Sie stehen aufgereiht an der Wand des Hochhauses, treten auf der Stelle. "Alle Tage sind gleich", sagt Momo, seine drei Freunde kauen auf ihren Kaugummis, blicken geradeaus auf das eintorige Fußballfeld. "Neuhof, das ist nichts, wir leben hier wie die Ratten in ihren Häusern."
Bis elf Uhr nachts stehen sie oft auf der Straße, "bis es uns zu kalt wird". Ab und zu hält ein Auto, Freunde kurbeln das Fenster herunter, grüßen kurz. "Natürlich würde ich gern arbeiten, als Elektriker", sagt der 19-Jährige. Einige Praktika habe er schon hinter sich, auch einige Tage Arbeit, "aber unsere marokkanischen Gesichter gefallen den Arbeitgebern nicht." Wer hier wohnt, dessen Adresse reicht manchen Betrieben, um bei einer Bewerbung gleich abzusagen.
Bosnien und di
Bosnien und die Araber-Disko Neuhof liegt nur vier Kilometer von Straßburgs Innenstadt entfernt. In Neuhof leben 20.000 Menschen, so viel wie in der elsässischen Stadt Sélestat. In Neuhof leben 13.000 von 20.000 in Betonburgen, so genannten Cités. "Wo sollen wir abends hin?", fragt Momo. Neuhof hat kein Kino, keine Bistros, die ein Treffpunkt sein könnten. So stehen sie herum inmitten lauter Musik, die aus ihren Autos dröhnt. Man redet. Man wartet. Schaut. Wenn es dunkel wird, schließen die Geschäfte. Und die Innenstadtdiskotheken lassen Franzosen nordafrikanischer Herkunft draußen vor der Tür - "Geht doch in die Araberdisko!"Viele Wohntürme in Neuhof sind mit Graffiti besprüht, mit Namen beschmiert. An den vergitterten Erdgeschossen bröckelt Putz. Die Häuser sehen aus, als wären sie an Aussatz erkrankt. Die Eingänge dunkle Löcher, die fleckigen Wände feucht, Kinder, die hier wohnen, oft krank. Abortgerüche und faulige Tapeten. Das Haltestellenhäuschen gegenüber der Polizeistation ist abgefackelt. Grauschwarze Rußspuren zieren manche Hauseingänge, die Müllcontainer sowieso. Autogroße Brandflecke lecken den Asphalt der Parkplätze. Was braucht ein Stilleben mehr an kräftigen Farben? "In Bosnien" nennen die Neuhofer jenen Teil des Quartiers, der schon seit Jahren abgerissen werden soll.Cronenbourg gegen Hautepierre Momo und seine Freunde wissen, weshalb stets zum Jahreswechsel in Straßburg Autos brennen - "Das sind Minderjährige. Die brechen die Wagen auf, reißen den Sitz hoch, halten das Feuerzeug hin, lassen ein Fenster offen, das brennt schnell". Gründe für das Autoverheizen im Elsass gibt es mehr als kindliche Zerstörungswut. Da sind die in Baden billig gekauften alten Wagen, mit denen Diebe auf Tour gehen. Aus Angst, es könnten Fingerabdrücke zurückbleiben, zünden sie die Autos an. Da sind die Versicherungsbetrüger. Und da sind Jugendliche, die Autorodeo fahren, um die Polizei ins Viertel zu locken und mit Steinen zu erwarten.Es sei immer das gleiche Katz-und-Maus-Spiel. Hunderte von Polizisten würden in Bussen angekarrt, erzählt Momo. "Sie blockieren die Ausgänge des Viertels und kontrollieren unsere Papiere." Auch das Fernsehen stellt bei Anzeichen von Randale gern einen Übertragungswagen zwischen den Wohnbeton. Wenn im Elsass die Autos brennen, treiben starke Bilder die Einschaltquoten nach oben. Besonders dann, wenn einige der banlieues sensibles Gefallen am Wettkampf finden: Wer fackelt am besten? Neuhof oder Hautepierre - Cronenbourg oder Hautepierre? Momos Freund Ahmed versucht, die Gewalt zu erklären: "Das ist wie bei einem Kind. Das Verbotene zu tun, sorgt erst recht für Spaß."Disneyland statt Betonsilo Straßburg, die Elsassmetropole, die Europastadt - und dann immer wieder die Bilder des Desasters. "Hinter der touristischen Fassade herrscht die traurige Realität sozialer Ungerechtigkeit", meint lakonisch der Straßburger Geograph Luc Gwiazdzinski. "Die Ungleichheit ist hier besonders groß und erzeugt mehr Frust als anderswo."Die gut betuchte Innenstadt mit den herausgeputzten Fachwerkhäusern und Edelboutiquen nennt Gwiazdzinski ein "elsässisches Disneyland". Die keinen Platz darin finden oder haben, wohnen an der Peripherie und in heruntergekommenen Betonkästen. Das Elsass - reich, selbstbewusst, Anfang 2002 mit der niedrigen Arbeitslosenrate von 5,4 Prozent ausgestattet - muss als Region mit Vorstadtkrawallen den nationalen Vergleich nicht fürchten. Sozialbau-Tristesse wie in Neuhof ist in Frankreich nicht vom Himmel gefallen. Sie grassiert seit den sechziger Jahren, als Gastarbeiter ins Land geholt wurden, um damaligem Arbeitskräftebedarf zu genügen. Doch an Schulen und Kindergärten, an soziale Infrastruktur, wurde kaum gedacht, da die Gebirge aus Beton und Stahl zu wachsen begannen. Als Transit geplant, wurden die Wohntürme für viele zur Endstation Sehnsucht. 40 Prozent der Neuhofer leben von Sozialhilfe, Menschen aus inzwischen 40 Nationen. Die Kinder und Kindeskinder der einstigen Gastarbeiter sehen zwischen Himmel und Erde kein Land mehr, und ihre Eltern können es ihnen nicht zeigen.Schminke, Puder, Autowracks Die neue, konservative Stadtregierung verdankt sich - auch - den häufigen Straßenkrawallen. Sie versprach vor den Kommunalwahlen im März 2001, mehr für die Sicherheit zu tun. Doch steht sie heute genauso ratlos da wie die Crew der sozialistischen Vorgängerin Catherine Trautmann. Kurz vor dem Jahreswechsel gab es eine Finanzspritze für das Soziokulturelle Zentrum von Neuhof. "Sie wollen damit das Quartier ruhig stellen", meint David Liv. Der 22-Jährige gilt als jüngster Vorsitzender eines solchen Zentrums in Frankreich. Der weißgekachelte Bau, in dem er arbeitet, ist Neuhofs Transitquai: Hier werden Kinder betreut, finden Jugendliche Ansprechpartner. "Nach Neuhof verfrachtet man alles: alles, was schlecht ist, was Probleme bereitet. Für die Straßburger kommt das Übel der Gesellschaft aus Gegenden wie Neuhof", ist David empört. Dabei sei das ganze Viertel wütend über die Brandstifter. Die täten einfach zuviel des Guten für Neuhofs Negativ-Image. Er ärgert sich, was über sein Viertel schwadroniert wird: "Wenn es um städtische Gewalt geht, spricht man immer im gleichen Atemzug von uns - doch von unserem Alltag redet niemand." Anfang Januar hatte die liberalkonservative Bürgermeisterin Fabienne Keller zur Pressekonferenz geladen - mit etwas mehr Schminke und Puder im Gesicht als sonst und der gleichen fragilen Zuversicht wie sonst: "Die Bilanz ist nicht unbefriedigend. 44 Autos haben während der Neujahrsnacht in Straßburg gebrannt, und das waren neun weniger als im vergangenen Jahr. Weniger öffentliche Einrichtungen wurden demoliert - auch dank der 665 Polizisten, die im Einsatz waren. Dieser Jahresauftakt stimmt uns optimistisch." Wie ratlos sie in Wirklichkeit ist, zeigt ihr Jonglieren mit Zahlen. "Sie zählen die Delikte und interessieren sich nicht für Ursachen", ist David Liv überzeugt. Die Präfektur und die Polizeigewerkschaft stritten sich vor wenigen Wochen erst darüber, wie viele Autos wirklich angezündet wurden seit Januar 2001. Die Polizeigewerkschaft nennt rund ein Drittel mehr als der Präfekt. Der spricht für den Großraum Straßburg von 1.260 Autos, die in Rauch aufgingen - also jede Woche im Schnitt 24 verkohlte Kadaver für den städtischen Autofriedhof.Video-Kultur "Dabei ist Neuhof einzigartig", sagt Leila Hamoud vom Verein Mosaique. Sie isst mit Kollegen zu Mittag im gleichnamigen kleinen Restaurant. Frauen aus dem Viertel treffen sich hier, bieten billige Menus an und organisieren ein Essen auf Rädern. Für Hamoud liegt der Reichtum der Hochhaussiedlung bei den Bewohnern. "Wenn hier jemand auf der Straße liegt, hilft ihm jemand. Hier ist man solidarisch, das gibt es nur noch in wenigen Gegenden Frankreichs." Seit 13 Jahren lebe sie in Neuhof, wegziehen wolle sie nicht. Straßburg mache sie wütend: Prunk im bürgerlichen Zentrum und draußen die Immigranten im Ghetto. Beschämend für die Gesellschaft. "Straßburg ist nicht mehr die Stadt aller Einwohner", formuliert der Soziologe Philippe Breton im Radiosender France Culture. Er lehnt es ab, von der Revolte einer kriminellen Jugend zu sprechen oder gar von organisierten Banden. "Schließlich zünden sie nicht die Autos der Reichen in der Innenstadt an, sondern die ihrer Nachbarn, denen es ähnlich schlecht geht." Statt mehr Polizei verlangt er Investitionen in das soziale Netz vor Ort. Breton warnt davor, nur in Überwachung die Lösung des Problems zu suchen: "Wir haben kein Problem von Sicherheit, sondern von sozialer Ungleichheit." Doch statt die Ursachen anzugehen, investiert die Stadt Millionen Euro für eine Videoüberwachung in Trams, Bussen, auf öffentlichen Plätzen, in Schulen.Robert Grossmann, Präsident der Straßburger Städtegemeinschaft, benutzt in jüngster Zeit gern den Begriff tolérance zero. Radikales Durchgreifen und Bestrafen: Was in New York gute Schule macht, wird nun auch in Frankreich populär. Dass der rechtsextreme Front National (FN) vor zehn Jahren mit dem Slogan auf Stimmenfang war, ist den Konservativen inzwischen egal. 2002 sind schließlich Präsidentschaftswahlen. Und das Thema Sicherheit liegt 64 Prozent der Elsässer sehr am Herzen.Toleranz null, Fragen null Jetzt soll erneut ein staatliches Investitionsprogramm in Neuhof beginnen. Das Grand Projet de ville schleust 150 Millionen Euro in das Viertel: Wohnungen werden renoviert, einige Hochhäuser abgerissen, Parks angelegt. David Liv vom Soziokulturellen Zentrum lächelt, wenn er von solchen Vorhaben hört, denn an Neuhof wurden bereits alle Städtebauprogramme ausprobiert, die dem Staat einfielen. "Das ist wie bei einem brennenden Wald, auf den jemand einen Kanister Wasser gießt, um zu löschen." An einer Hauswand in Neuhof steht: "Wir wollen keine neue Farbe auf unseren Wänden."Wenn David Liv Antworten geben soll auf die Fragen nach Gründen für die Vorstadtgewalt, reagiert er genervt. "Ich kann nur Fragen stellen, Lösungen habe ich nicht." Also dann eben die Fragen. "Meine Fragen lauten: Warum sind diese Viertel in den vergangenen 30 Jahren vernachlässigt worden? Warum gibt man uns nicht die erzieherischen und finanziellen Mittel, etwas für die Menschen zu tun? Warum hat man in Straßburg eine mentale und städtebauliche Ghettoisierung einfach laufen lassen? Warum lässt man den kulturellen Eigenheiten der Bewohner keinen Platz?" Dann hält er kurz inne. "Warum stellen wir eigentlich noch all diese Fragen?"
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