Die Lashasa Palulu "laufen zu Hause nur auf den Händen, damit sie keine Fußspuren auf dem Boden hinterlassen." Überhaupt kennt dieser afrikanische Stamm eine Menge Rezepte, um sich im Leben zu behaupten. Die Kindheit zum Beispiel betrachten die Lashasa Palulu als einen langen Hindernislauf. Wenn er erwachsen ist, denkt ein Lashasa Palulu nicht einmal mehr an seine frühen Jahre: "Die Kindheit ist wie ein leeres Loch, eine große, runde Null. Wichtig ist nur, dass man sie überlebt."
Alles glatt gelogen. Oder erfunden. Teil einer Überlebensstrategie, in der die üblichen Verdächtigen - Fantasie, Witz, Spott, Ironie und Selbstironie - den Ton angeben. Dass der vierzehnjährige John physisch überlebt, steht freilich auf einem anderen Blatt.
"Du kennst mich nicht", beginnt John seine Erzählung wie einen Brief an seine Mutter, die im Übrigen nur ganz zum Schluss leibhaftig auftaucht. Sein Vater ist verschwunden, als John vier Jahre alt war. Seine Mutter arbeitet in einer Fabrik. Vor sechs Monaten hat sie einen neuen Mann ins Haus geholt. Damit hat für John ein Albtraum begonnen.
"Der Mann, der nicht mein Vater ist", aber im Verlauf der Geschichte sein Stiefvater werden soll, hat einen Laster und verschwindet manchmal auf einen "schnellen Fischzug". Ein Krimineller, wie sich herausstellen wird. Ein brutaler Säufer, der John misshandelt - aber so, dass man möglichst nichts sieht (Johns sensibler Musiklehrer bemerkt es trotzdem), und nur, wenn die Mutter nicht zu Hause ist. John erzählt ihr nichts davon, weil sein Peiniger ihm gedroht hat, aber auch aus Angst, sie könne sich gegen ihn entscheiden. Diese Angst zieht sich durch den Roman.
Nur in Gedanken kann John seiner Mutter von der Gewalttätigkeit ihres Freundes erzählen. In seinen Gedanken und Fantasien verschwistern sich Angst und Wut: "Die gute Nachricht ist, dass du zwar meine Vergangenheit geprägt und meine Gegenwart versaut hast - aber über meine Zukunft hast du keine Kontrolle mehr. Du kennst mich gar nicht."
In einem Wechselbad aus komischen Szenen und sich steigernden Konfrontationen mit dem prügelsüchtigen Freund der Mutter lernen wir einen per saldo liebenswerten Maulhelden und Hochstapler, Tollpatsch und Angsthasen kennen, der glaubt, sich selbst um so besser zu kennen. Mit enormem Aufwand betrügt er sich selbst. David Klass hat seinen Helden mit einer (manchmal allzu) hochgestochenen Sprache, mit unersättlicher Lust an vertrackten gedanklichen Kombinationen, ausschweifender Selbstironie und einer bisweilen surrealistischen Fantasie ausgestattet. Doch der weiß offenbar nicht, dass all sein drolliges Reden und Agieren Maskerade ist. Purer Selbstschutz. Kompensation von Minderwertigkeitsgefühlen.
Klass überrumpelt die Leser zunächst mit Johns auf Übertreibungen, Überspitzungen, Spitzfindigkeiten und allerlei erzählerischen Tricks aufgebauter Sicht der Dinge. Eine Geschichte kommt vor lauter Sprachakrobatik, die irgendwann zu ermüden beginnt, nur zögernd in Gang. Als Klass das Tempo anzieht, läuft sie allerdings auf Hochtouren. Der Autor katapultiert seinen Helden in den ganz normalen Wahnsinn seiner kleinen amerikanischen Heimatstadt, in dem die Schule, die "Anti-Schule", um mit John zu sprechen, den zentralen Ort abgibt, mit den Schwerpunkten Mathe- und Musikunterricht. Denn John spielt die Tuba. Genauer gesagt: er kämpft mit seiner Tuba, die "in Wirklichkeit" ein Ochsenfrosch ist.
Schüler, Lehrer und Eltern bewegen sich stets auf der Grenze zu Karikatur und Lächerlichkeit. John taumelt von einer schmerzlichen Erfahrung in die nächste. Einer seiner so genannten Freunde erklärt ihm gar den Krieg, weil John sich in seiner Abwesenheit an die von beiden umschwärmte Klassenschönheit, "Glory Halleluja", eigentlich Gloria herangemacht hat. Zu den Leiden der Kindheit kommen die der Pubertät.
Ein Basketballspiel und Johns erster Kuss enden im Chaos. Glorias Vater dreht durch. Die Schöne entpuppt sich als Miststück. Ihren Höhepunkt erreicht diese Nacht, als der Freund der Mutter ihn erst verprügelt und danach in seine kriminellen Machenschaften einweiht, aber so, dass John nichts wird beweisen können.
Im Mathe-Unterricht von "Mrs Mondgesicht" kommt es zum Eklat. John stürzt, vom Unterricht suspendiert, ab. Die "Wilde Violet", für die er bisher nur Spott übrig hatte, hilft ihm zwar. Aber dann kommt es noch schlimmer. Und dennoch zum Happy End. John erwischt einen Zipfel vom amerikanischen Traum und singt das Hohelied der Mutterliebe: "Du kennst mich also doch, Mom. Du kennst mich wirklich." Das ist, wie´s so daher kommt, ein bisschen dick und aufgesetzt. Durch Nacht zum Licht, oder so.
"Bei den Lashasa Palulu, dem Stamm, der kein Stamm ist, bekommen Kriegshelden, die im Kampf verwundet wurden, keine Medaillen. Sie tragen ihre Narben als Beweis ihrer Tapferkeit. Bei Dorffesten sitzen sie auf einem Ehrenplatz und es wird von ihnen erwartet, dass sie die Festivitäten eröffnen." En berühmter Musikprofessor spielt beim Weihnachtskonzert das Tuba-Solo (das der Musiklehrer für John geschrieben hatte) weil John noch einen dicken Verband über dem Gesicht hat.
Es riecht nach Friede, Freude, Eierkuchen.
David Klass: Ihr kennt mich doch nicht. Aus dem Ameriknaischen von Alexandra Ernst. Arena-Verlag, Würzburg 2001, 269 S., 24,80 DM
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