Krasse Fehlleistungen der Schiedsrichter strukturieren diese Fußballweltmeisterschaft, sorgen für Weiterkommen, Ausscheiden, kollektive Euphorie oder Depression. Aber es sind nicht einfach Fehlentscheidungen, sondern Fehlentscheidungen, die so offensichtlich zugunsten von bestimmten Teams ausfallen, dass der Glaube an Zufälle verloren gegangen ist. Die WM sei zu einem schlechten Witz, einer Pervertierung des Fußballs verkommen, solche Proteststürme gehen durch internationale Medien und durchs Internet, Möglichkeiten von Korruption werden diskutiert und, hoffentlich, überprüft. In Deutschland aber läuft diese Diskussion unter ferner liefen. Um zu verstehen warum, lohnt sich die Erinnerung an die WM 98.
Rückblende: Kurz nach der letzten WM verloren einige deutsche Vereinsmannschaften Vorbereitungsspiele gegen internationale Teams. Vorbereitungsspiele, das heißt, Urlaubsvertretungen von Mannschaften treten auf Provinzbolzplätzen gegeneinander an. Da gilt dasselbe wie für das Ostseebad-Tingeln von Schlagerstars im Karriere-Endstadium: Alle Tassen im Schrank hat jeder, der das Elend nicht freiwillig mit ansieht. Bild aber fragte angesichts der Niederlagen in riesigen Lettern "Sind wir nur noch Prügelknaben?" Was hatte "uns" dazu gemacht? Natürlich das als "Untergang des Flaggschiffs des deutschen Fußballs" metaphorisierte frühe Scheitern bei der WM.
Der Name für alles, was Fußballdeutschland damals depressiv machte, war Berti Vogts. Keine als Analyse getarnte Meinung, die nicht davon handelte, wie falsch Vogts schon immer alles machte und wie es deswegen so hat kommen müssen. Bild fragte beinahe täglich, wie Vogts einfach so weiterleben, beziehungsweise, weitermachen kann als Teamchef. Und brachte als Indizien seiner Unfähigkeit Fotos, auf denen Vogts aussah wie eine übersättigte, missratene, dekadente Ausgabe von Heinz Rühmann. Die taz errechnete zum Start der Bundesligasaison für jedes Team den "Berti-Faktor" für "stilloses Arbeiten auf und neben dem Spielfeld, das einem modernen sehenswerten Fußball im Wege steht". Statt, zum Beispiel, die Defizite des hiesigen Fußballsystems und ihrer Geschichte zu erzählen, erzeugte die Berichterstattung allein physiognomische Sichtbarkeit des Bösen.
Dieses Szenario folgte einem Muster, erinnerte an eine andere große Niederlage: 1945, das Land lag in Trümmern, die deutsche Seele war traumatisiert. Die alten Wahrheiten, Werte, Weltbilder und Wahrnehmungen hatten nicht mehr zu zählen, sie hatten zu der Katastrophe geführt. Ein Neubeginn war erforderlich. Auch damals kam alles, was gut war, von außen: Zivilisation, Menschenrechte, Demokratie, Emanzipation, Moderne, Popkultur. Während nach Weltkrieg 2 den Deutschen alles anerzogen werden musste, orientierte man sich 1998 umstandslos an brasilianischem, französischem, holländischem Fußball. Die mantragleiche Berti-Verteufelung fiel so heftig aus, damit niemand sich mit dem Berti in sich beschäftigen musste (also mit dem endlosen Denunzieren von wirklicher Kritik und Debatte zugunsten von guter Stimmung; dem ewigen Verkitschen von totaler - fußballerischer - Beschränktheit zur deutschen Tugend; dem Verklären der Benutzung jedes sich anbietenden Allgemeinplatzes zur medialen Intelligenz). Man lobte die Spielweisen der Anderen nicht, weil diese taktisch und technisch auf einem höheren Stand waren - dafür hatte man in all den Jahren des deutschen Fußballnarzissmus keinen Blick entwickeln können. Das Verlieren quälte so sehr, dass der Blick auf die erfolgreichen Anderen allein dazu da war, ein neues, eben erfolgreiches "Wir" zu phantasieren.
Vom WM-Desaster profitierte Günther Netzer. Mitten im Irrsinn des Sports und seiner Berichterstattung (nicht erst seit den Tour de France-Dopingexzessen eine Mischung aus Gesundheitsmagazin Praxis, Börsenmagazin, Werbung, Völkerkunde des 19. Jahrhunderts und Küchenpsychologie) verschaffte Netzer den Zuschauern das Gefühl von Vernunft und Überblick. Im Stadium der Niederlage strahlte er den Glamour der Nüchternheit aus. Auf die ewige Frage danach, wie viel Wandlung, wie viel Neues in ein System eingebaut werden muss und kann und wie viel Altes, wie viel Tradition erhalten werden soll und darf, verkörpert Netzer in der Modernität heischenden Aura des WM-Studios eine genauso ewige Sehnsucht: die nach dem Mann, der uns das Denken abnimmt, man kann auch sagen, nach einem Erlöser. Durch Netzer konnte man bequem weiter an die Struktur eines Spannung erzeugenden Thrillers glauben. Mit Vogts, dem rückständigen DFB und geldgeilen Spielern als den Bösen, mit Netzer und seinen Adepten als den Guten. Und so wurde Netzer zum Superstar des Status Quo. Bei einer Diskussion der Schlüsse, die fußballerisch, taktisch aus ´98 zu ziehen waren, hätte man das eigene Denken renovieren müssen, mit Netzer war man gleich wieder auf der richtigen Seite. Denn es geht der Berichterstattung ausschließlich um das Schreiben einer success story, bei der jeder als Gewinner und niemand als Verlierer dastehen will. Und so kann diese Berichterstattung immer wieder nur dieselben zwei Wahrnehmungsweisen erzeugen: Selbstüberhöhung und Hysterie.
Dass man in Sendungen wie dem ZDF-Sportstudio oder Ran nichts mehr über Sport erfährt, nichts über Team- oder Trainerarbeitsweisen, nichts über die jede Taktik ad absurdum führende desillusionierende Rolle des Zufalls, stattdessen nur noch Reaktionen auf Sport sieht, also jene Gesichter in Großaufnahme und Zeitlupe, die auch Filme zum Kitsch machen, daran hat man sich gewöhnt. Aber wird mittlerweile nicht entsprechend Sport betrieben und vor allem Fußball gespielt hierzulande? Als missmutig hingenommene, stümperhaft ausgeführte Vorbereitung auf das Eigentliche, den TV-Auftritt und seiner vom Heimatfilm übernommenen Botschaft "Mia san mia"?
Weil es der hiesigen Berichterstattung erkennbar nicht um das geht, was auf dem Platz tatsächlich geschieht, weil die deutsche Nationalmannschaft das Finale erreicht hat, also als Erfolg zu beschreiben ist, gibt es, auch bei Netzer, keinerlei Wahrnehmung ihres Stils: Sie spielt exakt genau so grauenerregend, limitiert, talent-, und willenlos wie die 98er-Mannschaft. Sie kommt aber weiter, weil sie das Glück hat, auf unfassbar durchschnittliche Gegner zu treffen. Allein, die Konventionen der Medien sehen Korrekturen durch die äußere Wirklichkeit nicht vor. Erst recht nicht durch einen Schiedsrichterskandal, der "unsere" WM zu vergiften droht.
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