In dieser Woche gab es vor dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag eine Anhörung zum Bau der israelischen Sperranlangen an der Grenze zum Westjordanland. Der bisher auf einer Länge von 200 Kilometern als Mauer oder Stahlzaun errichtete Wall dringt stellenweise tief in palästinensisches Territorium ein.
Michael Warschawski (geboren 1949 in Straßburg) - als Publizist und Schriftsteller eine der wichtigsten Persönlichkeiten der israelischen Linken - bezeichnet den "Schutzwall" als "qualitativen Sprung im Prozess des staatlichen Raubs und der Kolonisierung" der Palästinenser. Sein Aufsatz Am Fuß der Mauer, den wir in einer leicht gekürzten Fassung mit freundlicher Genehmigung des Nautilus-Verlages veröffentlichen, ist Teil des Buchs An der Grenze, das im März erscheinen wird.
Grenzen sind Ausdruck zweier gegensätzlicher Bewegungen: sie trennen Menschen je nach Nationalität, Ethnie, Glauben und Klassenzugehörigkeit; manchmal jedoch schützen sie auch und dienen dazu, die eigene Souveränität zu behaupten, einer aufgezwungenen fremden Macht gegenüber Unabhängigkeit zu bewahren.
Daher kommt es, dass die, die sich für die Annäherung von Menschen und Völkern einsetzen, oft die Rolle wechseln und bald Grenzgänger, bald Grenzschützer sein müssen: Grenzgänger, um zur Entstehung einer vielfältigen, transnationalen und multi-ethnischen Menschlichkeit, zu einer auf Solidarität und Kooperation gegründeten Welt beizutragen; Grenzschützer, wenn es darum geht, die Souveränität, Selbstbestimmung und Unabhängigkeit eines Volkes zu verteidigen, wenn sie durch einen Angriff von außen bedroht werden. Grenzschützer auch, um dafür zu sorgen, dass die Grenzen zwischen Demokraten und rassistischen, faschistischen und nationalsozialistischen Bewegungen und Ideologien hermetisch geschlossen bleiben.
Seit sich die israelischen Politiker im Juli 2000 dafür entschieden haben, den Hoffnungen, die Oslo 1993 geweckt hatte, den Rücken zu kehren, bemühen sich israelische Antikolonialisten Tag für Tag, eine doppelte, nur scheinbar widersprüchliche Aufgabe zu erfüllen: Zum einen mit dem Aufruf an die israelischen Soldaten, ihre Beteiligung am Kolonialkrieg in der Westbank und im Gaza-Streifen zu verweigern, und mit der Fortführung der politischen Kampagne für den Rückzug aus den besetzten Palästinensergebieten; zum anderen, indem sie die wenigen Breschen in der Mauer aus Hass und Blut, die Israelis und Palästinenser heute fast hermetisch voneinander abschottet, durch humanitäre und politische Solidarität, durch gemeinsame Initiativen offen halten, die der Perspektive einer auf Gleichberechtigung gegründeten Koexistenz wieder Geltung verschaffen sollen.
Vor zwei Jahren schon herrschten an der Grenze zwischen Israelis und Palästinensern einmal mehr Feuer und Schwert, aber es war doch noch eine Grenze. Inzwischen wird sie durch die Mauer ersetzt. Ob nun "Grenzzaun" oder "Mauer der Schande" - sie soll ein unüberwindliches (sic!) Hindernis zwischen Israelis und Palästinensern schaffen. Doch keine Mauern, so hoch sie auch sein mögen (und zwischen Qalgilya und Tulkarem sind sie sieben Meter hoch!), keine elektronische Sperre, kein Graben, selbst wenn er mit Krokodilen gefüllt ist (darüber ist tatsächlich diskutiert worden), ist imstande, einen Kamikaze zu stoppen, der sich aus Verzweiflung - über die Demütigung seines Vaters oder die Ermordung seines besten Freundes - einen Sprengstoffgürtel umschnallt. Wenn dies das Ziel der israelischen Strategen ist, täuschen sie sich einmal mehr.
Wenn hingegen die Mauer darauf abzielt, die Palästinenser in ein beziehungsweise mehrere Ghettos zu sperren, ist sie mit Sicherheit eine Bedrohung, und zwar nicht nur für die Einwohner der Westbank und des Gaza-Streifens, sondern genauso für das israelische Volk. Indem es diese Mauer baut, entscheidet sich Israel für seine eigene Einschließung, es schafft sich einen riesigen Bunker, waffenstarrend und bis zum äußersten paranoisiert.
Man muss nicht erst erklären, dass der "Schutzwall" die Freiheit der Palästinenser beschneidet, einen qualitativen Sprung im Prozess des staatlichen Raubs und der Kolonisierung ermöglicht und das Recht einer Bevölkerung mit Füßen tritt. Doch man kann nicht deutlich genug hervorheben, dass er sich auch zerstörerisch und pervertierend auf die Zukunft der israelischen Gesellschaft auswirkt. Nicht nur, dass der Wall Attentate nicht verhindern kann - er wird eher zu noch mehr Attentaten auf die Zivilbevölkerung führen, die durch diesen Wall gegen ihren Willen zur Besatzung einer Garnison gemacht wird. Er schließt auch endgültig das "Zeitfenster" - um den Begriff zu gebrauchen, der der US-Administration so teuer ist -, das Yitzhak Rabin und Yassir Arafat so mühsam und nicht immer ganz aufrichtig guten Willens miteinander ausgehandelt hatten. Tatsächlich ist dieser Wall Ausdruck der Entscheidung der israelischen Politiker, die Hand der Palästinenser und der arabischen Welt auszuschlagen und sich statt dessen einzuigeln und auf die - wie die Geschichte zeigt - fragile militärische Unterstützung der Vereinigten Staaten zu bauen.
Wie Menachem Klein, Forscher und Mitglied der israelischen Delegation beim Camp-David-Gipfel, schreibt, "ist die Begeisterung für eine einseitige Trennung Ausdruck nicht nur einer Krise der Mittel, sondern auch des Bewusstseins. Ein derartiges Projekt basiert auf einem Bewusstsein, das von zionistischem Voluntarismus, einseitigen Aktionsformen und von der Einigelung hinter dem geprägt ist, was Jabotinsky (*) eine eherne Mauer genannt hat, außerhalb derer Gewalt ausgeübt wird. Ein in gegenseitigem Einvernehmen geschlossenes Abkommen ist unmöglich, schrieb Jabotinsky 1923, deshalb muß die Besiedlung hinter einer ehernen Mauer weitergehen, die zu durchbrechen die eingeborene Bevölkerung nicht die Kraft hat. Was kann ein derartiges Bewusstsein für die Linke bedeuten, die einer politischen Logik, nicht einer Logik der Gewalt folgen sollte. Für eine Linke, die die Palästinenser als Gleichberechtigte betrachten und nicht ihre Unterwerfung, sondern eine Partnerschaft mit ihnen anstreben würde?"
Ironie der Geschichte: Der Zionismus, der die Mauern des Ghettos einreißen wollte, hat das größte Ghetto der jüdischen Geschichte hervorgebracht, ein waffenstarrendes Ghetto, zwar imstande, sein Territorium ständig auszuweiten, aber dennoch ein Ghetto, auf sich selbst beschränkt und überzeugt, außerhalb seiner Mauern herrsche der Dschungel, wo eine von Grund auf und unheilbar antisemitische Welt kein anderes Ziel habe, als die jüdische Existenz zu vernichten, im Nahen Osten und in der ganzen Welt.
Wenn Ariel Sharon die französischen Juden auffordert, die Koffer zu packen und aus einem Europa zu fliehen, das zutiefst antisemitisch und potenziell völkermörderisch geblieben sei, ist alles, was er ihnen zu bieten hat, ein großer Bunker, bewaffnet mit maßlosem Verfolgungswahn und der Atombombe. Diese Mischung aus Paranoia und Nuklearwaffen ist eine tödliche Gefahr nicht nur für die arabischen Länder, die Israel umgeben, sondern auch für das israelische Volk, besonders heute, da die Idee des Präventivkriegs die internationale politische Bühne verpestet. Denn ein israelischer Atomschlag, den die Minister-Generäle Sharon und Eitam nicht ausschließen, wird ohne jeden Zweifel das endgültige Todesurteil für die jüdische Existenz im Nahen Osten besiegeln und wahrscheinlich in der ganzen Welt eine Welle von Antijudaismus hervorrufen, wie es sie noch nie gegeben hat. Das ist wahrhaftig eine Wette auf den Tod.
(*) zionistischer Ideologe auf der äußersten Rechten in den zwanziger und dreißiger Jahren.
Michael Warschawski ...
... ging 1965 nach Jerusalem an eine Talmudschule. Er studierte Philosophie an der Jerusalemer Hebräischen Universität und gab zwischen 1971 und 1984 die monatlich erscheinende Zeitschrift Mazpen heraus. 1982 war er Mitbegründer des Reserve Soldiers Movement Yesh Gvul, 1984 Gründer des Alternative Information Center (AIC), bis 1999 dessen Direktor. Seit 1992 ist Warschawski auch Mitglied des Friedensblocks Gush Shalom. 1987 kam er wegen "Unterstützung illegaler palästinensischer Organisationen" in Haft und wurde 1989 zu 30 Monaten Gefängnis verurteilt. Seit 2001 vertritt er das AIC im International Council of the World Social Forum.
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