Das schlechte Vorbild der Natur

Soziobiologie Evolution der Solidarität: Lassen sich moralische Fragen mittels der Naturwissenschaft beantworten?

Die Geschichte der Naturwissenschaften ist eine Geschichte bemerkenswerter Erfolge – insbesondere dort, wo es darum ging, alltagssprachliche oder vorwissenschaftliche Vorstellungen zu überprüfen und sie gegebenenfalls durch bessere, wissenschaftlich gestützte Annahmen zu ersetzen. Entscheidend war dabei nicht nur dass hehre Interesse an reiner Erkenntnis. Vielmehr wäre das heute übliche Niveau der technischen Naturbeherrschung, wären Autos, Züge, Waschmaschinen und Computer überhaupt nicht möglich gewesen, wären die wissenschaftlichen Einsichten nicht in die Entwicklung der Technik eingeflossen.

Insofern scheint es durchaus verständlich, wenn Soziobiologen, Neurowissenschaftler und einige Philosophen den Anspruch erheben, naturwissenschaftliche Erkenntnisse auch für die Moral zu nutzen. An die Stelle fragwürdiger moralischer Intuitionen und umstrittener philosophischer Theorien würde ein wissenschaftlich abgesichertes System von Handlungsanweisungen treten, dessen Basis nicht die menschliche Willkür, sondern die Natur selbst ist.

Das Gute und das Nützliche

Ein Vertreter dieser Auffassung ist der Soziobiologe Edward O. Wilson. Zusammen mit dem Wissenschaftsphilosophen Michael Ruse hat er die Auffassung vertreten, dass man aus der Moralphilosophie eine angewandte empirische Wissenschaft machen kann. Zwar bestreiten die Autoren nicht, dass wir klare moralische Intuitionen haben. Doch diese Intuitionen und damit auch die moralischen Prinzipien, die sich auf sie stützen, haben eine eindeutige natürliche Grundlage.

Als unmoralisch beurteilen wir Handlungen wie Raub und Mord also nicht etwa deshalb, weil sie schlecht sind, sondern weil uns die Evolution eine Abneigung gegen sie eingepflanzt hat. Und dies wiederum erklärt sich daraus, dass die entsprechenden Handlungen schädlich sind für das eigene Überleben und für das Überleben einer Gruppe. So ist uns die Abneigung gegen den Inzest einfach deshalb angeboren, weil sich Kinder aus inzestuösen Verbindungen als weniger überlebensfähig erwiesen haben. Ein genaueres Verständnis überlebensdienlicher Haltungen würde uns also eine naturwissenschaftlich begründete Moral bescheren.

Neben der Evolutionstheorie scheint auch die Neurobiologie Ansatzpunkte für ein naturalistisches Verständnis von Ethik zu bieten. So betrachtet beispielsweise der amerikanische Philosoph Paul Churchland moralisches Lernen als das bloße Training von Zellverbänden im menschlichen Gehirn. Will man jemanden von einer anderen Meinung überzeugen, dann versucht man, dessen Gehirn in einen anderen Aktivationszustand zu versetzen. Ein genaueres Verständnis dieser Prozesse würde uns daher auch ein genaueres Verständnis von moralischen Urteilen bescheren.

Nun haben die Neurowissenschaften uns in der Tat in den letzten Jahren wichtige Erkenntnisse über die biologischen Grundlagen von Moralität verschafft. Zum Beispiel konnten sie zeigen, dass unbewusste Emotionen eine wichtige Bedeutung für das Handeln haben und Menschen keineswegs reine Egoisten sind, sondern mit anderen mitfühlen und ihr eigenes Wohlergehen zur Not auch im Interesse anderer aufs Spiel setzen. Doch so interessant diese Erkenntnisse auch sein mögen – sie betreffen nur die Voraussetzungen von Moralität, nicht das Phänomen selbst. Altruismus und Mitgefühl befähigen uns dazu, moralisch zu handeln, doch sie sagen uns nicht, was wir tun sollen. Wer verstehen will, was Moralität ist, der wird sich Klarheit verschaffen müssen über den Unterschied von Gut und Böse – den entscheidenden Punkt in allen moralischen Systemen.

Den Zellverbänden im menschlichen Gehirn ist es im Prinzip egal, ob eine bestimmte Auffassung gut oder böse ist – sie lassen sich auf das eine ebenso trainieren wie auf das andere. Die Zurückführung von moralischem Lernen auf das Trainieren von Zellverbänden verfehlt daher den zentralen Kern von moralischen Überzeugungen. Dasselbe gilt auch für die Evolutionstheorie. Natürlich haben sich moralische Fähigkeiten in der Evolution entwickelt. Leider haben die unmoralischen Fähigkeiten ziemlich gut Schritt gehalten – andernfalls wären wir alle Engel.

Zwar fällt es den meisten Tieren schwer, einander zu betrügen – sonst aber sind sie zu so ziemlich allem fähig, was Menschen hinter Schloss und Riegel bringen würde: Tiere berauben, quälen und töten einander, und dabei machen sie nicht einmal vor ihren eigenen Artgenossen, ja noch nicht einmal vor dem eigenen Nachwuchs oder ihren Sexualpartnern halt. Selbstverständlich kann man ihnen das nicht vorwerfen – was sie tun, ist nur zu natürlich. Aber eben deshalb kann die Natur nicht als Vorbild oder gar Quelle von Moralität dienen.

Offenbar können wir also nicht auf den Beistand der Natur hoffen, wenn es darum geht, moralische Forderungen, Rechten und Pflichten zu begründen. Die Verantwortung hierfür müssen wir wohl weiterhin selbst übernehmen. Und das ist nicht ganz zufälligerweise so. Im Gegensatz zu all den schönen Legenden von den guten Wilden und der wohlmeinenden Natur: Moralität ist eine Kulturleistung – eine Leistung, die wir uns unter großen Mühen abgerungen haben und mit nicht viel weniger großen Mühen aufrechterhalten.

Wenn es nur darum ginge, unserer Natur zu folgen – das könnten wir weiß Gott einfacher haben! Aber wir wissen schon, warum wir das nicht machen: Mit guten Gründen halten wir uns und Unsersgleichen zu allerlei ganz natürlichen Ungeheuerlichkeiten fähig. Die Begründung moralischer Normen mag ein mühsames und manchmal verwirrendes Geschäft sein. Doch der Verzicht auf solche Begründungen und damit das vernünftige Nachdenken über sinnvolle und weniger sinnvolle Normen wäre nicht nur widersinnig; er kann von niemandem ernstlich gewollt werden – natürlich nicht!

Michael Pauen ist Philosophieprofessor an der Humboldt-Universität Berlin

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