Wann ist unsere Würde in Gefahr? Viele von uns haben die Angst, irgendwann anderen Menschen und Situationen ausgeliefert zu sein. Nur noch als Nummer im System gesehen zu werden, abgestellt in irgendeinem Krankenhaus oder Pflegeheim. Kaum beachtet, nicht mehr als Person wahrgenommen, sondern zum reinen Pflegeobjekt degradiert. Andere beschreiben auch die Situation auf Ämtern als entwürdigend, weil sie sich dort – so formulieren es beispielsweise Hartz-IV-Empfänger immer wieder wörtlich – „ausziehen“ müssen. Ungeachtet der Frage, wodurch dieses Empfinden hervorgerufen wird: Was steckt in diesem Begriff? Sie haben das Gefühl, dazu gezwungen zu werden, Intimes preiszugeben. Sie empfinden Scham, fühlen sich als Objekt und bloßgestellt. Wie jemand, der sich unfreiwillig vor anderen entkleiden muss.
Nur noch Objekt sein, unselbstständig, ausgeliefert, nicht mehr als Mensch mit seiner Geschichte und Individualität wahrgenommen – damit nähern wir uns schon einigen Begriffen und Beschreibungen, die in der Diskussion um die Würde des Menschen immer wieder auftauchen. Denn es geht zentral um die Frage: Was macht uns als Menschen aus? Und welchen Umgang mit uns können wir in einer humanen und demokratischen Gesellschaft erwarten?
Viele Gelehrte haben sich in der Geschichte der Menschheit mit diesen Themen beschäftigt, insbesondere aus dem Feld der Philosophie. Es gibt zahlreiche Publikationen, die spannende Streifzüge durch die Geschichte des Begriffs der Würde unternehmen, in denen wir uns an dieser Stelle verlieren könnten. Nur so viel sei angedeutet: Der Begriff der Würde ist eine verhältnismäßig „neue“ Erscheinung. Das lateinische dignitas bezog sich eher auf gesellschaftliche Anerkennung bzw. Stellung. Obwohl Cicero im ersten Jahrhundert vor Christus als einer der Ersten angesehen wird, die sich mit dem Begriff „Würde“ auseinandersetzten, dient seine Schrift De o fficiis vielmehr als eine Anleitung für ein gemäßigtes Leben und erhebt keinen Anspruch auf eine allen Menschen innewohnende Eigenschaft. Erst mit der Renaissance keimen die ersten Ansätze des heutigen Verständnisses von Würde auf, zum Beispiel im Aufsatz von Giovanni Pico della Mirandola über die Würde des Menschen, der das Hauptaugenmerk auf die Entscheidungsfreiheit des Menschen, sich zum Göttlichen oder zum Tierischen hin zu entwickeln, legt.
Kurz zu mir
Ich lebe mit meiner Familie heute zwar in einer vergleichsweise finanziell privilegierten Situation, und trotzdem habe ich als Kind schnell erfahren, dass Wohlstand keine Selbstverständlichkeit ist. Mein Vater wuchs in einem kleinen Dorf im Wend- land in Niedersachsen auf und kam in der zweiten Hälfte der Fünfzigerjahre mit einer Ausbildung, aber ohne finanzielles Polster ins nördliche Ruhrgebiet. Er lernte meine Mutter kennen und lieben und hielt bei meinem Großvater um ihre Hand an. Der war Bergmann, zusammen mit elf Geschwistern aufgewachsen, arbeitete zu diesem Zeitpunkt unter widrigen Bedingungen immer noch unter Tage und wusste, wie schwer es im Leben sein konnte. Folgerichtig fragte er meinen Vater, ob er seine Tochter Erika denn ernähren könne.
Die Frage war berechtigt, denn meine Eltern hatten, als sie sich kennenlernten, buchstäblich nichts auf dem Konto. Mein Vater bejahte trotzdem die Frage meines Großvaters, aber diese Geschichte gehört zur Familien-DNA, mit der ich aufgewachsen bin.
Genauso wie die Geschichte meiner Mutter, die als gute Schülerin das Gymnasium besuchen durfte. Meine Großeltern waren stolz auf sie. Aber sie mussten ständig sparen, um meiner Mutter den Schulbesuch inklusive der Lernmaterialen zu ermöglichen und gleichzeitig die beiden anderen Töchter zu ernähren. Meine Mutter wollte das irgendwann nicht mehr mit ansehen und zog die Konsequenz. Sie verließ ohne Rücksprache mit meinen Großeltern das Gymnasium und begann eine Lehre in einem Lebensmittelladen. Eine bleibend schreckliche Erfahrung. Nicht nur wegen der Arbeitsbedingungen, sondern auch weil sie regelmäßig ihre ehemaligen Mitschülerinnen und Mitschüler an der Schaufensterscheibe vorbeiziehen sah. Und mit ihnen ihre Bildungsträume. Meine Mutter hatte nicht die Möglichkeit, ihr Potenzial auszuschöpfen und sich die Bildung anzueignen, die ihr noch mehr berufliche Perspektiven im Leben ermöglicht hätten. Sie konnte sich ihre Kinderträume genauso wenig erfüllen wie mein Vater, der gemeinsam mit seinem Bruder bei meiner alleinerziehenden Großmutter aufgewachsen ist und keine Fußballkarriere starten konnte, weil das Geld für die Fußballschuhe nicht reichte.
Mein Großvater wurde später eine enge Bezugsperson für mich. Er, der als Bergmann nie wirklich glücklich war, malte und sang mit mir. Ich besuchte ihn regelmäßig in der Siedlung in der Imbuschstraße in Waltrop. Ich war sein „Kumpel“, und wir verbrachten viel Zeit miteinander. Ich war noch nicht in der Schule, da starb er an einer „Staublunge“, der berüchtigten Bergmannskrankheit, verursacht durch die schlechte Luft unter Tage. Vorher hatte er noch eine silberne Uhr für 25 Jahre Arbeit im Bergwerk erhalten.
Meine Eltern hatten sich da schon gemeinsam selbstständig gemacht. Sie bauten sich mit einem Blumenladen erfolgreich eine Existenz auf. Mein Vater sorgte für den Einkauf, meine Mutter arbeitete viel im Laden und kümmerte sich zusätzlich um den Haushalt. Die Arbeit im Blumenladen – ein Hinweis für alle Romantiker – ist nicht so feinsinnig, wie manche vielleicht denken. Es ist eine „Knochenarbeit“, inklusive Sträuße binden, ständig schwere Vasen raus- und wieder reintragen, Rosen entdornen, im Akkord Gestecke produzieren, dazu das kalte Blumenwasser, das schnell übel riecht, wenn man es nicht rechtzeitig entleert. Das alles greift die Hände und die Gesundheit an.
Aufgewachsen bin ich in Lünen-Brambauer in der Nähe von Dortmund. Das erste Mietshaus, an das ich mich erinnere und in dem meine Eltern, meine vier Jahre ältere Schwester und ich wohnten, hatte keinen Garten. Wenn meine Mutter und ich im Hof Ball spielen wollten, kam die Hausmeisterin und scheuchte uns weg. Ich fuhr, wenn ich aus dem Kindergarten zurückkam, meist allein mit einem Go-Kart um den Block, immer auf dem Fußgängerweg an den Straßen entlang.
Als ich sechs Jahre war, zogen wir um in ein eigenes Haus in einem nahegelegenen Dorf. Plötzlich kamen Kinder, um mit mir zu spielen. Vorher unvorstellbar für mich. Ich atmete auf, wechselte in der ersten Klasse die Grundschule und fühlte mich in der neuen Umgebung wesentlich wohler als in der Klasse, in der ich eingeschult worden war. Plötzlich waren da Weite, viel Himmel und schnell auch Freunde. Mir hat es nie an etwas gefehlt, auch in den ersten Jahren nicht. Im Gegenteil. Meine Eltern haben mich gefördert, wo sie nur konnten. Aber trotzdem habe ich gespürt, welch einen Einfluss ein großzügiges Umfeld auf die eigene Entwicklung haben kann. Noch heute genieße ich es, geprägt von der Zeit im engen Mietshaus, wenn ich aus einer Wohnung einen weiten, freien Blick habe.
Was hat das alles mit Würde zu tun? Ich habe durchaus die Unsicherheiten wahrgenommen, die meine Eltern im Umgang mit formal höher gebildeten Menschen empfunden haben. Können sie über alle Inhalte so kultiviert mitreden, wie es erwartet wird? Beherrschen sie die Umgangsformen so gut, dass sie nicht auffallen? Könnte jemand erkennen, dass sie schulisch nicht den Weg eingeschlagen haben, den sie sich gewünscht hatten? Selbst wenn sie sich beruflich hochgearbeitet und ihren Kindern alles ermöglicht haben – es sind die kleinen Nadelstiche, die ich bei gemeinsamen Begegnungen mit ihnen empfunden habe, wenn ein Gesprächspartner sie nicht auf Augenhöhe wahrgenommen hat. Auch solche auf den ersten Blick kleinen Momente halte ich für entwürdigend den Menschen gegenüber, die völlig zu Unrecht nicht als ebenbürtig angesehen werden.
Wenn ich heute mitbekomme, dass Leute auf Menschen mit formal niedriger Schulbildung herabschauen, dann fühle ich mich angegriffen. Denn ich empfinde es als Angriff auch auf meine Eltern, die einfach keine Chance hatten, ihre Intelligenz in Schulbildung umzusetzen. Wir haben nicht das Recht, nur nach äußerem Schein abschließend zu urteilen. Zumindest tun wir dann vielen und auch meinen Eltern und Großeltern unrecht.
Zu diesem Text
Es ist nicht so, dass Michael Steinbrecher in seinem neuen Buch besonders viel von sich sprechen würde. Tatsächlich ist es so, dass wir in dieser minimal gekürzten Passage die Stelle gewählt haben, in der Steinbrecher überhaupt von sich spricht. Denn diese Passage ist kurz genug für einen Abdruck. Wo er von anderen Menschen erzählt, von Menschen, die um ihre Würde kämpfen, geht es nicht so schnell. Es sind Menschen, die er in seine SWR-Sendung Nachtcafé eingeladen hat, denn Michael Steinbrecher ist nicht nur Professor für Journalismus, er ist eben auch Fernsehjournalist, manche kennen ihn auch noch als Moderator des aktuellen sportstudio.
In seinemNachtcafé nun will er nicht abermals den Promis und ihren Themen das Wort geben. Sondern hier – und im neuen Buch – wird über „Themen wie Chancengleichheit, Armut, Wohnungsnot und die Pflegekrise“ gesprochen. Der Kampf um die Würde: Was wir vom wahren Leben lernen können heißt es, ist im Herder-Verlag erschienen und seit dem 18. September im Handel.
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