlassener Strand, verschlossenes Zimmer, Wald
aus großer Stille; so viel Leben, so viel
von dir und von mir überall, damit uns
keine Bilder fehlen: tiefe Wurzel,
die uns speist und beschützt. Langsam
steigen wir aus dem Wasser, lichterfüllt.
Der Bogen soll gespannt beben, bei jedem Wort,
jeder Geste und jedem Gefühl;
damit das ferne Meer die erhabene Errungenschaft
deiner Schönheit und meiner Wonne weitererzählt.
Fern, Marta, fern, der starke weiße Glanz
stellt die Grenzen wieder her, die wir verletzt haben.
Da ist weder Leere noch Dunkel und andererseits
Leben und kein Leben in einem einzigen Schwung,
deine Haut und der Gedanke an dich erfüllen mich
seit den toten Stunden, Talayot-Turm.
Aus: Liebe Marta Juana und Tobias Burghardt (Übersetzung), Edition Delta
Würden Sie sagen, dass die Welten des Fußballs und der Literatur einander in Deutschland ferner stehen als in Katalonien?
In Katalonien und Spanien wird viel über Fußball geschrieben, vor allem wunderbare Erzählungen. Die lateinamerikanische Literatur, besonders aus Argentinien und Brasilien, ist dabei ein großer Einfluss. Und der Austausch zwischen Sport und Kultur wird sehr gefördert. Wie das in Deutschland aussieht, kann ich noch nicht beurteilen.
Wir haben Autoren wie Albert Ostermaier, Moritz Rinke und andere, die gerne über Fußball schreiben und das Thema in den letzten Jahren immer stärker in den Blick der Literatur gerückt haben. Ich würde trotzdem sagen, dass die spanisch- und katalanischsprachige Welt da viel weiter ist und wir hier das literarische Potenzial des Fußballs noch längst nicht ausschöpfen. Kürzlich sprach ich mit zwei katalanischen Kollegen, mit Àlex Susanna und Josep Maria Fonalleras, darüber, welches literarische Genre sich am besten eigne, um über Fußball zu schreiben. Die beiden sagten: die Lyrik.
Ungern möchte ich Àlex Susanna und meinem Freund Josep Maria Fonalleras widersprechen – aber ich finde das nicht. Ich würde sagen, das beste Genre, um über Fußball zu schreiben, sind Erzählungen; kleine Geschichten, die Sport und Leben verbinden. Auch wenn ich einen Spielbericht in der Zeitung lese, wünsche ich mir, dass er die Geschichten erzählt, die hinter dem Spiel stehen. Nicht bloß, in Minute 23 gab es eine Torchance, in Minute 25 dann ein Tor … In Katalonien, Spanien oder auch Argentinien werden großartige Artikel über Fußball geschrieben. Die deutschen Zeitungen zu lesen fällt mir noch schwer, aber ich habe den Eindruck, dass die Artikel auch hier oft sehr gut sind.
Miquel Martí i Pol
Nach dem 2003 gestorbenen Dichter Miquel Martí i Pol sind in Katalonien Schulen und Straßen benannt. 1929 wurde er in eine einfache Familie in das Dorf Roda de Ter geboren. Mit 14 Jahren begann er, in einer Textilfabrik zu arbeiten. Martí i Pol war Mitglied der Partit Socialista Unificat de Catalunya (PSUC), die in der Franco-Diktatur im Untergrund operieren musste. 1954 erschien sein erster Gedichtband. Zu Beginn der 70er Jahre erkrankte er an multipler Sklerose. Auf Deutsch sind mehrere Werke von ihm in den Verlagen Edition Delta und dem Augsburger Maro-Verlag erschienen. Dort zuletzt: La Fàbrica, zweisprachig, übersetzt von Johannes Hösle
Foto: Pere Virgili/Album
Welche Parallelen sehen Sie zwischen einem Fußballspiel und einem literarischen Text?
Beides hat einen Anfang, eine Idee, die man verwirklichen möchte – sei es der Text, den man schreiben will, oder das Spiel, das man sich vorstellt. Dann gibt es die Geschichte, wie sie sich entfaltet – und es gibt das Ende, das so oder so ausfallen kann. Dass wundervolle Texte über den Sport geschrieben werden, gilt aber nicht nur für Fußball, sondern ebenso für Basketball, Tennis, Golf. Auch für den Boxsport.
Sie haben einmal erzählt, wie Miquel MartÍ i Pol Sie fragte, in welcher Hinsicht sich Fußball und Lyrik ähnelten. Und Ihre Antwort war: in gar keiner. Sehen Sie das immer noch so?
Ja. Der Fußball ist ja nicht nur das Spiel, sondern auch alles Drumherum, und daran ist wirklich nichts Lyrisches. Einzelne Dinge, die ein Spieler auf dem Feld tut, können vielleicht zu einem Gedicht anregen, aber der Fußball insgesamt hat mit Lyrik nichts zu tun, da muss ich Sie enttäuschen.
War er auch enttäuscht, das zu hören?
Ich glaube nicht. Ihm gefiel wohl die Frage, aber die Antwort war ihm schon vorher klar.
Genau jetzt
Genau jetzt fädele ich in diese Nadel
den Faden einer von mir unausgesprochenen Absicht ein
und beginne zu flicken. Keines der wundersamen Werke,
die ruhmreiche Wundertäter vorhersagten,
hat sich erfüllt. Und die Jahre vergehen im Fluge.
Wenig bis nichts, und wie lang ist im steten Gegenwind
der Weg des Kummers und Schweigens.
Und wir sind, wo wir sind, wir sollten es wissen und sagen.
Und mit festem Boden unter den Füßen uns als Erben
einer Zeit der Zweifel und Entsagungen erklären,
in der die Geräusche die Wörter ersticken
und mit vielen Spiegeln das Leben halbwegs vorgaukeln.
Uns hilft weder Sehnsucht noch Klagen,
auch nicht Hauch griesgrämiger Schwermut,
die wir als Pullover oder Krawatte anziehen,
wenn wir auf die Straße gehen. Wir haben kaum,
was wir haben und genug. Den Raum der tatsächlichen
Geschichte, die uns betrifft und ein winziges
Gebiet, um sie zu erleben. Lasst uns
erneut aufstehen, wenn die Stimme
aller feierlich und klar wahrnimmt,
rufen wir, wer wir sind, damit es jeder hört.
Und gleich danach sollen sich alle einzeln
je nach Lust und Laune kleiden – dann hinaus,
denn alles liegt vor uns und alles ist möglich.
Aus: Der Bereich aller Bereiche Juana und Tobias Burghardt (Übersetzung), Edition Delta
Wie haben Sie sich unterhalten? Zu der Zeit, als Sie sich kennenlernten, war bei Martí i Pol die multiple Sklerose schon so weit fortgeschritten, dass er nur noch mit Mühe sprechen konnte.
Am Anfang war es nicht einfach. Aber bei meinen ersten Besuchen waren auch immer Montserrat, seine Frau, oder Lluís Llach, der Liedermacher, dabei, und sie übersetzten für mich. Er empfing überhaupt viel Besuch, auch in der Hinsicht war er sehr großzügig. Manchmal kamen ganze Schulklassen bei ihm an. Wenn man aber mit ihm alleine war, konnte man ihn nach einiger Zeit doch besser und besser verstehen.
Kommen wir noch einmal auf sein Werk zu sprechen. In seinen Gedichten beschäftigte sich Martí i Pol auch konkret mit der Situation Kataloniens. „Genau jetzt“ von 1980 ist so ein Gedicht.
Es ist ein Gedicht über den Mut, zu sagen, wer wir sind.
Wenige Jahre nach diesen optimistischen Tönen veröffentlichte er einen Gedichtband, der von einem schweren Schicksalsschlag handelte – dem Tod seiner ersten Frau. „Llibre d’absències“ hieß der Band, „Buch von Abwesenheiten“. Ich habe gelesen, das sei Ihr Lieblingsbuch von Martí i Pol.
Es ist ein sehr trauriges Buch, aber man muss es lesen. Unbedingt.
Der kleine Haken ist, dass „Llibre d’absències“ bisher nicht ins Deutsche übersetzt ist – das sollten wir dringend nachholen. Auf Deutsch erhältlich ist aber das „Llibre de les solituds“, das „Buch der Einsamkeiten“ von 1997. Es trägt die Widmung: „Für Cristina Serra und Pep Guardiola“. Wie kam es dazu?
Miquel hatte manchmal seltsame Ideen. Damals kannten wir uns drei, vier Jahre, aber für mich war es eine große Überraschung. Das Buch mag ich allerdings auch sehr!
Haben Sie ein spezielles Lieblingsgedicht?
Schwierig. Ganz schwierig. Es wäre wohl eins aus dem Llibre d’absències. Aber sein Werk ist ja riesig. Übrigens, das haben wir noch gar nicht gesagt: Er spielte auch selbst Gitarre und sang.
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