Zwischen Sauerkrautland und Benzin-Oase

GRENZGÄNGER Am Wochenende kommen sie als Tagestouristen ins benachbarte Elsass oder nach Baden- Württemberg. Doch vor allem der wirtschaftliche Alltag schweißt die Menschen am Oberrhein zusammen

Vor den Weinstuben und Restaurants parken Mercedes, die Autoschilder tragen die Buchstaben KA, FR, BAD oder S. Jedes Wochenende rollen die Baden-Württemberger ins Elsass ein, sitzen vor dampfendem Choucroute, dem traditionellen Sauerkraut mit Rauchfleisch und Würstchen. Man flaniert durch die Gassen von Kaysersberg, beglotzt das zahlreiche Fachwerk, zuckelt die Weinstraße entlang und kauft Riesling beim elsässischen Winzer. Zur gleichen Zeit tummeln sich auf der anderen Rheinseite Franzosen in den Thermalbädern von Baden-Baden, Pärchen schmusen im Sprudelbecken und loben das Wasser: "Elle est bonne!"

Am Montag darauf ist beiderseits des Rheins wieder Alltag. Monique Weiss verlässt früher als ihr Mann das Haus, "ich muss um 5.45 Uhr los, er kurz nach sechs". Ein Frühstück macht sie sich nicht, Tee gibt es erst auf der Arbeit. Monique Weiss lebt im elsässischen Orschwiller und steht so früh auf, weil sie den Bus erreichen muss. Er bringt die 49-Jährige nach Deutschland zum Arbeiten, zu Micronas nach Freiburg. Monique Weiss pendelt seit 31 Jahren über die Grenze.

Das erste Morgenlicht spiegelt sich in dem kleinen Flüßchen Ill, als ihr Bus in Sélestat eintrifft. Er hält kurz nach sechs Uhr an der Pont de l´Ill, nur zwei Arbeiter steigen heute zu. Sélestat wacht gerade auf, ein Müllauto biegt um die Ecke, aus einer Bäckerei fällt Licht auf die Straße. "Bonjour", begrüßen sich die Kollegen kurz, ein Mann setzt sich nach hinten und schließt die Augen. Eine Frau lässt sich hinter Monique Weiss nieder und packt ihre Sticksachen aus: Daraus soll eine Pianohocker-Auflage mit Blumenmuster werden. "Wie war dein Urlaub?" fragt Monique Weiss, und ein Plausch auf Elsässisch beginnt.

90.000 Arbeitnehmer überqueren täglich am Oberrhein die Grenzen zwischen Deutschland, Frankreich und der Schweiz. Allein in den Raum Freiburg kommen täglich 4.200 Menschen aus dem Elsass zur Arbeit, dagegen pendeln nur 300 Deutsche auf die französische Seite. Bei Micronas arbeiten 175 Elsässer, viele davon werden Tag für Tag von drei Werksbussen über die Grenze gebracht. Die Micronas Semiconductor Holding AG in Freiburg stellt Halbleiter für die Unterhaltungselektronik und für den Automobilsektor her. Zwei Drittel der elsässischen Pendler arbeiten bereits über 20 Jahre bei dem Unternehmen. Sie opfern zwei bis drei Stunden ihres Tages für die Pendelei. "Die Männer setzen sich lieber nach hinten und dösen. Je heißer es draußen ist, desto besser schlafen sie", erzählt Weiss. Und die Stickerin fügt hinzu: "Beim Aussteigen schimpfen sie immer, dass wir Frauen wieder zu laut geschnattert haben."

Im Bus haben viele ihren Stammplatz. Früher hat es noch eine Bus-Chefin gegeben, die ein kleines Extrahonorar erhielt. Sie passte auf, dass der Busfahrer auf dem Weg nach Deutschland niemanden vergaß, und sie betreute die Berufsanfänger bei ihrer ersten Fahrt ins Nachbarland.

Früher, das begann 1962. Das Unternehmen, das damals noch Intermetall hieß, benötigte dringend mehr Arbeiter, richtete für die Suche im Elsass Büros ein und schaltete Anzeigen in den elsässischen Zeitungen. Über 300 Elsässer pendelten in den siebzigern täglich zu Intermetall nach Freiburg. Heutzutage arbeiten die elsässischen Angestellten vor allem in den Produktionsabteilungen und im Entwicklungsbereich für Computerchips.

Gäbe es diesen Bedarf an Arbeitskräften nicht, hätten die Menschen am Oberrhein auch heute wohl viel weniger miteinander zu tun. Der Rhein ist immer noch breit und tief. Viele Badener waren nie im Elsass, viele Elsässer nie auf deutscher Seite. Aus Desinteresse, aus persönlichen, sprachlichen oder historischen Gründen. Dagegen treffen sich deutsche und französische Politiker gerne in dem Landstrich zwischen Vogesen und Rhein: Das Elsass, im Laufe seiner Geschichte zwischen den beiden Ländern wiederholt hin- und hergeschoben, nimmt die Vermittlerrolle zwar gerne ein, doch die Rendezvous der Staatsmänner haben nicht mehr die Symbolkraft deutsch-französischer Annäherung wie noch vor zehn Jahren, selbst hochkarätige Diners wie kürzlich das von Staatspräsident Chirac und Bundeskanzler Schröder bei Straßburg reißen hier keinen mehr vom Hocker.

Heutzutage blickt man eher gespannt auf die Bilanzen von Unternehmen wie Aventis in Straßburg, entstanden aus der Fusion zwischen Rhone-Poulenc und Hoechst. Europa wird selbstverständlich. Und Europa wird gerne belächelt, weil für das Überführen eines Autos ins Nachbarland immer noch zwanzigseitige Anleitungen nötig sind und Geldüberweisungen in die 15 Kilometer entfernte Nachbarstadt jenseits des Rheins hohe Gebühren kosten.

Bevor Monique Weiss ihr Grenzgängerleben begann, hat sie als Lebensmittelverkäuferin gearbeitet. Sie kümmert sich heute bei Micronas um die Buchhaltung und die Werksbusplanung für ihre elsässischen Mitpendler. Das Pendeln hat in der Weiss-Familie Tradition: Ihre Mutter hat bereits bei Intermetall gearbeitet und die Tochter Monique damals vorgeschlagen. Nach einem kleinen Einstellungstest, bei dem sie Dioden geradebiegen, Skizzen anfertigen und einige Rechenübungen absolvieren musste, bekam sie die Einstellungszusage und ihre Mutter für die Vermittlung eine Prämie von 50 Mark. Auch Moniques 19-jährige Tochter hat schon in den Ferien bei Micronas gejobbt. Sie hat daran Gefallen gefunden und würde gerne in Baden weiterarbeiten.

Doch "die Zeit der großen Fischzüge im Elsass ist vorbei", meint Hans-Peter Braun von der Personalabteilung. Heutzutage würden freie Stellen meist mit Bekannten der Mitarbeiter besetzt. Wer hier ist, bleibt gerne. Dennoch suchen deutsche Unternehmen wie Micronas immer noch qualifiziertes Personal, auch bei den Fachhochschulen auf französischer Seite. Das sorgt inzwischen nicht immer für gute Stimmung: Elsässische Firmen bilden für viel Geld die jungen Leute aus, deutsche Firmen winken mit besseren Gehältern und ziehen das qualifizierte junge Personal ab. In der deutschen Metallindustrie gibt es die 35-Stunde-Woche, und in Frankreich sind die Gehälter eingefroren: Auch das lockt die Franzosen über die Grenze nach Baden und in die Nordwestschweiz.

Am Wochenende locken dagegen die Geschäfte. Dann okkupieren Deutsche die Fischtheken in den Hypermarchés in Colmar, Franzosen die billigeren Tankstellen in der Grenzstadt Kehl. Als im September den Franzosen wegen der Streiks das Benzin ausging, veranstalteten die Elsässer kurzerhand eine Tank-Invasion nach Baden-Württemberg: Elsässer glänzten an überlaufenen Tankstellen mit ihren Deutschkenntnissen, deutsche Tankstellenbesitzer bedankten sich auf französisch und begeisterten sich für die französische Streikkultur: "Davon könnten wir uns eine Scheibe abschneiden", lobte ein Tankstellenbesitzer den französischen Aufstand.

6.29 Uhr, der Bus erreicht die Rheinbrücke beim badischen Sasbach. Monique Weiss schaut auf das Wasser. "Das Gefühl, jeden Tag ins Ausland zu fahren, habe ich nicht." Sie fährt zur Arbeit, nicht nach Deutschland. Das kribbelige Grenzgefühl gab es noch Ende der sechziger Jahre. Damals war die Pontonbrücke bei Sasbach noch mit Zöllnern besetzt, die abends nach Hause gingen. Die Firma verhandelte und luchste ihnen einen Schlüssel für die Schranke ab, damit die Nachtschicht noch nach Frankreich zurückfahren konnte. Auch heute noch fährt ein Spätschichtbus um 22.10 Uhr zurück ins Elsass.

An diesem Morgen lenkt ein neuer Fahrer den Bus, und Monique Weiss muss ihm ein wenig erklären, wo er halten soll. Im kleinen Dorf Wyhl schaut sie aufmerksam nach draußen: "Wenn da vorne ein junger Mann im Garten steht, müssen wir ihn mitnehmen." Der Busfahrer fährt langsamer, doch da ist kein Mann, er scheint frei zu haben. Weiss erinnert sich an einen Busfahrer, der so schön deutsche Schlager singen konnte. "Was für eine Stimme der hatte. Aber der fährt jetzt nicht mehr."

Bereut hat Monique Weiss das Pendeln noch nie, "aber", sagt sie, "mir würde etwas fehlen. Viele Franzosen in Paris pendeln ja auch täglich zwei Stunden mit der Metro." Und in Berlin sei das wohl auch normal. Auf die deutsche Seite zu ziehen, kam ihr allerdings nie in den Sinn: "Mein Mann arbeitet ja im Elsass, und meine Bekannten sind auch dort."

Viele Baden-Württemberger dagegen haben sich im Elsass niedergelassen. Französische Lebensqualität und niedrigere Steuern haben sie auf die linke Seite des Rheins gelockt. Rund 15.000 Deutsche leben im Elsass, doch manche haben es sich zu leicht vorgestellt, ihr Leben dort aufzubauen. Sie haben nicht nur Probleme damit, Kontakte zu knüpfen und Freunde zu finden, auch Ämtergänge werden für manche zum Spießrutenlauf, weil das Französisch nicht ausreicht, um die komplizierten Formulare zu verstehen. Nicht selten schicken die Eltern ihre Kinder nach wenigen Monaten im Elsass wieder zurück in die Schulen auf der deutschen Seite, manche Familien ziehen nach wenigen Jahren wieder zurück nach Baden-Württemberg.

Natürlich gibt es auch unter den elsässischen Pendlern welche, die ihr deutsch-französisches Zwitterdasein, das Aufstehen um vier Uhr und die dreistündige Fahrerei schon aufgeben wollten. Patrick Wanner etwa, der seine Nachbarn beneidet, die nur zehn Minuten zur Arbeit haben. Vor zwanzig Jahren brauchte er jede Mark für den Bau eines Hauses, da war der gut bezahlte Arbeitsplatz auf der deutschen Seite wunderbar. Jetzt sei er 47, "ein Wechsel wäre wohl sinnvoll, aber für mich ist es jetzt schon zu spät". Der Reiz, in Deutschland zu arbeiten, liegt vor allem darin, was auf dem Konto ankommt: Zwar zahlen die elsässischen Grenzgänger ihre Kranken- und Rentenversicherung in Deutschland, doch versteuert wird in Frankreich - übrig bleiben bis zu 30 Prozent mehr Gehalt. Der Stundenlohn und die Zulagen etwa für Wochenend- und Nachtarbeit sind auch nicht ohne. "Es gibt schon neidische Nachbarn zuhause", sagt Monique Weiss, "die sehen aber auch nicht, dass ich jeden Tag so früh aufstehen muss."

Auch das gute Arbeitsklima und die weniger ausgeprägte Hierarchie sind für die Grenzgänger Argumente, ihrem deutschen Unternehmen treu zu bleiben: "Man gibt mir nicht das Gefühl, ausgenutzt zu werden", sagt eine junge Frau im Nachmittagsbus, der die Frühschicht wieder über die Grenze bringt. Ihr Mann dagegen werde in seiner Firma im Elsass viel mehr als Objekt behandelt als sie. Sprüche von deutschen Kollegen, dass die Elsässer ihnen die Arbeitsplätze wegnähmen, habe sie noch nicht erlebt: "Gegenüber Russlanddeutschen, die bei uns arbeiten, kommt dies schon eher mal vor."

Sechs Frauen sitzen im Nachmittagsbus hinter dem Busfahrer und sind ausgelassen. Sie reden mal deutsch, mal französisch, manchmal elsässisch. Bernadette Meyer hat bereits 35 Jahre Pendelei hinter sich. Sie ist jetzt 54 Jahre und will noch gerne bis zu ihrem 60. Geburtstag grenzgehen. Sie erinnert sich an frühere Jahre, als sie hin und wieder einiges über die Grenze nach Frankreich geschmuggelt hat. "Eine Kollegin hat immer Sammelbestellungen im Otto-Katalog gemacht", erzählt sie. Eigentlich wollte sie nur zwei Jahre nach Deutschland fahren, auch bei ihr war es der Hausbau, der Geld verschluckte und sie weiterpendeln ließ. "Sie hat halt keinen reichen Mann gefunden", necken sie ihre Freundinnen, und alle lachen.

Viele Menschen hier im Südwesten empfinden den Rhein längst nicht mehr als etwas Trennendes, sondern als Gemeinsamkeit. Natürlich wird der Nachbar kritisch beäugt: Die Freiburger schütteln den Kopf über dessen Liebe zur Atomenergie und sind verunsichert von den regelmäßigen Störungen im Kernkraftwerk im elsässischen Fessenheim. Elsässer und Badener mosern, wenn bei Großbränden in ihren Chemiebetrieben die Behörden wieder vergessen, das Nachbarland zu informieren, obwohl dies in der so genannten Oberrheinkonferenz längst beschlossen wurde. Dann hoffen sie im Nachhinhein, dass die Windrichtung gestimmt hat.

Dennoch entwickelt sich durch die täglich wachsenden Kontakte eine gemeinsame Identität in dieser Region: Studenten können an den Universitäten Straßburg, Karlsruhe, Freiburg, Mülhausen und Basel studieren. Im Elsass haben seit Anfang der neunziger Jahre die Grundschüler zweisprachigen Unterricht, 250 Klassen werden inzwischen 13 Stunden auf Deutsch, 13 auf Französisch unterrichtet. Auf französischer Seite sind die Schulämter zufrieden, dass in zwei Jahren endlich auch in Baden die jüngeren Schüler Französisch lernen. Die deutsch-französische Zweisprachigkeit wird mehr und mehr als wichtiger Standortfaktor begriffen, manche elsässische Handwerksbetriebe stellen nur noch zweisprachige Arbeiter ein.

Sasbach. Der Bus hält plötzlich und stellt die Warnblinkanlage an. Einige der Pendler steigen aus, laufen zur Kaiserstühler Volksbank, die von ihnen auserkorene Pendlerbank. Die meisten elsässischen Arbeiter lassen sich einen Teil ihres Gehalts auf ein deutsches Konto überweisen, um Geld für ihr Kantinenessen zu haben. Und auch, um gelegentlich einen Bus später zu nehmen und bei Aldi, Wal-Mart oder bei Breuninger in Freiburg einkaufen zugehen. Mancher hat eine Vollmacht des Kollegen dabei und hebt für diesen Geld ab, wenn der Spätschicht hat und die Banken bei der Rückfahrt schon wieder geschlossen haben. Die Fahrt geht weiter. Hinten im Bus: Ruhe. Auf die Lehne zurückgelegte Köpfe wackeln im Schlaf, zerzauste Haare, geöffnete Münder. Währenddessen zieht der Bus an weiten Wiesen mit Obstbäumen vorbei, bis langsam die Vogesen sichtbar werden. Zwischen drei und vier Uhr werden sie rund um Sélestat zuhause sein, einen Kaffee machen. Und um vier Uhr früh am nächsten Morgen klingelt wieder der Wecker.

Der Südwesten Deutschlands wählt am 25. März neue Landtage. Nach diesem Beitrag über das badisch-elsässischen Grenzgebiet folgt in einer der nächsten Ausgaben eine Reportage aus Rheinland-Pfalz.

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