Christian VII., König von Dänemark, ist verrückt. Das weiß man im Königshaus, aber es stört niemanden. Es nimmt auch keiner daran Anstoß, dass die Königin ein Verhältnis mit dem Leibarzt seiner Majestät hat und von ihm ein Kind erwartet. Dem Spuk macht man erst ein Ende, als der Leibarzt, ein gewisser Struensee, zu mächtig geworden ist, und er nicht mehr nur als rechte Hand des Königs wirkt, sondern an seiner statt regiert. Mit Reformen hatte er versucht, in dem rückständigen Dänemark den Funken der Aufklärung zu zünden. Per Dekret wollte er den guten Menschen schaffen, aber "er dachte falsch". Sein ehrgeiziges Projekt scheitert, der Traum kann nicht Wirklichkeit werden, weil Struensee versuchte, allein, durch eine Revolution von oben, das Land zu verändern. Diese Kopfgeburt kostet ihn den Kopf. Sein Tod bedeutet das Ende der Struensee-Zeit.
Das Land, heißt es anspielungsreich in Enquists historischen Roman Der Besuch des Leibarztes, der gegen Ende des 18. Jahrhunderts spielt, köpft diejenigen, die zu weit aus dem Mittelmaß hervorragen. Struensees Nachfolger, der machtbesessene Guldberg, ein Unbedeutender, der sich Größe nur anmaßt, weiß darum. Er hat seine Lektionen gut gelernt. In Dänemark hat man Eichen gefällt, um Schiffe zu bauen. Geblieben ist eine "verwüstete Landschaft", in der sich Guldberg emporwachsen sieht wie einen "Busch, der sich über die Stümpfe der gefällten und besiegten großen Bäume erhebt." Dies ist eine der treffenden Metaphern, die Enquist benutzt, um in dieser historischen, aber alles andere als vergangenen Geschichte, von den ehrgeizigen und blutigen Machtspielen zu erzählen, die sich wie ein roter Faden durch die Geschichte ziehen.
Der 1935 in Schweden geborene Enquist, der für seinen Roman in diesem Frühjahr in Leipzig den Deutschen Bücherpreis erhielt, greift auf ein Beispiel aus der Geschichte zurück, das stellvertretende Bedeutung hat. Bevor Struensee an den Hof kam, war die Macht in den Händen von kleinen, aber einflussreichen Hofschranzen, die im Hintergrund wühlten, anordneten und regierten. Das Wohl des Landes war ihnen egal, wenn nur das eigene Wohlergehen keine Störungen erfuhr. Den dazu erforderlichen König hatten sie sich hingebogen. Sie hatten ihn solange dressiert und auf das Herrschen in ihrem Sinne vorbereitet, bis der König in diesem grausigen Spiel nicht mehr mittun wollte. Gezielt wurden die Vorbereitungen für ein Machtvakuum geschaffen, um die entstandene Leerstelle selber zu besetzen. Durch Schrecken und Bestrafung hatte man den jungen, verletzlichen Souverän zu einem willenlosen, verängstigten Regenten abgerichtet. Seine Majestät wurde durch Züchtigungs- und Disziplinierungsmaßnahmen zu einem bedeutungslosen Anhängsel der Monarchie degradiert, der keinerlei politischen Einfluss mehr hatte und nur noch zu Zwecken der Repräsentation gebraucht wurde. Man hatte den blaublütigen Spross durch Drohungen und Einschüchterungen so verängstigt, dass er jegliches Interesse verlor, sich in die Politik einzumischen.
Die Geschichte, die Enquist erzählt, ist auch die einer Verletzung. Sie handelt, um es mit Foucault zu sagen, von den Akten der Disziplinierung durch Strafen. Christian VII. durfte weder die ihm durch Geburt vorbestimmte Rolle spielen noch eine ihm gemäße. Er ist in eine Rolle gedrängt worden, an der er zu Grunde ging, weil er den zu der Rolle gehörenden Text verweigerte.
Enquists Thema sind die Formen von Gewaltanwendung in all ihren Schattierungen. Er erzählt von den Verwerfungen der Persönlichkeit im Umfeld der Macht, weil die Gesetze die dort herrschen, ein selbstbestimmtes Ich nicht dulden. Christian VII. wird als Thronfolger geboren, aber zum König wird er erst gemacht. Er selbst ist den Machtmechanismen hilflos ausgesetzt und erleidet schwere psychische Schäden durch die autoritären Zwangsunterweisungen. Erst Struensee ist es möglich, Zugang zu dem autistischen Herrscher zu finden. Der Leibarzt wird zum Vertrauten und Verständigen, er wird jener Freund, der mit dem Einsamen zu reden versteht, der ihm zuhört, sich für ihn Zeit nimmt. Denn der für verrückt erklärte König, ist einer der empfindsamsten und begabtesten Menschen, der in Trauer und Schweigen versunken ist, der sich in eine dunkle Welt zurückgezogen hat, in der er sein kann. Aus Struensee aber macht er eine einflussreiche, mit Macht ausgestattet Person. Er überantwortet ihm alle Aufgaben, die er selbst nicht zu erledigen vermag. Christian ist grenzen- und selbstlos im Verzichten, er weiß (oder ist es doch Dummheit?), was gut für sein Land und die Königin ist: es ist Struensee. Deshalb überantwortet er dem Vertrauten nicht nur die Staats-, sondern auch die Liebesgeschäfte mit der Königin. Er vertraut ihm die eigene Frau an, weil er sie nicht glücklich machen kann. Der so gänzlich nicht der Norm entsprechende König handelt, als sei er im Besitz jener Vernunft, die die Aufklärung, deren Vertreter Struensee ist, zum Prinzip des Handelns erheben will. Doch scheint Christian die Ideen bereits zu leben. Oder ist er doch ein Irrer? Kann es sein, dass er Träger der Fackel der Vernunft und Verkörperung des Dunkels zugleich ist? Weiß Christian, dass Struensee die Staats- und Liebesgeschäfte besser zu praktizieren versteht als er, und verzichtet deshalb darauf, oder ist er tatsächlich schon so geistig umnachtet, dass ihn nicht kümmert, was er aufgibt? Um diese Fragen kreist das Romangeschehen, weit davon entfernt, einfache Antworten anzubieten.
Per Olov Enquist ist mit Der Besuch des Leibarztes ein ergreifender Roman gelungen, der von selbstloser Liebe und grenzenloser Verzweiflung, vom Träumerischen in der Welt sein und der Vertreibung aus diesem Sehnsuchtsraum handelt. Während sich Enquist einerseits subtil um seine in die Welt geworfenen Figuren kümmert, denen er sich mit großem Einfühlungsvermögen zuwendet, so ungetrübt ist andererseits der Blick des Analysten, wenn er den Schleier über den nur unzureichend verhüllten Intrigenspielen in den Zentren der Macht lüftet. Der Leibarzt Struensee war eine Episode in der Historie Dänemarks. Die Geschichte, die Enquist erzählt, hält sich an den historischen Fall, aber nicht allein um ihn seiner selbst willen zu rekonstruieren, sondern um im Schatten dieser vergangenen Welt eben jene Konturen sichtbar werden zu lassen, die die Jetztzeit markieren. Dies ist ihm auf geradezu kongeniale Weise gelungen, denn alles Verweisende entwickelt sich unaufdringlich aus dem historischen Geschehen. Indem Enquist seine Leser in eine entlegene Welt führt, in der er sich gut auskennt, die er eindringlich beschreibt, legt er bei der Begehung des vergangenen Schauplatzes Sichtachsen frei, die einen Durchblick ins Gegenwärtige ermöglichen.
Kein Wunder, dass nach dem großen Erfolg, den Enquist mit Dem Besuch des Leibarztes hatte, mit Spannung der nächste Roman des Autors erwartet wurde. Wiederum geht es in Der fünfte Winter des Magnetiseurs zurück ins 18. Jahrhundert. Doch diesmal entwickelt Enquist seine Handlung nicht in den Herrschaftsräumen des Königs, sondern taucht ab in die nebulöse Welt, in der sich Scharlatanerie und Genialität miteinander verschränken. Erneut spürt der Autor Ideenkonzepten nach, die über das Verständnis der Zeit gingen, in der sie entworfen wurden. Der im Zentrum des Romans stehende Meisner könnte ein Betrüger sein, aber er hat es vermocht, eine Blinde sehend zu machen, nachdem die Künste der Ärzte an ihre Grenzen geraten waren. Der Vater des Mädchens, selbst Arzt, wird nach der geglückten Behandlung seiner Tochter zum Assistenten des Magnetiseurs, dessen Wirken auf die Lehre Messmers anspielt, eines Gelehrten aus dem 18. Jahrhundert, der versuchte, mit Magnetismus die körpereigenen Kräfte zum Fließen zu bringen, um so den Heilungsprozess in Gang zu setzen. Wiederum wirft Enquist die Frage auf, wie viel Unvernunft sich die Vernunft leisten kann, was vom Mythisch-Magischen bleibt, wenn sich das rationale Aufklärungsprinzip durchsetzt.
Die Frage hatte im Leibarzt schon den König beschäftigt: Wird Platz sein für einen wie ihn in der Welt, die Struensee errichten wollte? Das Okkulte als Nachtseite der Aufklärung wird in Enquists Roman als eine die Massen faszinierende Kraft gezeigt. Sie sind beeindruckt von den Kräften eines Mannes, der Wunder vollbringen kann, aber von seinem "vernünftigen" Assistenten als Quaksalber enttarnt wird. Als Meisner anfängt, sich in seinem Ruhm zu gefallen, kündigt ihm der Arzt die Gefolgschaft. Enquist stellt Meisner als eine diabolische Figur vor, als einen Heiler, der dort Erfolg hat, wo die Wissenschaft nicht mehr weiter wissen, und der gerade wegen dieser Fähigkeit in die Lage gerät, Einfluss auf die auszuüben, die auf einen Erlöser hoffen.
Anzumerken bleibt, dass der neue Enquist in Wirklichkeit die Neuausgabe eines bereits 1964 in Schweden und zwei Jahre später in Deutschland verlegten Romans ist, der zu einem Zeitpunkt erschien, als der Autor dreißig war. Dass es sich um ein Frühwerk handelt, merkt man dem Buch an, denn es dauert, bis es Enquist gelingt, seine Handlungsstränge zu organisieren, sie in eine für den Leser nachvollziehbare Ordnung zu bringen. Auch fehlt es der Geschichte im Vergleich zum Leibarzt an erzählerischem Glanz, an Souveränität, mit der es Enquist im jüngsten Werk versteht, erzählerische Linien zu ziehen, Schneisen in einen historischen Kontext zu schlagen, die erhellend nicht nur in Bezug auf das historische Material sind, das er ausbreitet. Ohne Frage zeugt der Magnetiseur von erzählerischer Solidität. Auch in dem frühen Werk versteht es Enquist, ein Zeitpanorama zu entwerfen. Aber die Gegenwärtigkeit des Erzählten bleibt im Vergleich zum Leibarzt doch eher marginal und nicht von solch bedrängender Aktualität. So hat denn der Versuch, mit dem alten-neuen Werk die Erfolgswelle des Leibarztes absatzfördernd zu nutzen, tatsächlich nur einen Vergleich herausgefordert, der deutlich macht, welche enorme erzählerische Entwicklung Enquist genommen hat.
Per Olov Enquist: Der Besuch des Leibarztes. Roman. Aus dem Schwedischen von Wolfgang Butt. Hanser-Verlag, München 2001. 371 S., 21,50 EUR
Per Olov Enquist: Der fünfte Winter des Magnetiseurs. Roman. Aus dem Schwedischen von Hans-Joachim Maass. Hanser-Verlag, München 2002, 261 S., 21,50 EUR
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