Im Jahr 1960 hatte der Schriftsteller John Steinbeck das Gefühl, sein Heimatland, dessen Bewohner und Realitäten, die lange Humus seiner Kunst waren, nicht mehr zu kennen. Also zog er mit seinem Pudel aus, dieses Land zu erkunden. Die Reise mit Charley erlangte einige Berühmtheit, und das Buch zählt zu den entscheidenden Schreibprägungen des Niederländers Geert Mak. Genau 50 Jahre später unternimmt der per Mietwagen Steinbecks Reiseweg und stellt bald fest, dass andere Fans dieselbe Idee verfolgen. Die Liebe zu Büchern gebiert: Tourismus.
Was nicht heißen soll, dass unsere Erde entzaubert wäre, es nichts mehr zu entdecken gebe. Man muss nur aufmerksam sein. Wie aufmerksam, zeigt sich beispielsweise in jener Passage von Maks Amerika! Auf der Suche nach dem Land der unbegrenzten Möglichkeiten, in der erzählt wird, dass vor gar nicht langer Zeit ein von einem zarten Windhauch verursachter Laut recht lang in der Luft hing, sodass man ihn in beträchtlicher Ferne hörte. Bis dann die europäischen Einwanderer neue Geräusche einführten: das Trappeln von Pferdehufen, Knarren von Türen, Rattern von Fuhrwerken etwa. Die später hinzukommenden Laute von Hochöfen, Straßen und Bahnhöfen bezeichnet Mak als den Beginn der akustischen Tyrannei der Maschine. Stets ist der Niederländer bestrebt, Momente, die so alltäglich sind, dass wir sie kaum bemerken, als bedeutsam und geschichtsträchtig erfahrbar zu machen.
Die Tyrannei des Konsums
Über 11.000 Meilen erstreckte sich Steinbecks Reise. Aber schon an deren Beginn spürte er sein fortschreitendes Alter, das Nachlassen der Kraft und der Inspiration. Melancholie mischte sich in seinen Blick. Steinbeck verabscheute das Tempo der Veränderungen, den Konsumzwang, die Wegwerfmentalität. Überdies tobte gerade der Wahlkampf zwischen Kennedy und Nixon, der erste, der wesentlich im und fürs Fernsehen stattfand. Steinbeck war vom alten Kleinstadtamerika geprägt, wo die Leute auf der Main Street oder im Kaufladen über Politik debattierten und sich einbrachten. Die Kultur der direkten Kommunikation, so empfand er, gehe dem Ende entgegen, von nun an werde man nur noch vereinzelt auf Bildschirme starren.
Großstädte gingen Steinbeck gehörig auf die Nerven, weshalb sie in seinem Reisebericht keine wesentliche Rolle spielen. Im Gegensatz dazu zeichnet Geert Mak zahlreiche Städtebilder, die zu den Höhepunkten seines Buchs zählen. Fünf Jahre nach dem Hurrikan Katrina besucht er New Orleans. Viele Häuser sind noch immer zerstört oder verlassen und nur ein Bruchteil der Schulen in Betrieb. Nicht „Katrina“ war das Problem, berichten Einwohner, sondern der miserable Zustand der Deiche, also der amerikanischen Infrastruktur. Andere meinen, das Zusammenpferchen der ärmsten Betroffenen im Footballstadion, zeige die immer mehr um sich greifende Verachtung von Menschen ohne Erfolg. Eine Lokalpolitikerin erlebte, wie Präsident George Bush die Stadt nach der Katastrophe besuchte; diese wenigen Stunden, klagt sie, brachte er wesentlich damit zu, vor Fernsehkameras eine Show abzuziehen. Indem Geert Mak Worte von der Straße aufliest und einfach protokolliert, enthüllt er zugleich: Nicht allein der Wirbelsturm hat die Gemeinde New Orleans verheert, es war auch die 20-jährige Vorherrschaft des Neoliberalismus in Amerika.
Keine Geißelung der Reichen
Wie konnte es so weit kommen? Der Politiker, dem John Steinbeck größten Respekt zollte, war Franklin D. Roosevelt. Jener Präsident von 1933 bis 1945 also, der, als Maßnahme gegen die Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise, die Sozialversicherung in Amerika einführte. War die Regierung bis dahin dazu da, für ein gutes Wirtschaftsklima zu sorgen, demonstrierte Roosevelt, dass Amerika ein Gemeinwesen sein kann, in dem jeder Verantwortung trägt. Sein Politikansatz war zu Steinbecks Zeiten heftig umstritten, und er ist es bis heute. Zu denen, die gegen diesen „marxistischen Bazillus“ offensiv zu Felde zogen, gehörten die Regierungen Reagan und Bush, welche die Steuern immer weiter senkten und Ausgaben für den öffentlichen Sektor radikal zusammenstrichen.
Wichtig ist Geert Maks Buch, weil es über die Geißelung der Oberklasse hinausgeht, weil es zu zeigen versucht, dass viele gegenwärtige Probleme des Landes in der kollektiven Imagination wurzeln. Amerikas Gründer waren fundamentalchristliche und verfolgte Sektierer, manche sagen: religiöse Spinner. Doch sie hatten einen Traum: Sie wollten niemals wieder in einer Welt wie dem alten Europa leben, wo man einer Gruppe von Herrschenden unterworfen ist. Gleichheit aller vor dem Gesetz und gleiche Aufstiegs- und Entfaltungsmöglichkeiten für alle – das waren Mak zufolge die erneuernden, die vorwärtstreibenden Elemente der frühen US-Gesellschaft. Viele arme Amerikaner teilen das ewige „bloß nicht zu viel Staat“ der Konservativen, obwohl die daraus resultierende Politik sie nur immer noch ärmer macht. Der American Dream überblendet wie eine Fata Morgana die Wüste des Alltags, er lässt Vernunftfeindlichkeit und Abneigung gegen eine aufgeklärte Existenz entstehen.
Geert Mak gehört zum Typus des dokumentarischen Schriftstellers, der in Deutschland leider kaum noch vorkommt. Der Form der Reportage ist Maks Literatur dadurch überlegen, dass er immer wieder Erkundungsgänge in Überlieferungen, Mythen, Bücher oder Filme einflicht. Auf diese Weise bohrt er sich in die Wirklichkeit, und die legt die Triebkräfte frei, aus denen sie erwächst. Außerdem ist seine Erzählkunst zuweilen anrührend wie ein Spiritual. Geert Mak zu lesen zeigt, dass wir der Literatur auch heute noch existenziell bedürfen, nämlich dann, wenn sie unsere gewohnte Sicht heftig durcheinanderwirbelt und uns sagen hilft, was uns umgibt.
Amerika! Auf der Suche nach dem Land der unbegrenzten Möglichkeiten Geert Mak Andreas Ecke, Gregor Seferens (Übers.), Siedler 2013, 624 S., 34,99 € Michael Girke sprach zuletzt mit Hanns Zischler über dessen Berlin ist zu groß für Berlin
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.