Die Seele im technischen Zeitalter

Traum Ernst Blochs Zeitungs-Feuilletons liegen erstmals vollständig ediert vor

Nicht in der Schule geschah es, sondern nachts im Jungenzimmer, wo der junge Bloch, den Kontrollblicken von Pädagogen und Erziehungsberechtigten sich entziehend, Winnetous fernen Abenteuern folgte. Wie aber der bedeutende Denker Ernst Bloch zum Büchermenschen wurde, das erfährt man aus dieser Artikelsammlung.

Die Bewegtheit seiner Kindheit ist in seiner Philosophie wieder zu finden. Bloch schreibt für die Außenseiter der Gesellschaft, die Armen, die ein Buch in die Hand nehmen, um mit ihren Träumen in Verbindung zu bleiben. Bloß geht es nicht um Fantasien des Entkommens aus der Wirklichkeit; Blochs Schriften wollen Vorschein einer Zivilisation sein, die endlich den Menschheitstraum verwirklicht, dass alle mit gleichen Chancen und Rechten ausgestattet in Würde leben können.

Wie ein Prophet bewerte Bloch alles von einer möglichen, besseren Zukunft her; er habe kein wirkliches Interesse an der Gegenwart, sei blind für sie. Dies war Siegfried Kracauers Meinung bei Erscheinen von Blochs erstem Buch 1922. Zunächst tief gekränkt, freundete Bloch sich nach und nach mit seinem Kritiker an; später war Kracauer Blochs Redakteur bei der Frankfurter Zeitung. Der Realismus des Journalisten veränderte die Wahrnehmung des Philosophen.

Dies zeigt sich im Vergleich. Einige von Blochs Feuilletons finden sich auch in dessen berühmtem Buch Spuren. Dort sind sie bearbeitet, verdichtet, eher theoretischer Natur. Um Blochs Zeitungstexte zu schätzen, muss man erkennen, was in ihnen möglich ist. Die Worte werden, anders als in wissenschaftlichen Werken, nicht zu fixierender, definierender Bezeichnung verwendet, sondern zu spontanen Momentaufnahmen. Blochs Sprache bewegt sich Alltagsdingen nach, lässt sich mitreißen, gerät ins Stolpern, verliert Überblick und Seriosität: "Auch haben es die Zuflüsse meist nicht nötig, aus alten Tiefen eines Erdinnern zu quellen, sondern heißen: das Döllen-Fließ, das faule Fließ, der Stintgraben, der Wutzerwitzer Abzugsgraben; wobei es wenig verschlägt, dass auch die Nuthe mit der Nieplitz fließt."

In diesen Zeitungstexten kommt ein Philosoph wirklich in der modernen Zeit an, weil er - anders als der klassische Denker - nicht idealisierend oder distanzierend über den Dingen steht, sondern unsicher und suchend zwischen ihnen. Mit unerhörter Direktheit macht Bloch erlebbar, was alles in Menschen und Orten steckt, die heute Vergangenheit sind. Seine Texte sind wie eine Zeitreise. In deutsche Landschaften geht es, zum Rheinfall, in den Harz, auf den Spuren Fontanes durch Brandenburg. Das lädt ein zur Beschaulichkeit. Bloch aber macht mitten in der märkischen Naturlandschaft die Großstadt Berlin aus, die gerade dabei ist, sich in eine alle gewachsenen Traditionen in Frage stellende oder zerstörende Moderne zu stürzen.

Was man, Bloch lesend, lernt: Die legendären zwanziger Jahre sind wenig glanzvoll, vielmehr von der Willkür des Kapitals und sozialen Konflikten geprägt. Jeder winzige Fortschritt muss gegen heftigen Widerstand durchgesetzt werden. Blochs Bericht über eine Harzreise führt hinein in die Gemütsverfassung jener Jahre. In den dichten Wäldern um den Brocken ist eine düstere, von Teufelsglauben, Spuk und Hexenjagd bestimmte Vergangenheit noch zu spüren. Für Bloch ist der Fremdenverkehr, sind die Wallfahrten zahlloser Menschen in diese Gegend ein Beweis, dass die bürgerliche Aufklärung sich in Deutschland nie durchgesetzt hat. Anders gesagt: Deutschland ist zwar hoch technologisiert, aber die Decke der Zivilisation ist hier dünn, zeigt Risse, durch die kann ein unheimlicher Untergrund jederzeit nach oben kommen.

Das Dritte Reich zieht herauf. Hitlers Partei versteht es, mit archaischer Folklore die Gefühle der Massen zu bannen. In mehreren Texten wirft Bloch sowohl der Linken als auch den Akademikern vor, sie verleugneten die seelischen Bedürfnisse der Menschen; weil sie sich alleine an abstrakter wissenschaftlicher Rationalität orientierten, hätten sie keine geeignete Strategie gegen den Faschismus. Blochs Vorstellung eines wirklich aufgeklärten Vernunftgebrauchs in Wissenschaft, Gesellschaft, Kunst: Innere wie äußere Konflikte der Menschen ernst nehmen, zugleich individuelle wie gesellschaftliche Verdrängungsprozesse bewusst machen und so die mythische Denkweise überwinden.

Angeblich erlebt die Religion derzeit ein Wiederaufleben im säkularen Westen; wahrscheinlicher ist, dass sie nie wirklich verschwunden war. Verunsicherung, Ungenügen am herrschenden Realitätsprinzip, Hoffnungsleere, Haltsuche, all diese bei der Erklärung einer Renaissance der Religion genannten Phänomene, scheinen konstante Folgen eines ausschließlich von naturwissenschaftlicher Weltbetrachtung und ökonomischer Effizienz bestimmten Zeitalters zu sein, das einer aufklärerischen Selbstbegegnung ausweicht. Ein Umstand, der Blochs vor 80 Jahren entstandene, Lebens- und Seelenlagen der Menschen am Beginn der Moderne erkundende Kulturanalysen dem heutigen Leser erstaunlich nahe rückt.

Ernst Bloch: Der unbemerkte Augenblick. Feuilletons für die Frankfurter Zeitung 1916-1943. Hrsg. von Ralf Becker, Suhrkamp, Frankfurt am Main 2007, 360 S., 28 EUR


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