Eine Preview bei den Lumières

Im Gespräch Kunst beginnt früh: Der Medienwissenschaftler Klaus Kreimeier über die Kulturgeschichte des frühen Kinos, die er zuletzt in einem fulminanten Buch beschrieben hat

Der Freitag: Die Geschichte des Films ist – im Gegensatz zu jener von Musik oder Literatur – den Gebildeten in Deutschland nicht präsent? Aus welchem Grund?

Klaus Kreimeier: Ich erinnere mich, wie unglaublich lange die Filmkritik brauchte, um im Feuilleton großer bürgerlicher Tages-zeitungen akzeptiert zu werden. Bis dahin hatte man sie irgendwo versteckt. Sie wurde erst relativ spät als eine Form der kulturellen und gesellschaftlichen Reflexion wahrgenommen. Darin pflanzte sich das verdruckste Verhältnis der sogenannten Elite- und Bildungsschichten zum frühen Kino fort. Auch das Fernsehen hat dabei eine Rolle gespielt. Es hat in den sechziger und siebziger Jahren eine Menge dafür getan, frühe Filmgeschichte wieder lebendig zu machen – als reine Unterhaltung. Das waren diese berühmten Serien wie Väter der Klamotte. Das Fernsehen verschlang die frühen Slapstick-Filme, wie es auch heute alles verschlingt, was mit bewegten Bildern zu tun hat, schlug sie dem Publikum aber als Unterhaltungshäppchen am Vorabend um die Ohren, was die Vorurteile der Bildungsschichten nur noch verstärkte.

Wenn Sie viele der um 1900 entstandenen frühen Filmebe-schreiben, dann immer also auch, um zu zeigen, dass nichts daran „primitiv“ war.

Natürlich ist der Film vor 1914 noch nicht so weit wie der elaborierte Spielfilm, den wir heute kennen. Es ist eine Vorform, in der sich vieles noch entwickeln muss. Dabei interessieren mich all jene Filme, die aus einer einzigen Einstellung bestehen und nicht einmal zwei Minuten dauern, einen Clown, eine Ballerina oder zwei Figuren zeigen, die sich einen Streich spielen. Was mich interessiert, ist das ästhetische Gewicht eines solchen Films. Ganz erheblich unterscheidet sich die einzelne Kameraeinstellung von der Fotografie. Natürlich durch die Bewegung, aber Bewegung heißt ja auch: Es geschieht etwas, das weitergehen kann. Weil sich die Frage stellt, was denn im nächsten Moment oder im nächsten Bild passieren könnte, neigt jede einzelne Einstellung zum Transzendieren; sie weist über sich selbst hinaus. Die Potenz des Geschichtenerzählens ist, auch dort, wo nur etwas gezeigt wird, schon vorhanden. Das macht die frühe Kinematografie spannend. Zu sagen, wie es amerikanische Wissenschaftler tun, erst war da das pure „Cinema of Attraction“, dann erst kamen die Geschichten, ist zu schematisch.

Hat das Selbstverständnis der Macher dieser frühen Filme etwas mit dem heutigen Selbstverständnis eines Künstlers zu tun?

Pioniere wie Edwin S. Porter in den USA haben sich als avancierte Handwerker in diesem Medium empfunden, haben ständig experimentiert, visuelle Attraktionen geschaffen, sind auch für die Entwicklung von Genres prägend gewesen. Der Kunstbegriff wurde damals schon angewandt, mit ihm ist aber das Handwerk gemeint. Dass die Filmer sich selbst als Künstler verstehen, beginnt in Deutschland um 1910, mit den sogenannten Autorenfilmern. Der Schauspieler Paul Wegener, der reflektiert über das Kino geschrieben hat, hat sich dezidiert als Künstler verstanden.

Sie haben eine Kulturgeschichte des Kinos geschrieben, die eigentlich eine Kulturgeschichte der Moderne ist. In Arnold Schönbergs Oper Von heute auf morgen von 1929 fragt ein kleines Kind seine Eltern: „Was sind das, moderne Menschen?“ Wie würden Sie antworten?

Es kennzeichnet die Umbrüche um 1900 in viel schärferem Maße als das, was heute vor sich geht, dass die Menschen sich abrupt mit vielen Neuerungen auseinandersetzen mussten. Dampfmaschine oder Eisenbahn wurden noch halbwegs gemächlich in der Gesellschaft etabliert. Seit der Reichsgründung 1871 hat sich die Entwicklung rapide beschleunigt. Die Größe einer Stadt wie Berlin, um 1800 noch eine relativ friedliche Residenzstadt, hat sich vervielfacht. Auch die Migration innerhalb Deutschlands, die Verlagerung der Landbevölkerung in die Städte, war für viele ein Kulturbruch. Der moderne Mensch von 1900 wurde in immer kürzeren Zeitabständen mit Umwälzungen konfrontiert. Damit fertig zu werden, war nicht einfach.

Der moderne Mensch ist städtisch?

Wenn ich es richtig sehe, spricht man erst seit etwa 1900 überhaupt von der Moderne. Die Diskussion darüber, was modern ist, geht von den Metropolen aus und wird in den Großstädten geführt. Dabei sind natürlich auch viele Interessen im Spiel. Das Kulturbürgertum dieser Ära hat andere Interessen als die wirklichen Träger der Moderne, die Ingenieure und Wissenschaftler. Wenn wir jemanden wie den Italiener Gabriele D’Annunzio sehen, der ja als ein Prototyp der Moderne gesehen wurde, gerade auch mit seinem Antikenfimmel, dazu mit seiner prophetischen Aura, dann gehört der genauso zur Moderne wie etwa Sigmund Freud oder nüchterne Ingenieure, die in dieser Epoche die Entwicklung voranbrachten. Es kommt also vieles zusammen, was sich schwer auf einen Nenner bringen lässt. Übrigens interessiert mich aus jener Zeit gerade die Populärliteratur, wie zum Beispiel die Fortsetzungsromane in den Zeitungen, weil die genauer Auskunft über die Mentalität der Zeit geben als die großen Kunstwerke.

Mit dem Kino um 1900 beginnt für Sie ein neuer Zeitabschnitt, der von der „Medialisierung kollektiver Wahrnehmung“ gekennzeichnet sei. Was genau verstehen Sie darunter?

Seit der Zeit um 1900 ist nicht mehr zu übersehen, dass die Wahrnehmung unserer Umwelt immer mehr von den Wahrnehmungsstrategien der Medien beeinflusst wird. Dass wir etwa den Eindruck haben, was da gerade auf der Straße passiert, sei ja wie im Film – das geschieht täglich und bedeutet, dass wir die Medialisierung unserer Wahrnehmung auch reflektieren. Sie sprechen hier einen heiklen Punkt an, weil man die Frage stellen muss, ob Medien uns im anthropologischen Sinne ver-ändern. Darüber sind ganze Bibliotheken geschrieben worden. Will man Fundiertes dazu sagen, müsste man interdisziplinär zusammenarbeiten, etwa mit Neurologen. Meine Fragestellung ist eine kulturelle: In welcher Weise etwa sind Film, Fernsehen oder heute der Computer in der Lage, unser Wahrnehmungsverhalten zu modifizieren? Mich interessiert, wie uns diese Apparate im Alltag als soziale Wesen verändern.

Sie sagen, das Kino sei einerseits Symptom der Moderne, andererseits Teil der Reflexion darüber.

Die Kino- und Filmemacher wollten in erster Linie kleine, lustige Geschichten erzählen, nur die wenigsten waren sich darüber im Klaren, dass sie die Moderne realisierten und gleichzeitig auch über sie verhandelten. In der Tat hatte das Medium diese Doppelfunktion, es ist objektiv schon eines der Reflexion. Ich gehe so weit zu sagen, dass dieses Medium auch in der Lage war, angesichts all der neuen Anforderungen und Herausforderungen die Menschen kontingenztüchtig, also tüchtig für diese neue Epoche zu machen.

Viele frühe Filme zeigen Zugfahrten und Autoverfolgungsjagden. Sie sagen, hier werde das Tempo der Moderne in Szene gesetzt. Ist das damals so rezipiert worden?

Ich glaube schon, dass man im Kino gesessen und gedacht hat: Das ist das Leben auf unseren Straßen! Diese slapstickartigen Straßenszenen, die es nicht nur im amerikanischen Kino, sondern auch in den frühen Filmen der Firma Pathé gab – man sah darin in gewisser Weise den eigenen Alltag. Wichtig war aber, dass man sich auch über ihn erheben und lachen konnte. Das war eine Entlastung, auch von den Anforderungen der Moderne. Also: Das sind Grotesken gewesen, mit denen die Hersteller natürlich Geschäfte machen wollten. Ich versuche, diesem Lachen auf den Grund zu gehen – als Akt der Be-freiung von realen Zumutungen.

Es wirkt an manchen Stellen so, als betrachteten Sie das Kino als gleichsam antibürgerliches Medium. Kann man das so sagen?

Es gab zunächst ein großes technisch-naturwissenschaftliches Interesse an dem Medium. Die Lumières haben schon im März 1895 ein Special Screening für Wissenschaftler organisiert, die am menschlichen Körper und dessen Motorik im biologischen Sinne interessiert waren. Die begrüßten das neue Medium, denn nun hatte man etwas, mit dem man Be-wegungen studieren konnte. Das Interesse hielt an, war aber nur das einer Minderheit, nichts, was die Entwicklung wirklich vorantrieb.

Was war es dann?

Letztlich sind es Schausteller, Kleinunternehmer gewesen. Intellektuelle interessierten sich für den Film, aber die tragenden bürgerlichen Schichten verachteten ihn. Dann kamen die Bedenken-träger, die der Meinung waren, das Kino könne die Menschen auf gefährliche Gedanken bringen, womöglich eine soziale Revolution herbeiführen. Die Jahrzehnte vor dem Ersten Weltkrieg waren krisenhaft, eine Epoche, die politisch vibrierte. Dass es im wilhelminischen Deutschland eine Kino-reformbewegung gab, die sich Gedanken darüber machte, wie man das Medium volkspädagogisch vernünftig weiterentwickeln könnte, ist auf diese Situation zurückzuführen. Das ungezügelte Auftreten des frühen Films hielt zehn Jahre an, bis es die ersten Kinopaläste gab. Das Kino hatte sicher etwas von einer antibürgerlichen Provokation, aber ich zögere, es ein antibürgerliches Medium zu nennen, weil auch bürgerliche Kreise darin bald ein neues Geschäftsmodell sahen, weil es einen kapitalistischen Antrieb gab, das Medium voranzubringen, das sich in der Tat schnell als Erfolg erwies.

Jeder Slapstickfilm, schreiben Sie, sei ästhetisch moderner als ein verfilmtes Theaterstück.

Ich nehme damit Bezug auf eine Debatte, die erstaunlicherweise schon vor 1914 geführt worden ist. Das Thema: Ist der Film eine eigenständige Kunst oder nur eine Ergänzung von Literatur und Theater? Die Kulturinteressierten stritten damals darüber mit aller Heftigkeit. Ich schlage mich auf die Seite derer, die sagen: Film hat eine eigene Ausstrahlung, ein eigenes Vokabular. Unter diesem Gesichtspunkt ist Slapstick „filmischer“ – ein Ausdruck der filmspezifischen Technik und Ästhetik –, als es ein verfilmter Roman ist. Heute würde man diese Debatte wohl als unfruchtbar erachten. Doch sie war notwendig für die Selbstfindung des Kinos; um ein Verständnis für das Spezifische der filmischen Sprache zu entwickeln.

Es gibt ein Kapitel, in dem Sie zeigen, dass bestimmte Filme um 1910 die Klassenlage der auftretenden Figuren zeigen. Mir erscheint das als ein geheimes Zentrum Ihres Buches. Darf man es eine Filmgeschichtsschreibung von links nennen?

Dieses feine Gespür für die Klassenhierarchie ist Spezifikum einiger Gesellschaftsfilme, besonders der dänischen Melodramen um 1910. Sieht man sie heute, entdeckt man viele sinnliche Details der damaligen sozialen Realität, aus der Welt der gepflegten Kulturbourgeoisie. Wie diese Menschen wohnen, sich geben, sich bewegen: Man sieht eine Elite und lernt etwas über sie und somit über die Klassenlage des Landes. Wie in einem Roman von Stendhal oder Flaubert. Ein linkes Buch? Na ja, in den siebziger Jahren habe ich den Versuch gemacht, westdeutsche Filme streng marxistisch zu analysieren – meine maoistische Phase mit ihren abenteuerlichen Theorie-Verrücktheiten. Später meinte der Lektor meiner Ufa Story, dieses Buch hätte so nicht Gestalt annehmen können, hätte ich nicht diese politische Phase durchlaufen. Wahrscheinlich hat er recht. In einem Punkt habe ich es immer mit Hanns Eisler gehalten: Wer sagt: „Ich verstehe nur etwas von Musik“, versteht in Wirklichkeit auch nichts davon. Das gilt auch für das Kino. So verstanden, ist Traum und Exzess ein linkes Buch, klar.

Klaus Kreimeier, geboren 1938, Medienwissenschaftler und Publizist im besten Sinne, auch weil seine Laufbahn an der Uni 1974 durch den Radikalenerlass politisch behindert wurde. Späte Professur in Siegen (1997 – 2004), Bücher, Zeitungstexte – auch für den Freitag –, Radioarbeiten . Traum und Exzess. Die Kulturgeschichte des frühen Kinos ist bei Zsolnay erschienen

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