Die Masse macht’s

Internet Der Schwarm und die Medien. Nicht nur bei der Recherche verlassen sich Journalisten auf die Mithilfe ihrer Leser. Aktuelles Beispiel: Der Trafigura-Skandal

„Die Leser wissen viel mehr als die Journalisten“ – diesem Grundsatz des New Yorker Journalismusprofessors Jeff Jarvis folgen Medien allmählich, bei den meisten können Leser Beiträge unmittelbar kommentieren. Angelsächsische Medien setzen inzwischen auch bei der Recherche auf die Mitarbeit der Leser, in Deutschland fehlen bislang vergleichbare Beispiele. Der Begriff „Crowdsourcing“ kommt vom US-Autor Jeff Howe, der es als einen „offenen Aufruf an eine große, undefinierte Gruppe von Netznutzern“ definiert.

Im Unterschied zum traditionellen Journalismus, der gezielt Informanten um Hinweise bittet, hofft man beim Crowdsourcing auf Leute, die vielleicht gar nicht wussten, dass man genau ihre Informationen braucht. Mit Erfolg, wie das US-Blog Talking Points Memo beweist. Zu den Lesern gehören viele Spezialisten, sie unterstützten Betreiber Joshua Micah Marshall im März 2007 bei seinen Recherchen über die Bush-Regierung: In acht US-Bundesstaaten wurden missliebige Justizminister entlassen, Marshall schöpfte Verdacht. Über 3.000 Seiten Material erzwang er sich von den Behörden, mit Unterstützung der Masse konnte er schon nach wenigen Stunden erste Ergebnisse auf seiner Website veröffentlichen. US-Justizminister Alberte Gonzales musste schließlich zurücktreten, Marshall bekam einen Journalistenpreis.

Eine ungewöhnliche Aktion startete in den USA das öffentliche Radio-Netzwerk NPR. Die Redakteure luden im Juni 2009 ein Foto hoch. Es zeigt nicht die 22 Senatoren, die im Ausschuss über die Gesundheitsreform debattierten, sondern ihr Publikum, darunter reichlich Lobbyisten. NPR bat seine User um Hilfe bei der Identifizierung der Abgebildeten – eine ganze Reihe ist inzwischen erkannt. Wenn man auf ihre Köpfe klickt, erfährt man Name, Lobby-Organisation und wie viel Geld bei dieser Gruppe im Jahr 2008 im Spiel war.

Auf der anderen Seite des Atlantiks musste der Londoner Guardian Mitte 2009 mit ansehen, wie sein Konkurrent Daily Telegraph ständig neue exklusive Geschichten über unsaubere Spesenabrechnungen von Parlamentariern veröffentlichte. Als klar wurde, dass das Unterhaus die Dokumente öffentlich machen würde, wagte sich der Guardian ans Crowdsourcing. Denn nur mit Unterstützung der Masse konnte man diesen enormen Aktenstapel bewältigen. Innerhalb weniger Tage entwickelte die Zeitung eine optisch ansprechende Website, und war rechtzeitig damit online.

Auf der Startseite der Guardian-Datenbank zeigt ständig ein Verlaufsbalken, wie viele der über 450.000 Seiten die Leser geschafft haben. „Nur noch 244.770 übrig“, hieß es am Nachmittag des 19. Oktober über das Gesamtziel – also fast die Hälfte. Für jede Dokumentenseite stehen dem Leser vier Kategorien zur Auswahl : Irrelevant; wichtig; schon bekannt; oder „Investigate this!“ Die Journalisten machen sich dann sofort an die Arbeit. Die Zeitung fügte auch eine Übersicht für jeden einzelnen Abgeordneten hinzu, was die Beteiligung der Leser erheblich steigerte. Der Guardian veröffentlicht die neuen Ergebnisse, jeder kann sie einsehen und kommentieren. Diese Interaktivität ist ebenfalls wichtig, damit die Leser an der Sache dranbleiben. Aus der Zusammenarbeit werden am Ende exklusive Geschichten.

Einen sehr interessanten Ansatz verfolgt die Website „Help A Reporter Out“, die Journalisten und freiwillige Unterstützer weltweit zusammenbringt. Der Leser registriert sich und erhält anschließend drei Mails pro Tag mit Fragen von Journalisten. Die sehr simple Seite appelliert an das Verantwortungsgefühl des Einzelnen, Journalisten nicht mit Quatsch zu behelligen. Bis Anfang September war „Help a Reporter“ so weit gewachsen, dass die über 80.000 Mitglieder monatlich 3.000 Fragen bekamen.

Leser unterstützen Medien auch auf andere Weise beim Schwarm-Aktivismus. Im Trafigura-Fall spekulierte der Guardian zu Recht auf die Kampagnen-Fähigkeiten seiner Leser. Chefredakteur Alan Rusbridger twitterte am 12. Oktober einen Link auf den Artikel, in dem der Guardian beschrieb, dass er komplett juristisch geknebelt sei. Schon am späten Abend desselben Tags hatten Leser kombiniert, dass es sich um Trafigura handeln musste, Tausende verbreiteten das Thema. Begriffe wie „Trafigura“, „Guardian“, „Scandal“ stiegen zu den meistverwendeten auf Twitter auf. Blogger griffen das Thema auf, klassische Medien wie der Spectator zogen nach. Der Druck einer nicht mehr kontrollierbaren Öffentlichkeit zwang Trafiguras Anwälte in die Knie, schon am nächsten Mittag ließen sie einen Teil der gerichtlichen Verfügung fallen.

Auch einflussreiche deutsche Blogs wie netzpolitik.org haben eine große Anzahl von Online-Unterstützern. Als Betreiber Markus Beckedahl im Januar 2009 ein ihm zugespieltes Deutsche-Bahn-Papier zur Spitzelaffäre veröffentlichte, bekam er von den DB-Anwälten schnell eine Abmahnung. Beckedahl erfuhr über Twitter und andere Blogs und Websites eine enorme Unterstützung. Leser schlugen vor, Geld für den Prozess zu sammeln. Beckedahl ließ das Dokument online, die Bahn-Anwälte zogen die Abmahnung wenige Zeit später zurück.

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