Es ist kurz vor sieben Uhr morgens und das Café Sperl in Wiens sechstem Bezirk bereits gut besucht. Draußen auf der Gumpendorfer Straße wird das Café durch eine Batterie von Scheinwerfern ausgeleuchtet wie am helllichten Tage. Über der Szene in seinem Inneren, den Tischen mit den schweren Marmorplatten und den Fenstersitzbänken aus rotem Plüsch, liegt ein Vorhang gleißend samtigen Lichts.
Kaffee trinkt hier allerdings noch niemand. Dazu sind die Anwesenden viel zu beschäftigt: Produktionsassistentinnen und Requisiteure, Elektriker und Regieassistenten, der Toningenieur und die gesamte Kameracrew vom Beleuchter bis zum Kameramann. Die Vorhut, die ersten 30 von insgesamt rund 100 Leuten. Die schmale Girardigasse, rechts ums Eck, ist beidseitig mit Filmtrucks zugeparkt, fast bis zum malerischen Naschmarkt hinunter.
Für drei Tage ist Regisseur David Cronenberg nach Wien gekommen, um für seinen neuen Film an Originalschauplätzen zu drehen: auf der Mölkerbastei, in der Berggasse, im Garten des Belvedere und heute in einem Altwiener Kaffeehaus. Dem Sperl. „Nach den Wochen im Studio in Köln“, sagt Peter Suschitzky, „ist dieser Dreh in Wien eine willkommene Abwechslung, und das umso mehr, als wir zwei Tage vor dem Zeitplan liegen.“ Suschitzky, dessen Familie aus Wien stammt, gehört zu den weltweit gefragten Kameramännern und hat seit Die Unzertrennlichen von 1988 jeden Film Cronenbergs fotografiert.
Eine dunkle Begierde ist die neunte gemeinsame Arbeit. Es geht um den jungen Psychiater Carl Gustav Jung, seinen damaligen Mentor Sigmund Freud sowie Jungs zeitweilige Patientin und Geliebte Sabina Spielrein. Weniger bekannt als die Affäre ist, dass Spielrein (1885 geboren, 1942 von den Nazis ermordet) als erste Frau zu psychoanalytischen Themen publizierte und auf ihrem Spezialgebiet, der Kinderanalyse, absolute Pionierarbeit leistete.
Altmodische Kaffeehäferl
Christopher Hampton, ein britischer Dramatiker, hat das Beziehungsgeflecht 2003 zur Grundlage seines Theaterstücks The Talking Cure gemacht und jetzt für den Film bearbeitet. In den Hauptrollen spielen Michael Fassbender, Viggo Mortensen, Keira Knightley, Vincent Cassel – gemessen an dieser Starbesetzung handelt es sich bei dem britisch-kanadisch-deutsch finanzierten Film mit seinem Etat von kolportierten 15 Millionen Euro fast um eine Low-Budget-Produktion.
Zudem ist Eine dunkle Begierde streng genommen Cronenbergs erster Ausflug zum Historienfilm. Für drei Drehtage lässt die Filmcrew das Wien des Fin de Siècle wiederauferstehen. Der reale Hintergrund für die Schlüsselszene im Café, die heute auf dem Plan steht, dürfte ein Besuch von Jung aus Zürich bei Freud in Wien im Frühjahr 1909 gewesen sein.
Für den Vormittag ist die gesamte linke Hälfte des Cafés drehfertig hergerichtet, bevor um acht die Komparserie eintrifft. In den Aschenbechern glimmen Zigarrenstummel, altmodische Kaffeehäferl stehen bereit, verschiedene Tageszeitungen von anno dazumal liegen aus. Auf einer Anrichte sind Süßspeisen arrangiert, besonders verlockend: ein Turm aus Schaumrollen.
Noch eine Sachertorte?
Zwei Dutzend distinguierte Herren, die für die Action im Hintergrund zu sorgen haben, nehmen in full dress Aufstellung. Einzig ihre schwarzen Zylinder tragen sie noch in durchsichtigen Plastiktüten bei sich. Dann werden sie auf ihre Plätze eingewiesen, paffen Zigarre, lesen Zeitung, spielen Schach. Kellner laufen probeweise geschäftig herum.
Keine halbe Stunde später ist plötzlich David Cronenberg da. Neben ihm Viggo Mortensen alias Freud, der das Café betreten hat, als wäre er Stammgast hier. Die schwierigste Szene macht den Anfang. Jung und Freud, beide im Gehrock und mit Vatermörderkragen, sitzen an einem Tisch, diskutieren – anderthalb, zwei Minuten lang. Mortensen und Co-Star Fassbender spielen die zwei Dialogseiten lange Szene in einem durch.
Freud hat eine Tasse schwarzen Kaffees vor sich, Jung bearbeitet mit einer Gabel eine Sachertorte. Er habe ja keine Ahnung, warnt Freud den Freund, auf welch erbitterten Widerstand ihre Arbeit stoßen werde; nicht zuletzt käme es ihren Feinden zupass, dass die Mitglieder des psychoanalytischen Kreises in Wien allesamt Juden seien. Jung sagt, er verstehe nicht, welchen Unterschied das mache. Freud blickt Jung kurz prüfend an, der aber schaut ganz arglos drein, besonders jetzt, mit seinem aparten Bärtchen aus Schlagsahne. „Das, mein Lieber, ist eine wahrhaft protestantische Bemerkung.“
Ein frisches Stück Torte
Cronenberg verfolgt das Geschehen aus einiger Entfernung auf einem kleinen Monitor, obendrauf: eine Freud-Büste aus Gips! Schon die erste Aufnahme sitzt, aber zur Sicherheit wird wiederholt. Eine Assistentin raucht Mortensen eine neue Zigarre an, der Tisch wird neu eingedeckt, ein frisches Stück Torte serviert. Walter, der Regieassistent, gibt per Funk die Kommandos. Noch einmal wird auf der Gumpendorfer Straße der Verkehr großräumig angehalten, Tonaufnahme ab, Background-Action ab, zuletzt: Action, bitte!
Es ist brütend heiß, drinnen wie draußen. Während einer Pause genehmigt sich Viggo Mortensen vor der Tür eine Selbstgedrehte. Er wirkt tief in sich versunken, allerdings nicht so tief, dass er einem Mitglied der Crew nicht unaufgefordert Feuer geben würde. Niemand traut sich, ihn anzusprechen. Mit nur angedeuteter Gestik und Zigarette statt Zigarre, memoriert er auf dem Vorplatz des Cafés Text und Szene, fasst sich ans Revers, seine, also Freuds, professorale Souveränität bedeutend.
Nach kurzem Umbau folgt die Detailauflösung der langen Dialogszene in Schuss und Gegenschuss. Cronenberg lässt seine Stars bei solchen Einzelaufnahmen nicht zur Wand sprechen, der jeweils andere bleibt am Tisch sitzen, auch wenn er selbst nicht im Bild ist. An dem Vormittag hat Fassbender als Jung den härteren Part: Insgesamt muss er fünf oder sechs halbe Sacher mit Sahne verdrücken.
Zigarren paffen
Schauplatz des Nachmittags ist die rechte Hälfte des Cafés, während alles, Mensch und Material, was gerade nicht gebraucht wird, nun auf die andere Seite hinüber übersiedelt wird. Mortensen kommt in T-Shirt und Trainingshose noch einmal vorbei, um eine kurze Dialogstelle aufzunehmen. Die Stars sind für heute fertig.
Eine der Szenen zeigt eine junge Küchengehilfin, die eine Karaffe mit Wasser füllt, links nach hinten durch eine Tür in die enge Küche hineingeht, dort Kaffee anrichtet und ihn auf die Durchreiche stellt. Eine andere Szene zeigt eine Totale des Cafés, man sieht, wie zwei Männer eintreten, von dem leicht korpulenten Oberkellner empfangen und an einen Tisch gleich neben dem Eingang eskortiert werden, man sieht junge Männer, die Billard spielen, und ältere, die Zigarren paffen oder Zeitungen durchblättern. In beiden Fällen liegt die größte Schwierigkeit darin, stimmige Bewegungsabläufe zu inszenieren. Immer wieder kommen sich die Statistinnen in der Küche in die Quere, die Billardhaie und die Kellner sowieso. Nach ein paar Probeläufen mehr wird gedreht.
„David arbeitet überaus ökonomisch“, sagt Peter Suschitzky, „er dreht Szenen zwei, höchstens drei Mal.“ Und Christian Almesberger, sein Assistent aus Salzburg, bestätigt: „Cronenberg weiß im Vorhinein genau, wie und was er will, aber natürlich: Wenn die Kamera oder der Film irgendetwas hat, und man merkt es nicht gleich beim Drehen, dann kann das ein Problem werden, weil kaum Material vorhanden ist, um später drum herumzuschneiden.“
Damit dieses System tatsächlich funktioniert, hat David Cronenberg seit ein paar Jahren eine Reihe von Mitverschworenen um sich versammelt. Dazu gehören neben Kameramann Suschitzky und Hauptdarsteller Mortensen, der nach A History of Violence (2005) und Tödliche Versprechen (2007) zum dritten Mal für den Regisseur arbeitet, Komponist Howard Shore, Schnittmeister Ronald Sanders, Casting-Agentin Deirdre Bowen, Ausstatter James McAteer und Cronenbergs Schwester Denise, die für das Kostümbild verantwortlich zeichnet.
Jeremy Thomas, einer der großen unabhängigen Produzenten des europäischen Kinos, hat bereits in den neunziger Jahren bei Naked Lunch und Crash mit Cronenberg gearbeitet und schon einmal in Wien gedreht (Blackout - Anatomie einer Leidenschaft 1980 mit Art Garfunkel als Psychoanalytiker). Er kommt ohne die früher branchenübliche Zigarre aus und macht einen sympathisch-entspannten Eindruck. An diesem Nachmittag ist er nur kurz am Set, vergewissert sich, dass alles wunschgemäß läuft, und verabschiedet sich bald. Auf der Suche nach einem Taxi geht ihm – very casual, very british – ein Schuhband auf.
Noch eine Schaumrolle?
Überhaupt kommt am Set den ganzen Tag über keinerlei Hektik auf. Jeder aus der Hundertschaft von Technikern, Kleindarstellern und Hilfskräften scheint genau zu wissen, was er oder sie zu tun hat – und tut es. Weder der Regisseur noch der Kameramann noch einer der Stars erhebt jemals die Stimme. Cronenberg hält seine Leute konstant bei Laune; wahrscheinlich ist das schon fast das Wichtigste bei einem Dreh.
Gegen halb vier ist die letzte Szene im Kasten. David Cronenberg macht einen zufriedenen Eindruck und wirft sich für ein Erinnerungsfoto in Pose. Dann werden im Hintergrund noch ein paar Sätze von ihm für das Making-of des Films aufgenommen. „Freud ist ein Synonym für Wien. Um dieses Flair einer Epoche einfangen zu können, braucht man Schauplätze wie das Café Sperl. Wir mussten praktisch nichts verändern, man fühlt sich hier wie ins frühe 20. Jahrhundert zurückversetzt.“
Der Tag dauert schon lang genug. Für die meisten hat er zu nachtschlafender Zeit angefangen, und bis alles im Café wieder in den ursprünglichen Zustand versetzt sein wird, braucht es mindestens noch zwei Stunden. Immerhin fragt die Produktionsassistentin: „Will vielleicht noch jemand eine Schaumrolle?“
Michael Omasta ist Filmredakteur der Wiener Wochenzeitung Falter
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