Billigreisen ins Elend der anderen

Medien-echo einer Schallplatte Bruce Springsteen hat mit "The Rising" den Versuch gemacht, Pop und den 11. September zusammenzubringen

Einen Teil der achtziger Jahre verbrachte Bruce Springsteen damit, sich öffentlich mit Präsident Reagan herumzuschlagen. Es ging um die Frage, ob sein Song Born in the USA der patriotische Gassenhauer sei, den Reagan darin hörte. Springsteen widersprach. 1995 veröffentlichte er ein düsteres Konzeptalbum über das Grenzland zwischen den USA und Mexiko und die Probleme mexikanischer Migranten. Seit diesen Ereignissen wird Springsteen als "explizit politischer Songwriter" geführt.

Indes droht in Vergessenheit zu geraten, was seine eigentliche Größe ausmacht: Springsteen hat dem zum Fundus für angeberische Posen heruntergekommenen Jungsrock einiges von seinem vergangenen Glanz zurückgegeben. In den besten Momenten seiner Musik steckt soviel von der Gewohnheiten erschütternden Kraft des Pop, dass man glaubt, der Erwerb von so etwas banalem wie einer Schallplatte könne einen, und sei es nur für den Augenblick, näher an ein Glück heranführen, von dem man ansonsten weiß, dass man es nie bekommen wird.

Nähme jedermann ihn als das, was er ist, einer der vielen reisenden Vertreter für Americana, dessen Tugenden beim Altern zu Konventionen erstarrt sind, so gäbe es kaum Grund, ihn zu kritisieren. Aber jedes Husten Springsteens gilt mittlerweile als anspruchsvolle Geste eines großen Autors und wird entsprechend ernst genommen. Mit anderen Worten, Springsteen genießt Klassikerstatus. Das heißt nichts anderes, als dass unsere Medienmaschine für ihn arbeitet. Zur Besprechung jeder Veröffentlichung des Künstlers werden die prominenten Plätze in Fachzeitschriften und Feuilletons freigeräumt, und, völlig egal, was das jeweilige Werk eigentlich hergibt, allein dadurch erlangt es die Aura der Wichtigkeit. Diese Aura wuchs auf Titelstoryformat, als bekannt wurde, dass Springsteens neue Platte, The Rising, dem 11. 09. 2001 gewidmet ist.

Rechtfertigt The Rising nun den Rang, der ihm vom öffentlichen Geraune eingeräumt wird? Welche Wahrnehmungsweisen, welche Worte und Bilder findet Springsteen für die Ereignisse des 11. September? Wie spürt seine Kunst der neuen Zeit nach, deren Beginn man ja mit diesem Datum markiert?

Zunächst sind da lauter Songs, die vorgeben, die gegenwärtige Atmosphäre in Amerika einzufangen: Stimmungsbilder, in denen alte Geschichten geistern; sie scheinen den dunkelsten Kapiteln des Neuen Testaments entnommen; da ist das Beschwören von Heroischem: zum Beispiel in Into the Fire, dem Song über den Feuerwehrmann, der sich ins Hochhausfeuer begab und darin umkam; da sind die üblichen Versöhnungsangebote des Pop: Songs, die allen Bewohnern getrennter, zur Disharmonie neigender Welten - du, ich und alle Bewohner des Orients - Liebe und Freundschaft nahelegen. Und schließlich, darauf läuft alles hinaus, diese Platte beleiht in Songs wie The Rising und My City of Ruins das Erbe afroamerikanischen Gospels und nimmt darüber die Struktur eines Gottesdienstes an - Trost, Trauerarbeit und Einschwörung auf die, natürlich große, Zukunft.

Viele der in Deutschland publizierten Texte zu The Rising kritisieren das religiöse Vokabular des Albums, trumpfen auf mit der Feststellung, Springsteen betreibe das Geschäft der Mythologisierung. So etwas ist leicht gesagt und noch leichter ist es einem Kunstwerk vorgeworfen. Was aber bedeutet Mythologisieren konkret?

Die Antwort ist so ungeheuer einfach, dass ihre Auswirkungen darüber drohen, unsichtbar zu werden. Es bedeutet schlicht, die Ereignisse des 11. September und ihre Folgen in eine bestimmte Sprache zu fassen. In der Sprache Springsteens geht der oben erwähnte Feuerwehrmann nicht nur seinem Job nach und verliert dabei sein Leben (was zunächst und vor allem schmerzliche private, familiäre Folgen hat), sondern er bringt Amerika ein Opfer. Er geht ins Jenseits, um ein Beispiel zu geben, um lebenden Amerikanern Mut, Kraft und Hoffnung auf Erlösung zu spenden. Jedesmal, wenn man eine Springsteen-Platte auflegt.

Schon klar: Die Erfassung der Wirklichkeit mittels religiöser oder patriotischer Sprache legt ein neues Ereignis als etwas Altes und Bekanntes aus. Springsteen vorzuwerfen, seine Aufarbeitung des 11. September sei reduziert, greift aber zu kurz. Die verkürzte Wahrnehmung ist ja nicht das Gegenteil des Wissens der durchschnittlichen Leser, Zuschauer und Kritiker, sondern der Normalzustand. Und Springsteens Wahrnehmungsweise hat viel zu tun mit dem medialen Bild des 11. September.

Wer Ereignisse der jüngeren Geschichte am Fernseher verfolgt, weiß: Die Gebote informierender Berichterstattung sind in alle möglichen Richtungen überschritten. Wie CNN mit Insignien, Schlagzeilen, Flaggen, Musiken, die Bilder der amerikanischen und später der afghanischen Wirklichkeit strukturierte, brachte die Entwicklung nur am deutlichsten auf den Punkt - in Deutschland zuletzt die Bilder zum Schulmassaker in Erfurt. Diese Berichterstattung ist keineswegs dazu da, Zuschauern zu ermöglichen, ein eigenes Verhältnis zum Geschehen zu entwickeln. Im Gegenteil: Die den herrschenden Interessen bequemen Inszenierungen schieben sich zwischen Ereignis und Zuschauer. Sie lassen kaum Spiel- und Denkraum, fordern aber umso mehr Identifikation und Haltung. Das Programm zeigt, was man gefälligst zu empfinden hat.

So übersetzt die Berichterstattung die Opfer des Terrors in gesellschaftliche Absichten. Genauer: Die Toten, die Kosten der Geschichte, verschwinden in ihrer Verpackung. Sie werden ihrer wirklichen Geschichte enteignet und zu reinen Symbolfiguren gemacht, zu Dienern der Lebenden, die so von ihnen Legitimität ihrer aktuellen Zwecke und Kraft beziehen können.

Pop leistete sich einmal Misstrauen gegenüber solchen Praktiken, leistete sich die Distanz, die genaue Wahrnehmung ermöglicht. Als "cheap holidays in other peoples misery" bezeichneten beispielsweise die Sex Pistols das Instrumentalisieren der Leiden anderer. Und stellten es als Taschenspielertrick bloß, als Technik, die Distanz, Skrupel und andere Perspektiven beseitigen helfen soll.

Nicht dass Springsteen biblische Metaphorik aufgreift, um das Geschehen des 11. September zu fassen, macht seine Platte so problematisch. Religiöse Metaphorik nutzen andere auch, Bob Dylan zum Beispiel treibt souveräne poetische Spiele mit ihr. Unerträglich an The Rising ist, dass jede Distanz, jede Mehrdeutigkeit, jeder Zweifel, dass also alle Kunst aus Springsteens Musik verschwunden ist. Mit solch einer Platte wird Pop ununterscheidbar von der herrschenden öffentlichen Rede. "Duty called you someplace higher; may your strength give us strength", so besingt Springsteen den Tod, den die neue Zeit bringt. Es ist aber genauso der Singsang des Oval Office, wie es die verbale ideologische Sterbehilfe der aktuellen Gegner Amerikas ist.

Bruce Springsteen scheint mit seiner Platte demonstrieren zu wollen, dass Kunst angemessen auf eine ernste Lage reagiert, indem sie sich "betroffen" und "engagiert" zeigt. Was hier, wie so häufig, bedeutet, dass mittelmäßige Musik sich eine gute Moral sucht und beides zusammen eine Kitschpostkarte aus Amerika ergibt. War Pop nicht immer viel mehr, nämlich das, was der Regisseur Douglas Sirk über seine Filme sagt: "My bridge to something else"? Oder wie es Pop-Essayist Diedrich Diederichsen einmal formulierte: "Ich habe nicht nur Englisch an Songs gelernt, ich habe auch das Denken an Popmusik gelernt. Dass Menschen bedingt sind. Dass man immer zu Recht hasst. Dass das, was man sowieso will, immer richtig ist. Es ist also nur selbstverständlich, dass ich und Millionen meiner Zeit- und Altersgenossen, die genauso aufgewachsen sind, Intelligenz in einer Musik entdeckten, die ihnen Material war, um ihre Intelligenz zu entwickeln."

Dass Pop Material ist, zu dem man sich ins Verhältnis setzt, um Intelligenz zu entwickeln, also ein eigenes Verhältnis zu Wirklichkeit, Geschichte und herrschender Rede, das wusste auch Bruce Springsteen einmal. Sein Satz "we learned more from a three minute record than we ever learned in school" belegt es. Vorbei ist das Intelligenz-Entwickeln an Popmusik aber, wenn Pop altert wie Springsteen. Wenn also erwachsen werden bedeutet, der Musik alles auszutreiben, was an ihr Überraschung, Schock, Mehrdeutigkeit birgt. Wenn das in der Musik artikulierte Recht darauf, seine oppositionellen Impulse ernst zu nehmen, im Keim erstickt wird und sie nur noch dazu da ist, Dienst nach Vorschrift in edlen Stereoanlagen und Radios zu verrichten.

Springsteens The Rising ist ganz das Gegenteil von "oberflächlichem", "vulgärem", "Mode fixiertem" Jugendpop. Eben jene Mischung aus reifem Kunstgewerbe und gutem Zweck, die ältere Hörer so schätzen. Was diese nicht wahrhaben wollen: Musik bestraft so etwas. Immer, wenn Springsteen den höheren Zwecken seiner neuen Platte Gestalt geben will, stellt sich nur trostlos pathetische Rock-Routine ein.

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