Das Salz des Lebens

Arbeit Unser Job ist das, was uns ausmacht. So haben wir es gelernt. Warum es an der Zeit ist, diese Idee endlich zu verabschieden
Ausgabe 51/2017
Das Salz des Lebens

Illustration: der Freitag

Die Arbeit sei das Salz des Lebens, schrieb Paul Lafargue, der Schwiegersohn von Karl Marx, in seinem Traktat Das Recht auf Faulheit. Arbeit soll also das Leben würzen. Heute spüren immer mehr Menschen: Unser Leben ist versalzen.

Warum aber ist es so schwierig, uns von der Vorstellung der zentralen Stellung von Erwerbsarbeit in unserem Leben zu lösen? Die kulturelle Hegemonie der Lohnarbeit – die Verknüpfung von Identität mit unserer Stellung im Erwerbsprozess – herrscht aller Aufklärung zum Trotz ungebrochen fort. Weder feministische noch ökologische Argumente haben bisher viel an der herrschenden sozialen Norm von Vollzeitbeschäftigung in Lohnarbeit ändern können.

Dabei ist die moderne kapitalistische Lohnarbeit als lebenslange Vollzeiterwerbstätigkeit nicht vom Himmel gefallen, sie musste sich historisch erst gegen ihre Vorläufer durchsetzen: bäuerliche und handwerkliche Formen der Subsistenzwirtschaft. Zum gewaltsamen Prozess dieser Durchsetzung gehörte nicht nur eine eiserne kapitalistische Fabrikdisziplin, sondern auch eine ganze Reihe von Enteignungen von Land und Produktionsmitteln sowie ein mächtiger staatlicher Apparat der Disziplinierung und Dressur von Menschen, die den Lohnarbeiter als kapitalistische Arbeitskraft überhaupt erst hervorgebracht haben. Als „normale“, das heißt als legitim anerkannte Lebensform ist die kapitalistische Arbeitsgesellschaft erst in der sozialstaatlich eingerahmten Industriegesellschaft entstanden. Dazu gehörte zum einen ein Klassenkompromiss, zum anderen die Institution der patriarchalen Kleinfamilie mit geschlechtsspezifischer Arbeitsteilung. Erst dann erscheint diese Gesellschafts- und Lebensform nicht mehr einfach nur als Gewalt und Ausbeutung, sondern als legitime politische Ordnung. Und erst dann kann die Arbeit und der Arbeitsplatz so etwas wie eine spezifische soziale „Identität“ des Arbeiters erzeugen.

Unsinnige Scheinbeschäftigung

Voraussetzungen sind aber relativ sichere Arbeitsplätze im Industriesektor zum einen sowie die kulturelle Norm von geschlechtsspezifischer Ungleichheit und geschlechtsspezifischer Arbeitsteilung zum anderen. Beide Voraussetzungen sind heute zerfallen: Sowohl die historische Verknüpfung von Arbeiter-Identität und lebenslangem Vollzeitjob als auch die als „normal“ geltende Befreiung des männlichen Arbeiters von Haushalts- und Erziehungsarbeiten lösen sich auf. Diese Krise der Arbeitsgesellschaft dauert bereits seit Jahrzehnten an, hat aber noch nicht zu neuen sozialen Institutionen geführt. Seitdem werden fortschrittliche Alternativen wie radikale Arbeitszeitverkürzung oder ein bedingungsloses Grundeinkommen diskutiert. Sie stehen einem immer noch mächtigen Arbeitsgesellschaftskonservatismus gegenüber, der von den meisten großen Parteien sowie von Unternehmer- und Gewerkschaftslager geteilt wird. Das Festhalten am identitätsstiftenden Charakter von Lohnarbeit als zentraler sozialer Grundnorm ist ihr Mantra, auch wenn die Abnahme sicherer sowie einigermaßen existenzsichernder und qualifizierter Jobs nicht mehr zu leugnen ist.

Zwar gibt es mittlerweile ein wachsendes Unbehagen an den vielen Formen von ökonomisch unsinniger Scheinbeschäftigung und Mehrarbeit sowie an der chronischen Unterbewertung unbezahlter, zumeist weiblicher Arbeit. Doch die politische Formel, auf die man sich geeinigt hat, scheint weiterhin die herrschende Norm männlicher Lebensverläufe zur Voraussetzung zu nehmen. Die Benachteiligung weiblicher Lebensverläufe wird mit der einfachen Losung beantwortet: mehr weibliche Erwerbsbeteiligung. So werden die Doppel- und Mehrfachbelastungen chronisch, in denen sich Menschen wiederfinden, wenn sie sich nicht nur für Lohnarbeit, sondern auch für unbezahlte familiäre und andere soziale Arbeit zuständig fühlen. Man bürdet sie den Betroffenen als ihr Privatproblem auf und versucht, die Nachteile mit teuren öffentlichen Betreuungseinrichtungen abzumildern. Zugleich zeichnet sich längst ein Projekt der sozialen Spaltung ab: Die Besserverdienenden und Höherqualifizierten lösen ihre Probleme der Haus- und Sorgearbeit, indem sie sie an andere delegieren. Willkommen in der Dienstbotengesellschaft.

Ob uns auf die Frage nach der Zukunft der Arbeitsgesellschaft eine politisch und kulturell überzeugende Antwort einfällt, hängt davon ab, ob wir uns bewusst sind, dass es hier um die Neuerfindung der Gesellschaft geht. Das ist ein politisches, vor allem aber ein kulturelles und sozialphilosophisches Problem. Die absehbaren Potenziale der Rationalisierung von Arbeit hängen nur dann als Damoklesschwert über der Gesellschaft, wenn wir weiter Angst davor haben, dass insgesamt die Menge gesellschaftlich notwendiger Arbeit zurückgeht. Dieser Angst können wir nur mit einer konkreten Fortschrittsidee begegnen: einem Bild von einer möglichen anderen Gesellschaft, einer Vorstellung von einem guten Leben für alle. Doch die derzeit herrschenden Eliten in Politik, Gewerkschaften, Wirtschaft, Kultur und Medien schrecken vor dieser fortschrittlichen Vision zurück.

Die Tatsache, dass die klassischen emanzipatorischen Arbeitsutopien heute trotz gewichtiger feministischer und ökologischer Argumente weniger attraktiv erscheinen als noch in den 1980er Jahren, ist wohl darin begründet: Die große Mehrheit der Mitglieder der diskutierenden Klasse kann heute zwar manchmal von ihren Arbeitsinhalten, nicht aber von ihrem professionellen Habitus her als fortschrittlich gelten. Sie sind der herrschenden Ideologie der Beschäftigung verfallen. Schon allein von ihrer eigenen Lebenspraxis her können sie sich ein Leben jenseits der Arbeitsgesellschaft kaum vorstellen, stattdessen unterwerfen sie sich einem Regime der Überbeschäftigung. Damit steigern die Professionseliten den Wert der eigenen Person im sozialen Konkurrenzkampf um Anerkennung, Sozialprestige und Sichtbarkeit zu Lasten von anderen.

Konkurrenz um Sozialprestige

Einzig in Bezug auf die Aufteilung der Zeit für Familie, Haus- und Sorgearbeit scheint es bisher einen Konsens für Arbeitszeitverkürzungen zu geben. Das betrifft staatliche Reformen der Familien- und Gleichstellungspolitik ebenso wie neuerdings gewerkschaftliche Forderungen. So sieht die aktuelle Tarifforderung der IG Metall – genau wie ein Gesetzentwurf der ehemaligen Bundesministerin für Familien, Frauen, Senioren und Jugend, Manuela Schwesig – eine selektiv auf solche Bedürfnisse zugeschnittene lebensphasenspezifische Arbeitszeitverkürzung vor, nicht aber eine generelle. Das Zurückschrecken der IG Metall vor dem eigentlich logischen nächsten Schritt, dem Kampf für die 30-Stunden-Woche nämlich, zeigt, wie es heute um fortschrittliche Arbeitszeitpolitik bestellt ist.

Zwar lassen sich immer mehr Argumente für eine Reduzierung der Arbeitszeiten finden. Aber die Forderung nach einer generellen Veränderung der herrschenden Tarifnorm, und damit der wichtigsten Vorgabe für die zeitliche Struktur im Alltagsleben der Menschen, findet aktuell keine Mehrheit. Alle segeln jetzt unter der Flagge der Flexibilität – anstatt dass Progressive für eine generelle Änderung der herrschenden Norm einträten.

Flexibilität statt Fortschritt

Der Kampf um die Normalarbeitszeiten ist der Kampf, an dem sich die fortschrittliche Qualität einer Gesellschaft entscheidet. Nach 20 Jahren Stillstand ist es Zeit für eine neue Etappe. Die Fortschritte der technischen Produktivkraft geben eine weitere Verkürzung der Arbeitszeiten längst her. Doch es scheint, als ob die maßgeblichen gesellschaftlichen Akteure an einer Art von „Shifting-Baseline-Syndrom“ leiden: Sie können sich maximal eine Bewahrung erreichter Niveaus von sicherer Beschäftigung und sozialstaatlichen Rechten vorstellen, nicht aber eine fortschrittliche Höherentwicklung der Formen sozialer Arbeitsteilung. Die Formel des Ökosozialisten André Gorz „Weniger arbeiten, damit alle arbeiten, und besser leben können“ zeigt, worum es gehen könnte.

Fortschrittliche Arbeitspolitik zielt auf eine generelle Verkürzung und soziale Umverteilung aller Arbeitszeiten und Arbeitsarten, aller Qualifikationen und Belohnungen ab. Das ist eine klare Vision von sozialer Gerechtigkeit, Geschlechtergerechtigkeit und ökologischer Nachhaltigkeit. Aus meiner Sicht ist dies der Kern des Narrativs einer zukünftigen Linken, das es ungleich selbstbewusster zu vertreten gälte als bisher. Nur wenn die intellektuellen und politischen Eliten auch sich selbst in solche Überlegungen einbeziehen, und das heißt, wenn sie sich auch für sich selbst ein anderes, vielfältigeres Leben, mit anderen Schwerpunkten und Identifikationen außerhalb von Erwerbsarbeit vorstellen können und wünschen, sind sie in der Lage, glaubwürdig für eine Gesellschaft jenseits des Primats der Lohnarbeit einzutreten. Das beinhaltet dann eben auch den Einsatz für die Teilung von Führungspositionen in Kulturinstitutionen, Medien, Hochschulen, Partei- und Gewerkschaftsapparaten. Die große Masse prekär beschäftigter Wissensarbeiterinnen lebt ohnehin schon lange so – nur bisher eben ohne die nötige materielle und symbolische Anerkennung.

Die Eroberung von immer mehr freier Zeit für menschliche Entwicklung und Entfaltung ist die Voraussetzung dafür, dass alle Arbeiten und Belohnungen fair verteilt werden können. Noch immer ist es Marx, der am klarsten gesehen hat, worum es geht, wenn er in den Grundrissen schreibt: „Die freie Zeit – die sowohl Mußezeit als Zeit für höhere Tätigkeit ist – hat ihren Besitzer natürlich in ein andres Subjekt verwandelt, und als dies andre Subjekt tritt er dann auch in den unmittelbaren Produktionsprozeß.“

Wenn wir der wirtschaftlichen Produktivitätssteigerung einen fortschrittlichen Sinn geben wollen, dann muss sich die Verknüpfung von Identität und Vollzeitlohnarbeit ändern. Es geht dabei nicht um ein abstrakt vorgestelltes, sondern von vielen bereits konkret erfahrenes Bild eines vielfältigen Lebens. Darin sind wir zugleich in Erwerbsarbeit, in Haus- und Familienarbeit, im politischen Gemeinwesen und in der Kultur tätig. Damit verbindet sich die Vision eines besseren Lebens, aber auch einer gestärkten Demokratie: Wenn das durch die freie Zeit verwandelte Subjekt in den wirtschaftlichen Prozess zurückkehrt, dann kann es dort ungleich souveräner auftreten und ihn demokratisch umgestalten.

Michael Hirsch ist Philosoph, Kunsttheoretiker und Politikwissenschaftler. 2016 erschien sein Buch Die Überwindung der Arbeitsgesellschaft

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