Im kanadischen Original heißt das Buch lapidar Angel Square. Der Angel Square liegt in Lowertown, Ottawa. An diesem Platz gibt es drei Schulen. In die eine gehen die Frankokanadier, Franzmänner genannt; in die zweite die irischen Katholiken, kurz Katholen; in die dritte die Schüler jüdischer Herkunft, kurz Juden. Viermal am Tag, zweimal vormittags, zweimal nachmittags, ist der Angel Square Schauplatz heftigster Prügeleien zwischen den Schülern verschiedener Herkunft, teils einzeln, teils in Banden.
Gleich zu Beginn liefert Tommy, Brian Doyles Ich-Erzähler, eine ziemlich hinreißende Schilderung dieser Kloppereien. Dann macht er sich selbst auf den Weg, ausnahmsweise allein: "Auf dem ganzen Platz zerrten sich Katholen, Franzmänner und Juden gegense
en gegenseitig die Ärmel von den Mänteln und versuchten einander in Stücke zu reißen ...Ich hatte Glück. Ich hatte nur drei Schlägereien gehabt. Zwei verloren und eine gewonnen ...Priester und Lehrer liefen herum und trieben uns alle zur richtigen Schule ... In wenigen Augenblicken würde der Platz leer gefegt sein. Nur Hunderte von Handschuhen und Mützen und Teile von Mänteln würden zurückbleiben, als dunkle Tupfen im weißen Schnee."Tommy sagt von sich, er sei "gar nichts". Er geht in die Schule, in die die Juden gehen. Dass er "gar nichts" ist, hat seine Vorteile. Tommy bohnert die Fußböden in der Talmud Thora, singt im Chor der St. Albany's Church (protestantisch) und macht den Messdiener in der St. Brigit's Church (katholisch). Außerdem jobbt er bei Woolworth und schreibt Strafarbeiten für Mitschüler, weil er der beste Strafarbeitenschreiber der Klasse ist: "Ich hielt drei Stifte zwischen den Fingern und schrieb so drei Zeilen gleichzeitig."Weihnachtszeit, 1945. Das erste Weihnachten nach dem Krieg. Es schneit wie verrückt. Die Stadt scheint im Schnee zu versinken. Truthähne sind noch knapp, selbst Hühnchen. Und Tante Dottie muss mal wieder eine "Falsche Ente" zubereiten. Das Geld, das Tommy verdient, braucht er für Weihnachtsgeschenke. Für die Familie, bestehend aus Dad, der die unmöglichsten Witze macht, Tante Dottie mit ihrer Angst vor Bazillen, und Tommys älterer Schwester Pamela, die geistig behindert ist, immer am Fenster sitzt und auf die Straße schaut. Und für seine Freunde Gerald (Kathole), CoCo (Franzmann) und Sammy (Jude). Und nicht zuletzt für seine Klassenkameradin Margot Lane, die als einzige nicht weiß, dass Tommy in sie verknallt ist. Seine Karten an sie hat er immer mit "Der Schatten" unterzeichnet.Tommys bester Freund ist Sammy. Kurz vor Weihnachten wird Sammys Vater, der als Nachtwächter im Straßenbahndepot arbeitet, überfallen und zusammen geschlagen. Von einem Mann, der eine improvisierte Maske trägt. "Weil er Jude ist", sagt Tante Dottie. Tommy, Gerald und CoCo machen sich auf, den Täter zu finden. Am Ende spürt ihn Tommy auf, einen hässlichen, bösen, armseligen Antisemiten und Liebhaber brutaler Kriegscomics, in denen "Japse" und "Krauts" mit Schürhaken und schwarzen Stiefeln auf hübsche Mädchen losgehen. Tommy rächt sich auf seine Weise: er verteilt an alle Nachbarn Zettel, in denen er als "Schatten" den Rassisten outet.Weil es im wirklichen Leben nicht immer so zugeht wie es sollte, versucht Tommy es zum ersten Mal in seinem Leben mit einem Gebet. Er wünscht sich eine schöne Zeit. Eine Zeit, in der zum Beispiel niemand mehr angespuckt wird, "weil es bei ihm andere Sachen zum Mittagessen gab oder sein Vater vielleicht einen Bart hatte und einen langen Mantel trug (...) Eine Zeit, in der, wenn man zum Beispiel ein Mädchen gern hatte, niemand ankam und einem den Arm verdrehte, um einen zu zwingen, schmutzige Sachen über sie zu sagen." Aber er ist durchtrieben genug um festzustellen: "Vielleicht half das Gebet ja, dachte ich. Vielleicht auch nicht. Es würde ein Geheimnis bleiben."Brian Doyles wunderbares Buch ist weit mehr als ein Kinderkrimi. In ihm ist ein unverwechselbares Stück Kindheit aufbewahrt. Auf so gleichzeitig lakonische und sinnliche Weise, dass vor unseren Augen ein Mikrokosmos von Lowertown, Ottawa, entsteht. Wir können die Pferdeäpfel riechen und den in Massen fallenden Schnee schmecken. Wir ziehen mit Tommy und den andern um die Blocks und gehen ins Kino, wo sie ballersüchtige B-Western, zum Nachspielen animierende Gangsterfilme und Abbott und Costello zeigen.Bei alledem geht es in Der Mann mit der Maske niemals sentimental-nostalgisch zu, sondern detailgenau und pointiert, getragen von einem Humor, der seine Komik aus der Übertreibungslust der Kinder bezieht und nicht selten ins Skurrile, gar Surreale changiert. Was oft wirklich umwerfend ist - sei es in der Schilderung von Lehrern (Miss Eck und Miss Frack mit ihren riesigen Brüsten) und Mitschülerinnen und Mitschülern (Fleurette Featherstone Fitchell, das "versauteste Mädchen", und Margot Lane "in all ihrer Schönheit"), der Beschreibung von Schulstunden oder der bizarren Ausmalung komischer Situationen.Zum Schluss schenkt Margot Lane (die echte) Tommy einen gemeinsamen Spaziergang zu Weihnachten: "Froh. So froh! Frohe Weihnachten."Brian Doyle: Der Mann mit der Maske. Aus dem Englischen von Sylke Hachmeister. Verlag Oetinger, Hamburg 2000, 160 S.,19,80 DM