Es gehörte zu den Konsequenzen des vor 60 Jahren durch Deutschland ausgelösten Zweiten Weltkrieges, dass in den USA 1943/44 diverse Vorstellungen darüber kursierten, wie mit dem Schuldigen dieser einzigartigen Katastrophe nach dessen militärischer Niederlage verfahren werden sollte. Heftig umstritten war dabei der Plan von Finanzminister Henry Morgenthau. Sein Autor gehörte von November 1934 bis Juli 1945 der Regierung in Washington an. Kein anderer Minister in der Ära Roosevelt war so lange im Amt - und keiner hat bis heute für vergleichbares Aufsehen gesorgt. Noch immer gilt Henry Morgenthau für manchen in Deutschland als »jüdischer Racheengel«.
»Wir haben in den vergangenen Tagen die Feindpläne zur Genüge kennengelern
#252;ge kennengelernt: den Plan des Juden Morgenthau, dass 80 Millionen Deutsche ihrer Industrie beraubt würden und Deutschland zu einem einzigen Kartoffelfeld gemacht werde. Haß und Rache von wahrlich alttestamentarischem Charakter sprechen aus diesem Plan«, hatte Propagandaminister Goebbels im Oktober 1944 während einer Rede vor Fabrikarbeitern verkündet - der »jüdische Racheengel« Morgenthau bringe Tod und Ver derben über Deutschland. Henry Morgenthau wird 1891 in New York City geboren und stammt aus einer wohlhabenden deutsch-jüdischen Familie. Sein Vater ist Makler und Bankier, bevor er in der Demokratischen Partei aktiv wird. Morgenthau Jr. studiert Landwirtschaft, schreibt eine Dissertation über hebräische Literatur. Politische Ambitionen hat er zunächst keine, bis ihn Präsident Roosevelt 1934 zum Finanzminister beruft. Seine Kenntnisse über die deutsch-amerikanischen Geschäftsbeziehungen sind äußerst detailliert und erlauben ihm daher Einblicke in das Innenleben des NS-Staates. Von Amts wegen sind Morgenthau weitreichende Informationen über die Investitionspolitik und die rüstungspolitischen Interessen großer deutscher Konzerne zugänglich. Aus Geschäftskorrespondenzen wird für ihn ersichtlich, dass Unternehmen wie Siemens, I.G. Farben oder Gute Hoffnungshütte nicht nur die Außenpolitik des NS-Staates teilen, sondern selbst an der Aufrüstung ein starkes Interesse haben. Angesichts ihrer Erkenntnisse gelten Morgenthau und seine Mitarbeiter im Finanzministerium als »Vansittartisten« - benannt nach dem britischen Regierungsbeamten Robert Vansittart, der die Meinung vertritt, Hitlers Expansionspolitik stehe in der Kontinuität eines aggressiven deutschen Nationalcharakters. Dieser Denkschule fühlt sich auch Henry Morgenthau verpflichtet.Die vier großen »D's« Grundlegend für sein Bild vom Nationalsozialismus war Morgenthaus Überzeugung, Deutschlands Wirtschaftselite und die NSDAP seien symbiotisch miteinander verbunden. Entsprechend fielen die Kernforderungen des Morgenthau-Planes aus: Demnach sollten alle Industrien, die vorrangig mit Rüstung beschäftigt waren - dem Bau von Flugzeugen, Panzern oder Schlachtschiffen - eliminiert, sprich: demontiert, gleichzeitig bestehende Kartelle entflochten und die NS-Täter bestraft werden. Allerdings findet sich bei Morgenthau nichts über eine generelle Entindu strialisierung oder - wie zuweilen kolportiert - das »Ackerland Ruhrgebiet«.Das Memorandum sah jedoch die Aufteilung Deutschlands in eine internationale Zone, einen Nord- und einen Südstaat vor - beide autonom und auf föderativer Grundlage. Dazu sollten erhebliche Gebietsabtretungen kommen: im Westen an Frankreich und im Osten an Polen. Mit der Sowjetunion war nach Morgenthaus Vorstellungen darüber hinaus eine enge Kooperation geplant, um so einen raschen Rückzug der US-Truppen aus Europa zu ermöglichen. Deutsche Zwangsarbeiter sollten im Ausland Kriegsschäden beseitigen, schließlich forderte Morgenthau eine Bodenreform zugunsten kleinerer und mittlerer Agrarbetriebe. Als Axiom betrachtete er die völlige Entwaffnung der Streitkräfte, um Deutschland als potentiellen Aggressor ein für allemal auszuschalten.In Fragen der Entnazifizierung wandte sich Morgenthau gegen die »outlaw«-Theorie, nach der nur die kriminellen Eliten - die Führer und Funktionäre des NS-Regimes - Verantwortung für die Verbrechen trugen. Statt dessen sah er die Schuldigen ebenso in den Reihen des Militärs, der Bürokratie und Industrie, nicht zuletzt in der Zwangsgemeinschaft der Mitläufer und Angepaßten. Folgerichtig zielten seine Vorschläge auf eine Politik der vier großen »D's«: Demilitarisierung und Denazifizierung, Dekartellisierung und Demokratisierung. »Würde dieses Programm nicht radikal durchgeführt, hätte dies un absehbare Folgen. Diese Burschen sind ja so schlau und solche Teufel. Bevor man sich's versieht, haben sie wieder ein Heer, das marschiert«, schrieb Morgenthau in sein Tagebuch, »die Lösung scheint schrecklich, unmenschlich grausam zu sein. Wir haben den Krieg nicht gewollt. Wir haben nicht Millionen Menschen in die Gaskammern gejagt.«Trotz seiner Freundschaft zu Präsident Roosevelt ist Morgenthaus Stellung in der US-Regierung umstritten. Das zeigt sich vor allem, als Anfang 1944 die ungarischen Juden nach Auschwitz deportiert werden. Innerhalb von nur sechs Wochen läßt das NS-Regime laut Buchführung der SS 437.000 Frauen, Kinder und Männer ermorden. Verantwortlich dafür: SS-Obersturmbannführer Adolf Eichmann, der das Sonderkommando von Budapest aus persönlich leitet.»Amerikanischer Himmler!« 1944 ist der Massenmord in Auschwitz und anderswo längst kein Geheimnis mehr. Rudolf Vrba, der als einer der ganz wenigen Häftlinge aus dem Lager Auschwitz fliehen kann, schreibt über seine Erlebnisse einen umfangreichen Report für das Internationale Rote Kreuz. Über die Slowakei wird das Dokument auch nach Ungarn geschmuggelt, um die Deportation der dort lebenden Juden zu verhindern. Schließlich gelangen Kopien unter anderem in die Schweiz, zum Vatikan und in die USA, wodurch auch Morgenthau davon Kenntnis erhält. Verzweifelt appelliert er zusammen mit jüdischen Orga nisationen an das US-Kriegsministerium, die Gas kammern in Auschwitz oder die Eisenbahnlinien zwischen Ungarn und Polen zu bombardieren. Doch ohne Erfolg. Das Kriegsministerium lehnt mit der Begründung ab: Solche Einsätze seien we gen zu großer technischer Schwierigkeiten und aus militärstrate gischen Gründen undurchführbar. Eine stichhaltige Erklärung? Die Alliierten kontrollieren längst den Luftraum über Europa und verfügen auch logistisch über Möglichkeiten, sehr gezielt Angriffe zu fliegen. Bombardierungen hätten die Transporte nach Auschwitz stoppen können, aber das »War-depart ment« sträubt sich gegen derartige Einsätze aus einem einzi gen Grund: Man will nicht - wie es inoffiziell heißt - in den Ver dacht geraten, dieser Krieg würde »um der Juden willen« geführt.Im August 1944 erfährt Morgenthau, dass im Außen- und Kriegsmini sterium eine Direktive für Nachkriegsdeutschland erstellt worden ist. Mit keinem Wort werden darin die Verbrechen des NS-Regimes und die Bestrafung der Täter erwähnt. Der Finanzminister ist empört und läßt in aller Eile eine eigene Vorlage für den Präsidenten zusammenstellen - so entsteht der Morgenthau-Plan. Sein Autor will damit seine politischen Gegner im Kabinett Roosevelt, die Befürworter eines »appeasemen't« mit Deutschland sind, aus der Reserve locken - wohl wissend, dass seine Pläne bei ihnen auf massiven Widerstand stoßen müssen. Am 4. September 1944 schließlich unterzeichnet Präsident Roosevelt Morgenthaus Plan. Bald darauf jedoch gelangt das Memorandum durch eine gezielte Indiskretion in die US-Presse - das Außen- und Kriegsministerium interveniert sofort. Morgenthaus Gegner schrecken selbst vor antisemiti schen Denunziationen nicht zurück und beschimpfen ihn als »amerikanischen Himmler«. Der öffentliche Druck wächst, Roosevelt fürchtet um seinen Sieg bei den anstehenden Präsidentschaftswahlen und zieht seine Unterschrift knapp drei Wochen später - am 22. September - zurück.Mythos »Siegerjustiz« Die NSDAP-Führung benutzt den Morgenthau-Plan, um den Widerstandswillen der »Volksgemeinschaft« während der Agonie des NS-Regimes noch einmal zu mobilisieren. »Stärke durch Furcht« lautet die Parole. Auf der Titelseite des Völkischen Beobachters ist zu lesen: »Der Morgenthauplan - 40 Millionen Deutsche zuviel!«. Mit seiner Rede vom »Kartoffelacker« hatte Goebbels über das Ende des Nationalsozialismus hinaus erfolgreich eine Legende geschaffen, die in der Bundesrepublik lange Zeit virulent war. In Politik, Publizistik und Wissenschaft hat dieser Mythos bis heute seine Spuren hinterlassen. Nirgends ein Wort davon, dass Morgenthaus Denken mit Auschwitz zusammenhing. Statt dessen die Rede von der »Siegerjustiz«, wie das auch die bundesdeutsche Ge schichtswissenschaft seit der Ära Adenauer bestimmt hat. Einer ihrer exponierten Vertreter ist der Historiker Hans-Peter Schwarz, der in seinem Standardwerk Vom Reich zur Bundesrepublik im Morgenthau-Plan allein »einen Wunsch nach Vergeltung« erkannte. Nach der Auffassung des Hamburger Politologen Bernd Greiner sei für Morgenthaus Handeln das Wissen um die Ermordung der europäischen Juden entscheidend gewesen, »ohne Rücksicht auf die eigene Person, unter Absehung aller karrierepolitischen Interessen, wollte er die Verbrechen in den Vernichtungslagern an die Öffentlichkeit bringen«. - So bleibt die Erinnerung an einen engagierten Politiker, dessen Credo lautete: Völkermord und Aggressionskrieg dürfen nicht ungesühnt bleiben. Darüber wollte Morgenthau einen politischen Streit vom Zaune brechen, darauf hatte er all sein intellektuelles Bemü hen gerichtet: Es gab für ihn keine Normalität im Schatten der Vernich tung.
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