Schlacht der Lügen

MEDIENTAGEBUCH Kaum ein anderes Ereignis hat in den sechziger und siebziger Jahren die Weltöffentlichkeit so bewegt wie der Vietnamkrieg. Für die Vereinigten ...

Kaum ein anderes Ereignis hat in den sechziger und siebziger Jahren die Weltöffentlichkeit so bewegt wie der Vietnamkrieg. Für die Vereinigten Staaten endete der Konflikt 1975 mit der ersten militärischen Niederlage. Vietnam war zugleich der erste Fernsehkrieg der Geschichte. Erstmals wurden die Grausamkeiten des Kampfes zur "prime time" gezeigt, zur besten Fernsehzeit im Abendprogramm: Das nackte, von Napalmbomben verbrannte vietnamesische Mädchen, der Kopfschuss auf einen gefangenen Vietcong durch den Saigoner Polizeipräsidenten, die überstürzte Evakuierung von US-Amerikanern aus Saigon, die Verzweiflung vieler Südvietnamesen, die für die USA gearbeitet hatten und zurückbleiben mussten. Um die zwei Millionen Vietnamesen und 58.000 US-Soldaten wurden im Verlauf der militärischen Auseinandersetzungen getötet.

Noch heute gibt es die Legende, es seien die Medien gewesen, die den Vietnamkrieg entschieden hätten. Zum Beispiel mit vermeintlich demoralisierend wirkenden Fernsehberichten über das Massaker im südvietnamesischen Dorf My Lai durch Soldaten der US-Armee am 16. März 1968. Eine Mär, die nur allzu gern von konservativen Politikern, Journalisten und Kriegsgegnern damals wie heute genährt und für die eigenen Interessen instrumentalisiert wird. Tatsächlich gab es zunächst weder Bilder von den Verbrechen der US-amerikanischen Streitkräfte noch von verstümmelten GI's oder den Hinrichtungswellen der Kommunisten in den von ihnen eroberten Gebieten. Dass die Fernsehzuschauer unter dem Eindruck eines "ungeschnittenen Realismus" ins Lager der Friedensbewegung wechselten, davon kann keinesfalls die Rede sein. Meinungsumfragen des US-Magazins Newsweek aus den Jahren 1967 und 1972 belegen, dass die TV-Anstalten weder eine Antikriegsstimmung noch einen Meinungswandel hinsichtlich der militärischen Intervention der USA in Vietnam zu bewirken vermochten.

Verschiedene wissenschaftliche Studien haben gezeigt, dass Fernsehaufnahmen von militärischen Kämpfen, von Verletzten und verstümmelten Toten lediglich einen Bruchteil der TV-Berichterstattung über Vietnam ausmachten. Von 2.300 Fernsehreportagen zwischen 1965 und 1970 dokumentierten nur 76 reales Kampfgeschehen, bei dem Tote oder Verwundete zu sehen sind. Eine Auswertung der Abendnachrichten von 1968 bis 1973 belegt, dass gerade mal drei Prozent aller Filmberichte aus Südostasien Gefechtshandlungen zeigten. Und das waren meistens ein paar niedergehende Granaten oder das Geknatter eines Heckenschützen. Im Anschluss daran vielleicht das ferne Geräusch von Luftangriffen, um den unsichtbaren Feind auszuschalten, wie es in der verklärenden Sprache der Militärs hieß.

Was die Zuschauer zu sehen bekamen, waren Bilder von landenden Hubschraubern, von hohen Gräsern, die im Wind der Helikopter schwanken, von US-amerikanischen Soldaten, die mit schussbereitem Gewehr über ein hügeliges Gelände ausschwärmen, dann und wann auf der Tonspur eine ferne Explosion mit einer dunklen Rauchsäule als großartige Schlussszene, die stets einem brennenden Munitionslager des Vietcong zugeschrieben wird, bilanziert der US-Journalist John MacArthur in seiner Studie über die "Schlacht der Lügen". Selbst unter den GI's machte sich die Gewöhnung an eine solche Berichterstattung bemerkbar. In der Gegenwart von Fernsehkameras begannen sie wie Schauspieler in der eigenen Inszenierung zu posieren. Ein Phänomen, das der kürzlich verstorbene britische Filmregisseur Stanley Kubrick in seinem Kriegsfilm Full Metal Jacket auf erschreckend beeindruckende Weise dargestellt hat.

Niemals zuvor (und danach) waren Korrespondenten und Fotografen so nah am Kriegsgeschehen wie in Vietnam. Hinzu kam, dass die Journalisten kaum der Zensur unterlagen, zumindest auf westlicher Seite. Doch anders als das hässliche Bild von der schuldhaften Verstrickung der USA, wie sie in Apocalypse Now auf der Leinwand zu sehen sind, zeigten viele Fotos nur US-amerikanische Opfer, selten die Täter: der junge Sanitäter mit der blutigen Kopfbinde, der fürsorglich seine verletzten Kameraden versorgt, der GI, der sich verzweifelt über seinen sterbenden Kameraden beugt. Selten gab es Fotos von gewalttägigen Amerikanern zu sehen, statt dessen allenfalls folternde Südvietnamesen. Glaubt man den Bildern, dann ging die Gewalt von der anderen Seite aus.

Ein Trugschluss, wie das Kriegsverbrechen von My Lai bewies. Über ein Jahr lang schafften es die Militärbehörden erfolgreich, die Ermordung knapp 400 vietnamesischer Bauern zu vertuschen, bis Ende 1969 erste Fotos und Berichte in den US-Printmedien erschienen. Seymour Hersh, ein freier Journalist, war es, der die Vorgänge detailliert rekonstruierte und die Geschichte nach mehreren Ablehnungen, darunter auch das Life-Magazin, schließlich doch noch veröffentlichen konnte. Für kurze Zeit verloren die nationalen Sicherheitsorgane die Kontrolle über den Fall - mit der Folge, dass eine unabhängige Untersuchung eingeleitet werden musste. Doch die öffentlich moralische Sensibilisierung hielt nur für kurze Zeit an. Der befehlführende Leutnant William Calley jr. wurde zwar vor ein Kriegsgericht gestellt und zu lebenslänglicher Zwangsarbeit verurteilt, später jedoch von Präsident Nixon begnadigt. Glaubt man Meinungsumfragen, dann galt vielen US-Amerikanern Calley sogar als Held, während das Thema "Kriegsverbrechen" von den Titelseiten der großen Tageszeitungen wieder verschwand. Die Watergate-Affäre 1972 avancierte stattdessen zum Triumph des investigativen Journalismus.

Je größer das Ausmaß der Gewalt, desto größer der Drang zu verdrängen und der Wunsch zur Normalisierung. Die Täter wurden zu Opfern einer übermächtig erscheinenden Befehlshierarchie stilisiert. Nicht das Vergessen der Verbrechen von My Lai in den Medien war der Skandal, sondern ihre Legitimation als notwendige, wenngleich "unschöne" Begleiterscheinung des Krieges in Indochina.

Die Presse in den Vereinigten Staaten war genauso nationalistisch eingestellt wie die Mehrheit der Bevölkerung, resümiert John MacArthur. Erst als die öffentliche Meinung ins Schwanken geriet, vor allem durch die Studentenproteste, änderten auch die Journalisten ihre kriegsbejahende Haltung.

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Verändern Sie mit guten Argumenten die Welt. Testen Sie den Freitag in Ihrem bevorzugten Format — kostenlos.

Print

Die wichtigsten Seiten zum Weltgeschehen auf Papier: Holen Sie sich den Freitag jede Woche nach Hause.

Jetzt kostenlos testen

Digital

Ohne Limits auf dem Gerät Ihrer Wahl: Entdecken Sie Freitag+ auf unserer Website und lesen Sie jede Ausgabe als E-Paper.

Jetzt kostenlos testen

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Unabhängiger und kritischer Journalismus braucht aber Unterstützung. Wir freuen uns daher, wenn Sie den Freitag abonnieren und dabei mithelfen, eine vielfältige Medienlandschaft zu erhalten. Dafür bedanken wir uns schon jetzt bei Ihnen!

Jetzt kostenlos testen

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden