Die Zeit der imperialen Herrschaft Amerikas ist vorbei! Mit dieser verblüffenden These, die dem herrschenden Bild von der »einzig verbliebenen Supermacht« widerspricht, legt Emmanuel Todd einen Essay vor, der in Frankreich eine große Debatte auslöste und mittlerweile in elf Sprachen übersetzt ist. Gerade jetzt, da wir ebenso empört wie ohnmächtig zusehen müssen, wie die Hightech-Macht USA an der Sechs-Millionenstadt Bagdad und dem irakischen Volk wieder einmal eine Art »Jüngstes Gericht« vollstreckt, mag diese These unwahrscheinlich und eher wie eine polemische Wunschphantasie denn wie eine glaubhafte Prognose erscheinen. Wer wünschte in diesen Tagen nicht, wenn schon kein Gottesgericht die Kriegsverbrecher im Weißen Haus straft, dass ihr völkerrechtswidriger Angriffskrieg den Anfang vom Ende des Imperium Americanum einläuten würde! Immerhin hat Todd seinen prognostischen Scharfsinn schon einmal unter Beweis gestellt, wagte er doch bereits in seinem 1976 erschienenen Buch La Chute finale eine Vorhersage über den Zusammenbruch der Sowjetunion.
Die Ursache des Niedergangs der »alleinigen Supermacht« sieht Todd nicht vorrangig in ihrem weltweiten Ansehensverlust, sondern in der Umkehrung wirtschaftlicher Abhängigkeitsverhältnisse. Früher waren Europa und Japan ökonomisch wie politisch ganz von den USA abhängig, jetzt offenbart ein gigantisches Handelsbilanzdefizit (2002: 550 Milliarden Dollar) ein umgekehrtes Verhältnis. Die Liste der Länder mit einem Handelsüberschuss gegenüber den USA ist eindrucksvoll: Deutschland, Frankreich, Italien, Israel, Japan, Russland und China. Selbst Mexiko, Südkorea und die Ukraine exportieren mehr in die USA, als sie von dort importieren. Verfügte Amerika in der unmittelbaren Nachkriegszeit über eine autonome, geradezu überproduktive Volkswirtschaft, so steht im Zentrum ihres jetzigen »räuberischen« Systems nicht mehr die Produktion, sondern der Konsum. Dies zeigt sich auch an der enormen Verschuldung von US-Unternehmen und -Haushalten, die zu historischen Pro-Kopf-Höchstständen geführt hat. Todd: »Es ist zunehmend so, dass die Welt produziert, damit Amerika konsumieren kann. ... Amerika ist nicht mehr als Produzent wichtig für die Welt, sondern als Konsument, zumal in einer Phase der weltweiten Nachfrageschwäche«.
Die enorme Steigerung der Börsenkapitalisierung vermittelte bis Ende der neunziger Jahre das trügerische Bild einer hyperproduktiven US-Wirtschaft, doch hatte dieser Vorgang nichts mit realem Wachstum und Produktivität zu tun. In Wahrheit war er nichts anderes als Indiz für eine Inflation der Reichen, die ihr überschüssiges Geld an der Börse investierten. Doch seit den großen Börseneinbrüchen der vergangenen Jahre, nach dem Zusammenbruch von Worldcom, Enron und anderen Flaggschiffen der US-Wirtschaft gilt die Wall Street ausländischen Anlegern nicht mehr als sicherer Finanzplatz. Das wahrscheinlichste Szenario, das Todd skizziert: Eine Panik an den Börsen von unvorstellbarem Ausmaß, gefolgt von einem tiefen Sturz des künstlich hochgehaltenen Dollars. Damit wäre es mit der »imperialen« Position der Vereinigten Staaten in wirtschaftlicher Hinsicht vorbei.
Aus dem Bewusstsein anschwellender ökonomischer Abhängigkeit resultiert ein »theatralischer Militarismus« der USA, der - nach Todd - folgende Merkmale aufweist: Ein Problem wie der internationale Terrorismus wird nie endgültig gelöst - daher können die USA ihre Legitimität als »Schutzmacht der freien Welt« immer wieder reklamieren und beliebige Militäraktionen rechtfertigen. Man konzentriert sich dabei auf Kleinmächte: Afghanistan, Irak, Iran, Nordkorea, Kuba. Der einzige Weg, politisch im Zentrum einer Welt zu bleiben, deren ökonomische und demographische Achse sich immer mehr nach Eurasien verschiebt, besteht darin, gegen Akteure, die man zu »Schurkenstaaten« erklärt, vorzugehen. Es werden immer neue Waffensysteme entwickelt, die den USA einen unaufholbaren Vorsprung im Rüstungswettlauf geben und ihnen die globale Kontrolle über die Ressourcen des Planeten sichern. Doch dazu reichen - auf längere Sicht - weder die militärischen noch die ideologischen Ressourcen Amerikas aus.
Denn unverzichtbare Voraussetzung für die Stabilität von Weltreichen ist der Universalismus - das Vermögen, Menschen und Völker gleich zu behandeln. Der Erfolg Roms beruhte wesentlich darauf, dass alle Bürger der Kolonien, vom Rechtsstatus her, wie römische Bürger behandelt wurden. Als Vasallen konnten sie an Roms zivilisatorischen Errungenschaften wie Straßen- und Brückenbau sowie Aquädukten partizipieren und genossen zudem den Schutz ihrer Vormacht. Auch Amerikas Macht blieb legitim und unangefochten, als es seine »universellen Werte« erfolgreich exportierte, in seinen wichtigsten Protektoraten Deutschland und Japan Demokratie und Prosperität beförderte und sich gegenüber den Staaten seiner Einflusszone als »wohlwollender Hegemon« erwies, was allerdings im lateinamerikanischen Hinterhof kaum galt.
»Doch zum Unglück für die Welt«, so Todd, »ist die Abwendung vom Universalismus gegenwärtig die weltanschauliche Haupttendenz in Amerika.« Denn die USA behandeln die Völker ihrer Protektorate erkennbar ungleich und diskriminierend. Damit aber untergraben sie selbst die Grundlagen ihrer Herrschaft. Seit zwei Jahrzehnten sind sie - zusammen mit Großbritannien (darin dem Habsburger Reich vergleichbar, das zur Zeit der Gegenreformation auch Spanien und die spanischen Niederlande umfasste) - zur Speerspitze einer neoliberalen Gegenreform geworden, die Ungleichheit und Ausgrenzung überall auf der Welt verschärft hat. Dabei hat sich auch die US- Gesellschaft selbst nach spätrömischem Muster polarisiert: in eine prestigeversessene Elite einerseits und eine immer größer werdende Plebs andererseits, die mit »Info- und Tittytainment«, dem amerikanischen Pendant der »circenses«, bei Laune gehalten und zugleich durch das beständige multimediale Bedrohungsszenario des Terrorismus in paranoide Angstzustände versetzt wird. Die seit Reagan kursierende Rede vom »Reich des Bösen« ist als klassische Projektion einer Gesellschaft zu verstehen, die ihr eigenes Böse nicht wahrhaben will.
Gleichzeitig konstatiert Todd einen Rückgang des egalitären Universalismus in den Außenbeziehungen, ablesbar am Verhältnis Amerikas zu anderen Staaten, besonders im Umgang mit der arabischen Welt. Israel und die amerikanischen Juden wurden in das mentale System Amerikas integriert - Araber blieben wie Schwarze und Mexikaner draußen. Die einseitige Parteinahme für Israel und die Unfähigkeit, in der arabischen Welt eine gleichberechtigte Zivilisation zu sehen, »ist die sichtbarste Abkehr vom Universalismus. Das Unrecht, das den Palästinensern tagtäglich angetan wird durch die israelische Besetzung ihrer Gebiete, ist ein täglicher Verstoß gegen das Prinzip der Gleichheit, das doch zur Basis der Demokratie gehört. ... Weniger sind wir uns der Tatsache bewusst, dass die israelische Gesellschaft wie die amerikanische vom Fieber der Ungleichheit erfasst ist. Israel hat mittlerweile mit die größten Einkommensunterschiede unter den entwickelten und demokratischen Ländern.« (Todd)
Aber folgt aus all dem zwingend auch der Niedergang von Amerikas imperialer Macht und globaler Militärmacht? Hier legt Todd den Finger auf einen weiteren wunden Punkt: Auch wenn die USA in Kriegen über die strategische Luftüberlegenheit verfügen, ihre begrenzten Landstreitkräfte sind nicht (mehr) in der Lage, die riesigen geographischen Räume, aus denen sie ihre Produkte und ihr Kapital ziehen, unmittelbar zu kontrollieren. Dieses Phänomen des overstretching hat der amerikanische Historiker Paul Kennedy in seiner Analyse vom Aufstieg und Fall der Weltreiche bereits eindrucksvoll dokumentiert.
Wie Afghanistan lehrt, wird es Amerika nicht gelingen, nach einem »erfolgreichen« Feldzug gegen Bagdad den Mittleren Osten zu befrieden. Eher wird sich die ganze Region in ein einziges, großes Palästina verwandeln, eher könnten die noch moderaten arabischen Länder zur Beute radikaler Islamisten werden, als dass sie sich von den USA kolonialisieren lassen. Auch das dürfte Kontinentaleuropa von Amerika weiter entfernen.
Auf lange Sicht - so prophezeit Todd - wird es keine alles beherrschende Supermacht mehr geben, eher eine Balance der Kräfte zwischen den großen Wirtschaftsblöcken USA, EU, Japan, Russland, Indien und China - eine Balance, die dem tatsächlichen ökonomischen, demographischen und politischen Gewicht der Hauptakteure entspricht. An diese neue multipolare Konstellation zu glauben, fällt freilich schwer. Ist es sehr zu bezweifeln, ob der Rückzug und die innere Erosion des Imperium Americanum so unblutig verläuft wie seinerzeit die Auflösung des Sowjetreiches. Verwundete Tiger sind bekanntlich besonders gefährlich.
Emmanuel Todd: Weltmacht USA. Ein Nachruf, Piper 2003, 13 Euro.
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