Ödipale Transatlantiker

Außenpolitik Der kühle Blick auf die USA fällt Berlin und Brüssel immer noch schwer. Das hat Gründe, aber sie sind nicht gut
Ausgabe 08/2019
Symbolisch sind EU und USA sich oft nahe. De facto gibt es noch große Gräben zu überwinden
Symbolisch sind EU und USA sich oft nahe. De facto gibt es noch große Gräben zu überwinden

Foto: John Thys/AFP/Getty Images

Zu den großen Mysterien der Berliner und Brüsseler Politik gehört die Lust an der Selbstkasteiung. Liegt es im Interesse Deutschlands, dass deutsche Autoimporte als Sicherheitsgefahr für die USA eingestuft werden? Dass die deutsch-russische Erdgaspipeline Nord Stream 2 von Washington dämonisiert und uns stattdessen der Kauf überteuerten amerikanischen Fracking-Gases aufgenötigt wird? Dass die USA den INF-Vertrag mit Russland aufgekündigt haben, der die Stationierung von atomaren Mittelstreckenwaffen an Land verbietet – was zwangsläufig einen atomaren Rüstungswettlauf auch in Europa zur Folge haben wird?

Hiesige Entscheidungsträger reagieren auf diese und alle anderen Zumutungen der Regierung Trump in erster Linie willfährig, kopflos und bar jeder politischen Strategie. Wäre der Begriff nicht historisch belastet und vergeben, träfe das Wort Appeasement die europäische Haltung gegenüber Washington sehr genau. Natürlich wird niemand ernsthaft für einen Konfrontationskurs gegenüber den USA plädieren. Was aber hindert Berlin und Brüssel daran, selbstbewusst eigene Interessen zu vertreten und sich Einmischungen in ihre inneren Angelegenheiten zu verbitten? Woher rührt diese geradezu masochistische Lust, freiwillig den militärischen Juniorpartner der USA etwa im Nahen und Mittleren Osten zu spielen, neudeutsch umschrieben als „mehr Verantwortung übernehmen“?

Eine Antwort liegt in der Selbstwahrnehmung der überaus einflussreichen „transatlantischen“ Netzwerke in Politik, Wirtschaft und den Medien. Aus deren Sicht sind die USA, die NATO und die EU eine „Wertegemeinschaft“, die weltweit für Freiheit, Demokratie und Menschenrechte einstehe. Sie halten Trump für einen Elefanten im Porzellanladen, für ein singuläres Übel, das es auszusitzen gelte. Sie erkennen nicht, dass die USA eine Weltmacht im Niedergang sind, die sich einem Dialog auf Augenhöhe mit Russland und China verweigert und stattdessen auf „Druck“ setzt, um verlorenen Einfluss wettzumachen, ganz unabhängig von Trump. Gerade deutsche „Transatlantiker“ leiden erkennbar unter einem ödipal anmutenden „Übervaterverlust“ – sie können nicht länger einfach nur Regieanweisungen aus Washington befolgen, im Namen einer höheren Moral, sondern müssen lernen, selbst zu denken und zu handeln. Das schmerzt, vor allem bei fehlendem Rückgrat.

Die US-geführte Intervention in Afghanistan dauert bald 18 Jahre. Fast doppelt so lange wie beide Weltkriege zusammen. Was hat sie den Menschen dort gebracht, außer Verheerung? Militärisch sind die Taliban nicht zu besiegen. Insoweit ist es nur konsequent, dass Washington in Katar mit ihnen über einen US-Truppenabzug verhandelt, der eher früher als später auch erfolgen wird. Und was macht die Bundesregierung, die in ihre Pläne einzuweihen die Trump-Administration der Mühe nicht für wert befand? Sie verlängert den auch aus anderen Gründen längst sinnlosen Afghanistan-Einsatz der Bundeswehr ohne jede Debatte um ein weiteres Jahr. Das ist nicht rational, sondern in erster Linie trotzig.

Auch aus Syrien wollen sich die USA zurückziehen. Das ist richtig, denn jenseits der Bekämpfung des „Islamischen Staates“, dessen Kalifat nicht mehr existiert, hat Washington keinerlei Legitimation für eine Militärpräsenz dort. Den Stellvertreterkrieg, den die USA und ihre Verbündeten mit Russland und Iran um Sturz oder Nichtsturz Assads führten, haben die Amerikaner und ihre Verbündeten verloren. War es eine gute Idee, dass Berlin nicht etwa eine Vermittlerrolle im Syrien-Krieg eingenommen hat, sondern sich ohne Wenn und Aber auf die Seite der „Wertegemeinschaft“ gestellt hat? Der Preis dafür sind, unter anderem, rund 800.000 syrische Flüchtlinge in Deutschland. War es das wert, innen- wie außenpolitisch? Berlin als williger Vollstrecker einer verfehlten US-Politik des Regimewechsels?

Das nächste Thema steht längst auf der Agenda: die Konfrontation mit Iran. Nur halbherzig versuchen die Europäer, die Handelsbeziehungen mit Teheran aufrechtzuerhalten, wider den großen Druck aus Washington. Was, wenn die USA und/oder Israel tatsächlich Iran angreifen und Iran zurückschießt? Greift dann der NATO-Verteidigungsfall? Wohin soll das führen?

Europäische und deutsche Politik werden lernen müssen, sich neu zu erfinden. Bei aller berechtigten Kritik an der russischen Regierung: Russland ist und bleibt unser Nachbar. Im Kräftefeld zwischen den USA hier, Russland und China dort wäre Europa schlecht beraten, sich einseitig auf die Seite einer erratischen und irrationalen US-Führung zu stellen. Was wir brauchen, ist eine neue Ostpolitik, die bereit ist zu Deals und Kompromissen, auf der Grundlage wohlverstandener Eigeninteressen. Alle Umfragen belegen, dass die Mehrheit der Deutschen den Konfrontationskurs der politischen und medialen Eliten gegenüber Moskau nicht mitträgt. Hier läge eine große Chance gerade für die SPD, dort anzuknüpfen, wo sie unter Willy Brandt und Egon Bahr einst die Voraussetzungen für ein vereintes Europa mitgeschaffen hat.

Michael Lüders hat u. a. arabische Literatur und Islamwissenschaften in Damaskus sowie Berlin studiert. Er ist Autor zahlreicher Romane und Sachbücher, zuletzt: Wer den Wind sät , Die den Sturm ernten und Armageddon im Orient

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