Die Schäume leben

Ursprung und Mutterleib Peter Sloterdijk erklärt menschliches Zusammensein mit der Metapher der Blase. Das ist bemerkenswert und nicht ganz unbedenklich

"Die Menschen sind die Zusammenseienden, die von den Gründen ihres Zusammenseins meistens nicht richtig reden können. Was nämlich ist das Zusammensein? Wenn es niemand von mir erfragt, weiß ich es, soll ich es einem Fragenden erklären, weiß ich es nicht." Auf eigentümliche Weise verraten diese scheinbar mit leichter Hand notierten Zeilen mehr von Peter Sloterdijk, mehr von seinem Werk, seiner Intention und Stoßrichtung, als auf den ersten Blick erkennbar zu sein scheint. Das Bonmot, feinsinnig veredelt durch eine etwas kokette Reminiszenz auf den Hl. Augustinus, ließe sich getrost auch als Motto für sein Chef d´œuvre, seine auf rund zweieinhalbtausend Seiten angewachsene Sphären-Trilogie, verwenden. Die Frage nach der Möglichkeit von Menschen, mit Menschen zusammenzusein, bildet par excellence die Leitfrage Sloterdijks, seinen Ausgangs- wie auch seinen Zielpunkt.

Denn das Beisammensein von Menschen ist nicht nur prekär aufgrund voraussetzungsreicher Anfangsbedingungen; nicht nur bedroht aufgrund von Umständen, die aus dem Menschen nur zu oft des Menschen Wolf machen. Zu alledem sind die Konditionen dieses Beisammenseins gewöhnlicherweise so selbstverständlich, dass sie eigens nicht in den Blick geraten. Als bildeten sie eine Art Hintergrundrauschen, das erst dann auffiele, fiele es aus.

Das war schon immer so. Doch ist es ausgerechnet die nachklassische Moderne, unsere "Jetztzeit", die, wenn auch zaghaft, ein Sensorium hierfür zu entwickeln beginnt. Weshalb die Hinwendung zu diesem Unausdrücklichen, Randständigen, kaum Fassbaren für Peter Sloterdijk die eigene geschichtliche Gegenwart in ausgezeichneter Weise charakterisiert. Und Sloterdijk wäre ihr Mentor, eine Art Geburtshelfer für die vielen, noch scheuen Tendenzen einer Besinnung auf jene Bedingungen der Condition Humaine, die zu ignorieren offensichtlich ein Leichtes ist. Deshalb der "Schaum", Gischt, verquirlte Luft in dünnwandigen Hohlräumen als Chiffre für jene überaus empfindlichen, überaus flüchtigen Gegebenheiten, deren Menschen bedürfen, um mit Menschen menschlich sein zu können. Denn Schaum besteht bekanntlich aus unzählbar vielen, unterschiedlich großen und kleinen Bläschen, die aneinander- und sich voneinander abgrenzen, die doch alle eines gemeinsam haben: Luft in ihrem Innern. Und um diese Luft geht es, um dieses in jeder einzelnen Blase enthaltene Gas, das wir atmen können und das uns mit unseresgleichen sprechen lässt. Wenn Menschen leben und zusammen leben wollen und sollen, bedarf es einer hierfür binnensphärisch günstigen Atmosphäre, eines stimmigen Klimas in wohltemperierten Räumen, das die Assoziationen zwischen ihnen hervortreibt und konsolidiert.

Um den starken Grund, warum Menschen zusammen sind, freizulegen, greift Peter Sloterdijk Überlegungen auf, wie sie schon im Deutschen Idealismus und in der Romantik, bei Nietzsche und Freud, in der Phänomenologie, der Systemtheorie Luhmanns und nicht zuletzt bei Heidegger zu finden sind und spitzt sie zu jener in der Tat grundstürzenden Einsicht zu, dass die kleinste anthropologisch bedeutsame Einheit nicht das Individuum darstellt, sondern das Paar. Die Vorrangigkeit der Paarexistenz vor der des Individuums; genauer: die Vorrangigkeit des Zusammenseins vor dem Getrenntsein ist der entscheidende Initiationsgedanke Sloterdijks. Der Mensch ist immer schon mit Anderen. Seine früheste Daseinsform ist die Zweieinigkeit der pränatalen Position: der in der Fruchtblase eingeschlossene Keimling, der ohne den Bezug zur Großen Anderen, der Mutter, weder leben könnte noch denkbar wäre. Er ist der Prototyp menschlichen Daseins.

Doch Blasen platzen und Kinder kommen zur Welt. Und diese Welt hat die Tendenz sich zu dehnen: nach dem Auszug aus der Mutterhöhle entstehen neue Blasen, mikrosphärische Intimverhältnisse wie Familien, Sippen, Verwandtschafts-, Freundschafts- und Loyalitätsbeziehungen, die sich schließlich immer mehr in die Makrosphäre politischer Großkörper weiten. Das intime Minimum der dualen Blase bläht sich zum imperialen Maximum der Völker, Reiche und Nationen, um sich schließlich zu jener Globalsphäre auszudehnen, an deren Ende die eine Kugel steht, der "Globus". Was wir also "Globalisierung" nennen, wäre mithin Konsequenz einer selbstläufigen Logik der Sphärenerweiterung, in der immer mehr Menschen den Binnenraum einer gegen ein Außen abgedichteten Sphäre gemeinsam bewohnen. Die "Sphäre" wäre dergestalt nichts anderes als jener stets neu zu bauende Ort, an dem die Zusammengehörigkeit von Menschen das Menschenmögliche ist.

Und die Sphärologie wäre die Theorie dieser sphärischen Binnenräume, eine Theorie des von Menschen mit Menschen geteilten Raumes als anthropologischem Grundphänomen. Das ist, um das mindeste zu sagen, bedenkenswert. Und bedenklich ist es auch. Denn Sloterdijk will nicht nur zeigen, wie und warum das Projekt der klassischen Philosophie, das "Eine" zu denken, scheitern musste, sondern auch, wie und warum die daran anschließende Konstruktion der "Einen Kugel" scheitern wird. Für ihn führt die "Globalisierung" nicht zur Uniformierung der einen Welt. Die weltumspannende Mega-Blase der Weltverkehrsgesellschaft kollabiert, weil sie zu vieles, zu disparates unter sich vereinigen will. An die Stelle der einen treten viele Welten, unendlich viele. "Die Eine Kugel ist implodiert, nun gut - die Schäume leben."

Aber ist sie das? Das scheinbar lapidar gesetzte Bild wäre beim Bildsinn zu nehmen. Denn für Sloterdijk scheint mit der Implosion der Großen Kugel auch das mit ihr assoziierte Kardinalproblem platterdings verpufft zu sein: der stets vermessene Anspruch menschlicher Vernunft auf eine umfassend vernünftige Einrichtung der Dinge. Es wäre der Anspruch der Zivilisation auf Zivilisierung der menschlichen Natur. Sie aber hat einen Preis, der uns längst schwindeln macht. Ihn errechneten Adorno und Horkheimer in ihrer Dialektik der Aufklärung; ihn errechnete Heidegger in seinem Humanismusbrief, als dessen Adressat sich Sloterdijk unlängst noch wähnte. Und ihr Bescheid ist eindeutig: was wir Tradition nennen, die philosophische nicht minder wie die der Kunst, der Wissenschaften, der Kultur im allgemeinen, können wir nicht ablegen wie einen alten Rock. Man kann sich nicht, wie Sloterdijk, gleichsam durch einen Federstrich von einer Überlieferung verabschieden, die unsere Grammatik beherrscht und unser Denken.

Anders gesagt: jene Eine Kugel ist nicht implodiert wie eine Seifenblase. Sie ist geplatzt wie eine Kristallkugel. Genauer: sie tut es jetzt, in diesem Moment. In diesem Moment fliegen uns die Splitter einer Überlieferung um die Ohren, deren Leitbegriffe Humanität, Zivilität, Mündigkeit, Kritik- und Urteilsfähigkeit waren. In diesem Moment beginnt die uns vertraute Welt auseinander zu brechen. Das ist schrecklich. Das ist gut. Das ist unsere Situation. Und wir wissen noch nicht, was das bedeutet.

Auch Peter Sloterdijk nicht. So mögen die Einsichten, Aperçus und Gedankenexperimente, die er vor des Lesers Auge generös ausbreitet, in vielerlei Hinsicht inspirieren. Ein Gewinn ist die Lektüre allemal. Doch der Versuch, sich auf die eigene geschichtliche Situation rückhaltlos einzulassen, scheitert kraft einer vorgängigen Immunisierung gegen deren Dramatik. Sloterdijk spricht durchweg im Gestus der Beschwichtigung; und spricht doch über Ungeheuerliches auf zuweilen ungeheuerliche Weise. Nicht nur seine heiklen Phantasien von der technischen Selbstmanipulation des Menschen, die ihm vor Jahr und Tag grobe Schelte einbrachte, auch eine spürbare Unmusikalität für den Innenraum des Religiösen lassen Zweifel daran keimen, ob er, der sein Denken als "heiter" apostrophieren würde, dem Ernst, den das anbrechende 21. Jahrhundert auf überaus drastische Weise zu demonstrieren beginnt, noch gewachsen ist. Die "Schäume", all ihres wunderbaren Reichtums zum Trotz, zerstreuen sie jedenfalls nicht.

Peter Sloterdijk: Schäume. Pluralistische Sphärologie III, Suhrkamp, Frankfurt am Main 2004, 49,80 EUR


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