Sascha Lobo, ein neuer Held unserer Kreise, sitzt im Online-Beirat der SPD. Die Belletristin Julia Franck kann man auf der Website steinmeier-wird-kanzler.de erklären hören, wie sie dem Kandidaten ein Gedichtbuch geschenkt hat, um so zu bekräftigen, dass sie ihn persönlich für den richtigen Regierungschef hält. So etwas gestehen hier auch Moritz Rinke, Thomas Quasthoff und die anderen Verdächtigen.
Dem Jungmenschen fällt dazu auf Anhieb ein Wort ein, das sich oft bei ihm meldet: Wie peinlich! Doch wenn es um die SPD geht und wie wir zu ihr stehen, beschränkt sich die Empfindung nicht auf jenes Lebensalter. Eckhard Henscheid, lange ein besonders strahlender Held unserer Kreise, der für diese Art Peinlichkeit das absolute Gehör hat, verfolgte in den Achtzigern ein Projekt mit dem Titel: „Was ist eigentlich der Herr Engholm für einer?“ Engholm war, Sie erinnern sich, SPD-Kanzlerkandidat.
Anderseits: Wenn Martin Mosebach oder gar Botho Strauß jetzt Wahlkampf für die CDU machten, wäre das eine Überraschung. Uschi Glas spielt nicht in dieser Liga und bleibt deshalb außen vor. Dass die seinerzeit hoch geschätzte Aktrice Cordula Trantow sich heftig für die CSU aussprach, befremdete eher, als dass es das Peinlichkeitsgefühl auslöste. Ähnlich sah man Golo Mann, als er sich von Willy Brandt ab- und Franz Josef Strauß zuwandte: Kopfschütteln.
In den sechziger Jahren, sagt der Jungmensch zögernd, hat die Intelligentsia aber ganz anders zur SPD gestanden als heute? Und der Rentner kommt ins Erzählen: Wie Martin Walser 1961 als Rowohlt-Taschenbuch Die Alternative oder Brauchen wir eine neue Regierung? herausbrachte, die erste Intervention der Literaten im Wahlkampf für Willy Brandt, die unseren Kreisen und denen, die in sie aufsteigen wollten, eindeutig die Richtung vorgab. Zu derselben Legende gehört das (West-)Berliner Wahlkontor der SPD, in dem sich nicht nur Gudrun Ensslin als Nachwuchskraft für die Bundestagswahl 1965 (und Willy Brandt) engagierte, sondern auch der junge, bereits renommierte Verleger Klaus Wagenbach, Peter Härtling und die ganze Bagage.
Schmidt: nicht unser Mann
Günter Grass’ Einsatz für die „ESPEDE“ (das der alte Herr jetzt unbedingt fortsetzen muss) wurde kanonisch – überhaupt kann man zu der Einschätzung gelangen, die Regierung Brandt, die Ostpolitik, die inneren Reformen seien ein Projekt der literarischen Intelligentsia gewesen, die in der SPD (und der koalitionswilligen FDP, die vorbildlich ihre deutschnationalen Anteile ausschied) ihre parlamentarischen Repräsentanten gefunden hatte. Mit Gusto erinnere ich mich, gesteht der Rentner, an unser Triumphgeheul vor dem Fernseher, nach der Bundestagswahl 1972, die Willy Brandt als strahlenden Sieger sah.
Mit Brandts Rücktritt endete diese Ära – und ihre Verklärung begann. Helmut Schmidt war nicht unser Mann. Zwar glaubte kein Kulturredakteur wirklich, dass ein vom Bundeskanzler ausgefertigter Befehl die Nacht von Stammheim 1977 bewirkt habe, das glaubten nur die Freaks, die auf Baaders Genickschussinszenierung hereinfielen. Aber ein kleines bisschen glaubte es der Kulturredakteur eben doch; er rezensierte noch 1989 Christian Geisslers RAF-Roman kalamatta ehrfürchtig. Dass Helmut Schmidts militärische Lösung des RAF-Problems die richtige war, diese Einsicht setzte sich in unseren Kreisen nur heimlich durch; Helmut Breloers TV-Film Todesspiel kanonisierte diese Einschätzung.
Überhaupt guckten wir inzwischen viel mehr fern. Dass man die ganze Zeit so oft ins Kino gegangen war, erkannten wir erst jetzt. Die Belletristik verlor ihren Status als Leitmedium; die Theorie, die seit Adorno irgendwie (unglücklich) mit ihr verheiratet war, blieb noch ein Weilchen oben. Die SPD hatte ihren Habermas – aber die Nachwuchskräfte strebten entschieden in Richtung des Französischen, und der Dekonstruktivismus versteht sich schlecht mit der Sozialdemokratie. Wie das mit Niklas Luhmann, dem Gegenkönig der Theorie, war, wurde nie ganz klar.
Es kam hinzu, dass sich während der Regierung Schmidt die Sozialdemokratie – als Großmilieu verstanden – spaltete (was sich mit der Regierung Schröder wiederholte). Die Grünen kamen ins Parlament (später war es die Linkspartei), die in puncto Personal und Lebensstil die Protestbewegung beerbten und dem sozialdemokratischen Traditionsmilieu ein Graus waren (schon wegen ihrer Feindschaft gegen die große Industrie). Hier übte die Belletristik gar keine Wirkung, eher die Biologie. Dass im Hintergrund Rousseau, der alte Hexenmeister, im Spiel war, mit seinen Ideen über die Resurrektion der Natur (denen wiederum die Frankfurter Schule nachhing), beschäftigte unsere Kreise kaum. Wir glaubten Technik und Naturwissenschaft, was sie über Endlager und Energieressourcen und ökologische Gleichgewichte zu sagen hatte, aufs Wort; schwere Zeichen, die dem Gleiten des Signifikanten zu unterwerfen nicht einmal die dekonstruktivistischen Nachwuchskader sich getrauten. Sie versammelten sich in der allgemeinen und vergleichenden Literaturwissenschaft bei Seminaren über Heiner Müller.
Es kam hinzu, dass die andere Seite ihre Einstellung änderte. Dass der Bundeskanzler Erhardt, ein netter und harmloser Mann, unsere Helden als „Pinscher“ beschimpfte und Franz Josef Strauss, alles andere als harmlos, ich weiß, sie später als „Ratten und Schmeißfliegen“ titulierte – so etwas kam in Helmut Kohls CDU nicht mehr vor, und was die CSU betrifft, so fuhr Martin Walser zum Schafkopfen nach Wildbad Kreuth und verstand sich prima mit Theo Waigel. Dass er mal für die DKP optiert hatte, war dort stillschweigend verziehen.
Ein Subsystem, so sieht’s aus
Anders gesagt: das Feuilleton, die Kultur unterlag nicht mehr dem Rechts-links-Schema. Der Frankfurter Oberbürgermeister Walter Wallmann (CDU) entdeckte die Schönheiten der postmodernen Architektur, und die altdeutsche Tradition der Poesie, derzufolge der Dichter Urworte schleudert, die Widerspruch ausschließen und die nur der Eingeweihte vernimmt, starb unvermerkt ab. (Letztes Jahr habe ich zum ersten Mal den bedeutendsten Roman der Nachkriegszeit gelesen, Elisabeth Langgässer, Das unauslöschliche Siegel, der, unter großem poetischen Aufwand, zu unser aller Rückkehr in die römische Kirche nötigt.)
Anderseits blieben die Umrisse der Lager natürlich erhalten. Habermas diskutierte mit Ratzinger über Moralphilosophie – aber die SPD organisierte eine Veranstaltungsreihe, „Philosophy Meets Politics“, bei der er sowohl mit Gerhard Schröder als auch mit Steinmeier konferierte. Die Kulturtermine im Kanzleramt Gerhard Schröders erfreuten sich in unseren Kreisen großer Beliebtheit – allerdings hatte der Redakteur darüber später in seinem Blatt hoch ironisch zu referieren.
Die Sache mit der Peinlichkeit. Ich erinnere mich genau, dass ich 1965 Günter Grass und das Wahlkontor der SPD genau so peinlich fand wie heute der Jungmensch Julia Franck auf der Steinmeier-Website einschätzt. Nostalgie führt in die Irre, „ja damals, als Willy Brandt Kandidat war, da konnte man sich noch guten Gewissens und vollen Herzens engagieren“: der Nachwuchskader sah es anders. Ein damals besonders strahlender Held unserer Kreise, Hans Magnus Enzensberger, hielt sich vom Wahlkampf fern; er wirkte mit beim Republikanischen Club in Westberlin, er ging nach Kuba, um höchstselbst den Castro-Sozialismus zu testen. Wahlkampf, Parteipolitik, Parlamentarismus, irgendwie ist das unseren Kreisen zu wenig. Hier geht es um die Gesellschaft, das Leben, die Welt, das Seiende im Ganzen, und ein Künstler, der ein Genmaisfeld zu vernichten hilft, wirkt tiefer als jeder Wahlkämpfer.
Unsereins pflegt das als Geist der Utopie, der halt in der Intelligentsia lebe, während er anderswo längst abstarb, zu preisen. Der Geist der Skepsis dagegen erkennt fortwirkende Machtphantasien und amüsiert sich über das folgenlose Hochgefühl, „wenn du die Welt von deinen Schultern nimmst, musst du bemerken, dass sie nicht fällt.“ Mit Luhmann kann man kühl die Ausdifferenzierung am Werk sehen. Unsere Kreise bilden ein Subsystem, das mit seiner Selbstorganisation befasst ist, ohne direkten Zugang zum politischen System (das gleichfalls der Selbstorganisation obliegt). Den Unzusammenhang überdeckt Phantasieren.
Der Schriftsteller Michael Rutschky (geb. 1943 in Berlin) zählt zur aussterbenden Spezies der SPD-Stammwähler
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