Politische Theorie ist genuin an die Existenz eines Staates gebunden. Insofern scheint die Rede von einer in die Geschichte zurück gehenden jüdisch-politischen Tradition zunächst obsolet. Erst im Kontext mit der Aufklärung bildete sich im jüdischen Denken so etwas wie eine politische Philosophie heraus, deren avanciertester Vertreter Leo Strauss ist. Doch diese in der Forschung bislang gängige Vorstellung scheint durch ein Unternehmen erschüttert, das der als Vordenker des Kommunitarismus bekannt gewordene Michael Walzer und seine Kollegen Menachem Lorbeerbaum und Noam J. Zohar in einem auf vier Bände angelegten Projekt zur jüdisch-politischen Tradition angestoßen haben. Dabei gehen die Herausgeber davon aus, dass in allen nachgelassenen j&
nen jüdischen Schriften Elemente des politischen Denkens zu finden seien.In einem Werkstattgespräch des Potsdamer Einstein-Forums stellten sich die Autoren mit ihrer These der deutschen Öffentlichkeit. Wir dokumentieren hier einen Teil der Eröffnungsrede von Michael Walzer, ergänzt durch eine kritische Replik von Micha Brumlik, der ebenfalls Gast in Potsdam war. Von Bar Kochba bis Ben Gurion, vom letzten Aufstand in Palästina bis zur modernen Staatsgründung waren Exil und Erlösung die zwei Kategorien des jüdischen politischen Denkens. Sie repräsentierten eine umfassende Polarität; andere Möglichkeiten waren nicht vorstellbar. Im Exil wurden wir (abgesehen vom Haushalt des kahal, der nicht viel zählte) von anderen regiert; in der erlösten Welt würde Gott oder aber niemand regieren. Gewiss gab es Visionen einer bloßen Umkehrung der Verhältnisse: "Jetzt herrschen sie über uns, aber wenn der Messias kommt, herrschen wir über sie" - Rache und Ranküne sind in der Vorstellung der Unterdrückten nichts Ungewöhnliches und fehlen auch nicht in den jüdischen politischen Schriften. Aber das messianische Zeitalter wurde doch überwiegend als eine göttliche Anarchie angesehen - ich spreche hier von der vorherrschenden intellektuellen Sicht, über die im Volk verbreiteten Anschauungen kann ich nichts sagen. Die Politik prägte mit ihrer Gewalt und Brutalität die Zeit des Exils. Erlösung hieß, dass dies alles ein Ende hat; sie bedeutete das Ende der Politik oder, was nur eine ausgefallenere Version desselben Sachverhalts sein mag, deren Transzendierung. Hier liegen vielleicht die jüdischen Wurzeln der Marxschen Vision von der "Abschaffung des Staates" - die ja auch erst - wenn überhaupt - am jüngsten Tage stattfinden wird.Was in den Jahren des Exils im jüdischen Denken weitgehend gefehlt hat, war irgendein Begriff von einem moralischen/politischen Raum, der zwischen einem abgewerteten Exil und einer transzendenten Erlösung liegt - und das ist der Raum, den wir heute, in Israel wie in der Diaspora, zu erkunden haben. Die mittlere Ebene ist der Raum menschlichen Wirkens - nicht der Erlösung, weder in Amerika noch in Westeuropa und auch nicht in Israel. Überall dort täte man gut daran, eine Politik, die auf Erlösung zielt, zu vergessen. In den Anfängen jüdischer Emanzipation und dann wiederum in den Anfängen staatlicher Souveränität (also in unserer Zeit) ist oder war man versucht zu glauben, dies müsse, wenn das Exil vorbei ist, der Anbruch oder Beginn der Erlösung sein. Da dies die einzigen Möglichkeiten, die einzigen Kategorien sind, gibt es eben nichts anderes. Wenn kein leibhaftiger Messias erschienen ist, um uns den Weg zu Emanzipation und Souveränität zu eröffnen, dann müssen wir uns eben in einem "messianischen Prozess" befinden. Aber das tun wir nicht. Emanzipation und staatliche Souveränität sind menschliche Gebilde, und sie sind wie alle menschlichen Gebilde unvollständig und unvollkommen. Sie haben nichts Erlösendes; sie weisen nicht über sich hinaus, auch wenn sie uns natürlich dazu auffordern, an ihrer Verbesserung zu arbeiten - im Westen an einer Freiheit, die in höherem Maße wirkliche Freiheit ist, und im Nahen Osten an einer Selbstregierung ohne Unsicherheit und Krieg.Wir leben mitten zwischen diesen alten Kategorien. Ist die mittlere Ebene nicht die der Erlösung, so auch nicht die des Exils - in Israel nicht und auch nicht in Amerika und Europa. Die Welt hat sich verändert. Wir leben nicht nach den Maximen des Pirkei Avot, wo es heißt: "Liebe die Arbeit, hasse die Herrschaft und lasse dich nicht mit der Regierungsgewalt ein", oder: "Wer das Joch der Thora auf sich nimmt, wird vom Joch der Regierung befreit." Wir haben uns auf unsere Regierenden eingelassen (manchmal mehr als uns lieb ist) - das meint nämlich Demokratie: Sie sind wir. Und das Studium der Thora befreit uns nicht vom Joch der Regierung - es ist ein Joch, das wir gemeinsam tragen, und auch das meint Demokratie: Wir regieren und werden regiert, wie es bei Aristoteles heißt.Wie sollen wir nun auf der mittleren Ebene stehen? Zu dieser Frage können wir aus der Tradition einiges lernen, aber dann müssen wir die Hauptkategorien des traditionellen Diskurses in Frage stellen. Wir müssen uns den konkreten Realitäten stellen, auf die viele jüdische Autoren auch eingegangen sind, die aber systematisch unterdrückt und abgewertet wurden: dem gewöhnlichen Geschäft der Haushaltsführung. Wir besitzen beispielsweise eine eindrucksvolle und oft sehr lebendige Literatur zu Steuer- und Fürsorgefragen (die man vielfach als eine dröge Materie betrachtet, jedenfalls im Vergleich zu Krieg und Frieden, aber ich sehe das anders). Es ist keine hohe Theorie, es sind zumeist rechtsförmige Antworten auf Alltagsfragen aus dem Innenleben der Exilgemeinden: Wie sollen die Steuerlasten verteilt werden? ("Steuern" ist vielleicht nicht das richtige Wort.) Welche Verantwortung fällt den Eltern und der Gemeinde jeweils bei der Kindererziehung zu? Die Antworten sind jedenfalls reizvoll und anregend. Sie enthalten "individualistische" und "kommunitaristische" Elemente, auch wenn diese Ausdrücke natürlich nicht benutzt werden. Man muss diese Literatur im historischen Kontext studieren. Ich würde aber einstweilen behaupten, dass das "kommunitaristische" Element darin vorherrschend sein dürfte. Das Band, das die Mitglieder der verstreuten Gemeinden zusammenhielt, war sehr stark; da das Exiljudentum in beständiger Unsicherheit lebte, wurde das Füreinander und Miteinander zu einem notwendigen Zug seiner alltäglichen Existenz. Die Tiefe und Kraft dieser Gegenseitigkeit erklärt, glaube ich, am besten die linke Tradition jüdischer Politik nach der Emanzipation: wir haben einfach die in der kleineren Gemeinschaft gelernten Verpflichtungen auf die größere übertragen - wobei dieses "wir" nur die Juden einschließt, die sich der größeren Gemeinschaft voll angeschlossen haben, nicht also viele orthodoxe und so gut wie keine ultra-orthodoxe Juden, die von linker Politik nie angezogen wurden. War die Gegenseitigkeit also sehr stark, so war sie allerdings auch begrenzt. Der Bruch zwischen den kleinen Exilgemeinden und der äußeren Welt war vor der Emanzipation sehr schroff, die Grenzen hatten nahezu absoluten Charakter, und nichtjüdische Herrscher wurden - wie oftmals die Nichtjuden überhaupt - mit Angst, Ressentiment und Feindseligkeit betrachtet.Von diesen "inneren" und "äußeren" Grenzen unserer Geschichte sind die Juden noch immer geprägt. Emanzipation und Zionismus sollten beide nach dem Willen ihrer führenden Protagonisten das jüdische Leben verändern, insbesondere mit dem Durchbrechen der äußeren Grenzen - die Emanzipation sollte die Juden als Individuen in eine größere einheimische Gesellschaft eintreten lassen, der Zionismus sollte sie als Kollektiv in die internationale Gemeinschaft souveräner Staaten eintreten lassen. Beide sind erfolgreich gewesen, obwohl ich versucht bin zu sagen, dass die von der ersteren vollzogene Veränderung, weil sie um einiges leichter war, auch schneller gelang. Vielleicht sollte man lieber sagen, dass die Emanzipation da, wo sie funktionierte, sehr schnell funktionierte. Im Westen und am deutlichsten in Amerika haben die Juden die mittlere Ebene eifrig betreten, nicht zuletzt deshalb, weil die Nicht-Juden, unter denen wir lebten, uns diese Ebene geschaffen hatten. Wir mussten unseren Weg in die Welt von Staatsbürgerschaft und Politik nur noch finden, ihn manchmal auch erkämpfen. In Israel muss die mittlere Ebene eine jüdische Schöpfung sein, sie muss in den Augen der jüdischen Mehrheit gerechtfertigt sein. Und dieses Projekt, dieses zentral bedeutsame zionistische Projekt, ist, wir mir scheint, immer noch unabgeschlossen.Übersetzung: Thomas LaugstienSiehe auch die Replik auf diesen Beitrag von Michael Brumlik in dieser Ausgabe: Der erste Band von The Jewish Political Tradition ist 2000 erschienen bei Yale University Press, New Haven und London
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