Quentin Tarantinos Film Inglourious Basterds hat eine Auseinandersetzung unter Filmkritikern provoziert. Daniel Mendelsohn, Autor eines Buches über den Holocaust in der Ukraine, hat dem Film in Newsweek vorgeworfen, er mache aus Juden Nazis. Sein Text wiederum wird in Deutschland kritisiert.
Allerdings: Manche von deutschen Kinorezensenten geäußerte Anmerkung zu Inglourious Basterds mutet fragwürdiger an als diejenigen des Amerikaners Daniel Mendelsohn. Cristina Nord schreibt in der taz, bei deutschen Filmemachern herrsche eine "Authentizitätshörigkeit" vor. Man kann es genau umgekehrt empfinden, nämlich so, dass der – künstlerischen – Phantasie hierzulande alle Tore offen stehen. Bernd Eichingers Hitlerfilm Der Untergang beispielsweise ist doch – bei aller akribischen Rekonstruktion des Führerbunkers – nicht einer Authentizitätshörigkeit entsprungen, sondern reiner Phantasie, die sich in einem Satz zusammenzufassen lässt: Hitler war es, er allein war – womöglich noch dieser oder jener in seiner näheren Umgebung – fanatischer Antisemit, Nazi, Kriegstreiber! Ist dies dann mit allen zur Verfügung stehenden cineastischen Mitteln klar gemacht worden, kann Hitlers unschuldig rehäugige Sekretärin (Alexandra Maria Lara) stellvertretend in einen strahlenden Sonnenaufgang laufen. Eine Reinigungsphantasie also, eine Katharsis: Erlöse uns von der Geschichte!
Wem soll Katharsis dienen?
Dazu: Neulich war im ZDF Der Raketenmann zu sehen, eine Dokumentation über Wernher von Braun. Als dargelegt wurde, dass englische Flieger die Forschungslabore von Peenemünde bombardierten, illustrierte man dies mit Bildern einer Bombardierung Hamburgs – mit Bildern eines anderen Ortes, Zeitpunktes, Ereignisses also (ohne diesbezügliche Quellenangabe; die Bilder konnte ich identifizieren, weil ich sie schon einige Male gesehen hatte). Es gab weitere derartige Momente im "Raketenmann". Inszenatorische Phantasie ist auch in deutschen Geschichtsdokumentationen maßgebend.
Wem gegenüber meinen Kritiker, legitimieren zu müssen, dass Tarantino eine Phantasie gedreht hat? Oder sollen die Argumente darauf hinauslaufen, zu sagen, angesichts des in Deutschland hergestellten weihevollen Geschichtsfilmschrotts haben wir mit Tarantino wenigstens jemand, der sich zum Schrott bekennt – mit allen Spiel- und Bewegungsfreiheiten, die solch ein Bekenntnis bietet? Allerdings bin ich mittlerweile an einem Punkt, Kino und Fernsehen mehr historisch-dokumentarische – und das heißt auch visuelle – Genauigkeit zu wünschen, statt noch mehr Phantasie oder Kunst. Und erlebe, dass genau dafür eigentlich niemand mehr mit Vehemenz eintreten mag.
Rüdiger Suchsland schreibt auf Telepolis, "Tarantino macht das, was nur das Kino kann: Den Gang der Geschichte ändern, der Phantasie, den Wunschvorstellungen freien Lauf lassen". Dies ist ein Punkt, der auch in andern Kritiken maßgeblich ist. "So verwandelt sich im flirrenden Irrealis des B-Pictures die Ohnmacht, die man angesichts des realen Verlaufs der Geschichte empfindet, in Aggression und Selbstermächtigung. Inglourious Basterds bietet den Raum, diese Empfindungen auszuagieren. Das ist eine befreiende Erfahrung", schreibt Cristina Nord. Ekkehard Knörer stellt im Perlentaucher Mendelsohns Einwänden "die kathartische und befreiende Wirkung von in der Phantasie ausgemalten Ersatzhandlungen" gegenüber. Katharsis. Eine Kunstmöglichkeit, immerhin 2.500 Jahre alt, aus dem Athener Theater, der antiken griechischen Kultur stammend. Das Problem mit Mendelsohns Tarantino-Kommentar scheint zu sein, dass er diese Kunstauffassung nicht teilt.
Die jüdische Kunstauffassung
Dabei haben andere Kunstauffassungen gute Tradition. Liest man die jüdische Thora, das Alte Testament der Bibel, zeigt sich: es ist ein Buch des Zorns und der Rache. Schon am Beginn ein Brudermord. Immer wieder zürnen der Gott der Juden und die Propheten, sprechen Vernichtungsandrohungen aus – und manche werden verwirklicht. Dieser Zorn richtet sich gegen Fremde, aber, was bemerkenswert ist, genauso gegen Angehörige der eigenen Kultur. Jedoch, im Verlauf dieses aus Texten verschiedener Zeiten zusammengesetzten Buches nehmen die Zorndarstellungen immer mehr ab. Und viele Forscher sehen es als die große, vergleichslose Besonderheit der alten jüdischen Kultur an, Rache und Gewalt – in Texten und Mythen wie im Verhalten – langsam in die Schranken gewiesen zu haben. Man sollte annehmen, dass die Geschichten der Thora nicht reine Phantasie sind, vielmehr fundamentale Auseinandersetzungen mit der Verfasstheit der eigenen Gesellschaft zum Ausdruck bringen.
In den neunziger Jahren gerieten der algerisch-jüdische Philosoph Jacques Derrida und der israelische Historiker Yosef Yerushalmi in einen Disput. Es ging dabei um die Auslegung der alttestamentarischen Geschichte vom Tod Moses, der auch Sigmund Freud faszinierte. Jacques Derrida schrieb: "Zunächst (…) hat man anzuerkennen, dass, wenn der Mord (an Moses, Red.) nicht wirklich stattgefunden hat, wenn er virtuell geblieben ist, wenn er nur beinahe stattgefunden hätte, die Absicht zu töten wirklich, tatsächlich und in der Tat erfüllt war." Man muss es nicht so sehen wie Derrida. Allein, in dieser Debatte werden ethische Dimensionen nicht ohne weiteres von der Kunst abgetrennt. Vielmehr wird das Fragen nach zivilisiertem Verhalten und Zerstörung aufgenommen, welches im Rahmen der alten hebräischen Kunst stattfindet. Was besagt, dass es durchaus zur Kultur gehören kann, nicht einfach Phantasien zu haben, sondern diese – und die Gegebenheiten aus denen sie rühren – zu ergründen. Kunst wird so zur bitteren Selbstbefragung und in dieser Weise aufklärerisch.
Aristoteles Vorstellung der Katharsis, der Reinigung von den Affekten auf dem Theater entstammt einer ehrenwerten antiken Demokratie, die zugleich eine Sklavenhaltergesellschaft war. Reinigung von den Affekten bedeutet auch Reinigung von allen belastenden, das Selbstempfinden beeinträchtigenden (Schuld-)Gefühlen. Kurzum, die Vorstellung der Katharsis kommt aus einer Gesellschaft, die nicht lernen will, sich um keinen Preis zu ändern gedenkt.
Wovon, bleibt zu fragen, soll das Ereignis Tarantino wen im Jahre 2009 befreien? Das Kino von dem in ihm vorherrschenden Spiel-, Spaß-, Metzel- und Phantasieverbot? Die Geschichte von ihrem tatsächlichen Verlauf? Juden etwa von der Unterdrückung ihrer Rachephantasien? Millionen Juden, welche aus dem hoch technisierten Europa ausziehen mussten, weil dessen Kultur keinen Schutz mehr bot gegen jene, die ihnen nach Leib, Leben und Eigentum trachteten; Millionen Juden, welche im Todessystem der Nazis umgebracht wurden?
Nach 1945 spürten Juden deutsche Massenmörder auf, exekutieren diese aber nicht, sondern führten sie der Gerichtsbarkeit zu. Dazu kehrten viele Juden, trotz tief sitzender Vorbehalte, nach Europa, schließlich sogar ins Land der Unmenschlichkeit Deutschland zurück, um hier als Bürger zu leben. Angesichts dessen lässt sich nachvollziehen, dass man Tarantinos filmische Phantasie von rächenden Juden, wie Daniel Mendelsohn es tut, merkwürdig und bedenklich findet; mindestens merkwürdig und bedenklich ist: nicht den Film als künstlerische Phantasie, sondern die Ausrichtung dieser Phantasie.
Phantasien gibt es schon zur Genüge
Rüdiger Suchsland schreibt angesichts einer Szene in Inglourious Basterds, diese sei "natürlich ein visuelles Statement gegen überhaupt jede Form des einfachen politischen Message-Kinos, es ist auch eine Forderung: Dass Filme eigentlich nur dann gut sind, wenn die Leinwand brennt, wenn sie voller Leidenschaft und Intensität das Publikum erbeben lassen." Es stellt sich schon die Frage, ob das ein filmästhetisches Argument ist, oder, ob sich im Gewand der Tarantino-Begeisterung ein alter deutscher Weg artikuliert, Freiheit und Nichtlangweiligkeit unter Beweis zu stellen, nämlich durch Anti-Intellektualismus?
Um Missverständnissen vorzubeugen: Demgegenüber sind Ekkehard Knörers und Cristina Nords Texte Feuerwerke intellektueller Lust an Analyse und Auseinandersetzung. Jedoch, auch für eine andere Auffassung – etwa die Mendelsohns – gibt es gute Gründe. Warum also kann man sich damit nicht ernsthaft beschäftigen, warum dominiert der Eindruck, dass auch avancierte Kritiker diese als lästig und ungemessen abwehren ? Mendelsohns Auffassung, meint Ekkehard Knörer, besage, "nicht an die kathartische und befreiende Wirkung von in der Phantasie ausgemalten Ersatzhandlungen zu glauben. Damit aber steht man denn doch gegen die großen sublimatorischen Werke und Mythen der Kulturgeschichte, von Homer bis Superman". Warum denn nicht gegen große Werke stehen, wenn diese angesichts völlig veränderter Wirklichkeiten und Anforderungen immer wieder beim antiken Griechen Aristoteles und beim Heroismus stehen bleiben? Also: Wie man es dreht und wendet, es will einem einfach niemand einfallen, dem mit dieser Befreiung qua Film geholfen wäre – außer Kinobesuchern, welche von ethischen Dimensionen – soll man sagen von Aufklärung – nicht belästigt werden wollen.
"Dass man den Faschisten gerechter wird", meint Rüdiger Suchsland auch noch, "wenn man sie als Monster und Bodysnatcher zeigt, als Unholde und Horrorgestalten in der Nachfolge des Nosferatu- und Mabuse-Kinos der Weimarer Republik." Allein, das genau ist es doch, was Bernd Eichinger und Bruno Ganz mit ihrem dämonischen Massenhypnotiseur und Wutmonster Hitler in Der Untergang dargeboten haben. Den Nazis gerechter werdend – und ganz andere Reflektionen inspirierend – kann man empfinden, was in Claude Lanzmanns Dokumentation Shoah zu sehen ist. Dort sehen die nach dem Krieg aufgespürten und heimlich gefilmten KZ-Leiter, Massenmörder, Unmenschen aus wie meine Nachbarn und benehmen sich auch wie diese. Und diese wiederum sehen aus wie die meisten Einwohner meiner Stadt, also doch mitunter wie ich selbst.
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