Spazieren: it. spaziare Âsich räumlich ausbreiten, sich ergehenÂ, lat. spatiari Âeinherschreiten, lustwandelnÂ; Stammwort ist lat. spatium ÂRaum, Zwischenraum, Zeitraum, Wegstrecke, Spaziergang«
Wie haben wir es geliebt, das Gesicht der Jeanne Moreau - geheimnisvoll unergründlich wie eine Sphinx, unschuldig lachend wie das eines jungen Mädchens! Die Geschichte von Jules und Jim mit ihrer unverwechselbaren Mischung aus griechischer Tragödie und existenzialistischer Leichtigkeit des Seins ist Kult der besten Art. Truffauts Film von der Dreiecksliebe und ihren Utopien wie Aporien war sexuelle Revolution vor der sexuellen Revolution. Erst durch ihn entdeckte man die ältere literarische Vorlage aus d
literarische Vorlage aus der Feder des Kunstliebhabers und -händlers Henri-Pierre RochÂs wieder, der seine eigenen autobiographischen Erinnerungen darin literarisch verarbeitet hatte. Wer aber war die Vorlage für den Deutschen Jules?Es ist kein Geheimnis mehr: Es war der Schriftsteller Franz Hessel, den RochÂ, alias Jim, vor dem Ersten Weltkrieg in die Pariser Boheme einführte und mit dessen Ehefrau er anlässlich des Wiedersehens im Nachkriegsdeutschland die amour fou erlebt, die Roman und Film unsterblich machten. Wer aber war Franz Hessel? Zunächst einmal Zeitgenosse der großen Autoren der 20er und 30er Jahre, jedoch viel mehr als nur einfach ein Zeitzeuge oder gar nur Figur in einem Roman RochÂs oder einem Film Truffauts. Als Lektor, Übersetzer, Mitarbeiter bekannter literarischer Zeitungen und nicht zuletzt als Freund hat Hessel einen nicht zu unterschätzenden Einfluss auf die Intellektuellen- und Künstlerszene in Paris und Berlin ausgeübt, an der er auch als Autor - wenn auch in bescheidenerem Maße - mitgewirkt hat. Es gibt nicht den großen Roman von Franz Hessel, was in Erinnerung geblieben ist sind eher kleinere Werke wie Pariser Romanze oder Heimliches Berlin, während den Eingeweihten der Autor von Spazieren in Berlin oder Kleine Vorschule des Journalismus (Pariser Tagebuch) auch als Begründer einer deutschen Tradition des Flaneurs verbunden ist. Diesem eher esoterischen Kenntnisstand des Werkes hilft die erste, von Hartmut Vollmer und Bernd Witte herausgegebene Ausgabe Sämtlicher Werke ab, die in fünf Bänden alle Romane, Prosasammlungen, Porträts, Lyrik, Dramatik und Kritiken versammelt.Geboren 1880 und aufgewachsen im Berlin des Fin-de-siecle, ging der Sohn einer jüdischen Bankiersfamilie zum Studium nach München, wo er jedoch mehr vom Schwabinger Künstlerleben in Anspruch genommen wurde. Neben der berüchtigten Wohngemeinschaft mit Franziska von Reventlow und ihrem Geliebten hatte Hessel vor allem Kontakte zum Kreis um Stefan George, nicht zuletzt vermittelt durch seine Bekanntschaft mit Wolfskehl. Schon hier, in diesem frühen Kontext spielte er aber kaum eine Rolle, sondern beobachtete mehr vom Rande her. Durch das reiche Erbe des Vaters finanziell unabhängig geworden, zog es Hessel 1906 nach Paris, wo er zusammen mit Roch das Leben der Boheme in vollen Zügen genoss. Diese vielleicht glücklichste Zeit im Leben Hessels fand 1913 ihr Ende. Er heiratete die kurz zuvor nach Paris gekommene Malerin Helen Grund und ging mit ihr nach Berlin zurück.Nach dem Ersten Weltkrieg vernichtete die Inflation Hessels gesamtes Vermögen und zwang ihn, als Lektor und Übersetzer bei Rowohlt zu arbeiten. Diese Tätigkeit fesselte ihn im wesentlichen bis 1938 an Berlin, wo er - mit Ausnahme eines Parisaufenthaltes von 1925 bis 1927 anlässlich der gemeinsam mit Walter Benjamin in Angriff genommenen Proust-Übersetzung - seinen Lebensmittelpunkt gefunden hatte. Erst auf Drängen seiner schon seit 1925 zusammen mit den Kindern in Paris lebenden Frau verlässt Hessel, den Rowohlt trotz der Judengesetze als Angestellten weiterbeschäftigte, kurz vor der Reichskristallnacht Deutschland. Bei Ausbruch des Krieges wird er in Paris interniert, sodann nach Südfrankreich verlagert, wo er nach seiner Entlassung völlig entkräftet 1941 in Sanary stirbt. Hessel galt in seiner Zeit nicht als bedeutender Autor, und dennoch ist sein Nachlass reich, aber reich an Kleinigkeiten, mit denen er seine Zeitgenossen umso freigiebiger zu beschenken wusste. Seine Kurzromane, Erzählungen, Beobachtungen, Porträts, Kritiken verweilen oft bei Banalem und Unscheinbarem und gewinnen gerade dadurch mikrologische Schärfe. Hessel war ein Schauender, aber kein Visionär großer Offenbarungen, sondern ein Beobachter. Und er schulte seinen Blick inmitten des Getümmels der modernen Metropolen auf den Pflastern von Berlin und Paris. Er hat ernst gemacht mit dem, was Rilke 1909 seine Malte Laurids Brigge in Paris sagen lässt: »Ich will sehen lernen.« Hessel geht aber noch weiter. Er will keine Sichtbarkeit erzwingen, nicht aufdecken oder aufklären, er will sich ins Einvernehmen mit den Dingen setzen, denn: »nur was uns anschaut, sehen wir«, lautet die fundamentale Einsicht des einsamen Spaziergängers.Diese von Hessel erfundene Kunst des Spazierengehens unterscheidet sich nicht unwesentlich von der europäischen Tradition des Flanierens: Der Flaneur exponiert sich den Blicken der anderen, deshalb sein eigentlich blinder Schritt durch eine ihn gleichgültig lassende Szenerie, der Hesselsche Spaziergänger will dagegen einen Raum eröffnen, ja schaffen, in dem etwas sichtbar wird. Und gerade am Mangel an solchem Raum litt Hessel so in Berlin, der hektischen Stadt, die anders als Paris nicht historisch gewachsen war, sondern nach der Gründerzeit in einem rasanten Industrialisierungsprozess quasi aus dem Boden gestampft wurde. Dies spürt Hessel - wie auch der Zeitgenosse Döblin -: diese Bodenlosigkeit der Stadt, die Nichtverwurzelung im märkischen Sand. In Berlin, dieser »Kolonisten«-Stadt, die »Immerzu unterwegs, immer im Begriff ist, anders zu werden«, wird er daher als Spaziergänger verdächtig, während in Paris, der »Heimat des Fremden«, die Straße zum »Wohnraum« geworden ist, wo schon das Zusehen glücklich macht und das Vergangene dauernd miterlebt wird. Denn »Paris ist immer zugleich Gegenwart und Erinnerung«. Dieses distanzierte Beobachten ist für Hessel die höchste Form des Genusses, ein »Genuß im Müßiggang«, eine wahre Gabe der Gelassenheit, die nicht nach Macht und Profit strebt. Sie erlaubt es, die kleinen Dinge des Lebens zu beobachten, ohne sogleich Urteile zu fällen, mit Walter Benjamin gesprochen: die Geschichte der Verlierer zu schreiben. Benjamin war es schließlich auch, der diese Kunst des flanierenden Durchspürens von Verborgenem durch Hessel lernte. Mit diesem verband ihn auch zugleich eine Form von Kosmopolitismus, den die Nazis zusammen mit der jüdischen Intelligenz gründlich ausgetrieben haben.Hessel war vielleicht einer der letzten Repräsentanten dieser kollektiven Kultur, in der er als ein Mittler, ja ein Medium fungierte, andere miteinander in Kontakt brachte, die Kommunikation zwischen ihnen animierte, vor allem zwischen der deutschen und französischen Literaturtradition buchstäblich als Übersetzer wirkte, um selbst bescheiden im Hintergrund zu bleiben. Hessel wollte nur Medium sein, auch zwischen den Freunden, zum Beispiel zwischen Roch und seiner Frau Helen Grund, also auch zwischen den Geschlechtern, den Generationen, den Orten, den Kulturen. Er wollte ebenso im übertragenen Sinne ein Spaziergänger sein und zwischen sich und den anderen einen Zwischenraum eröffnen. Der Philosoph Georg Simmel nannte Raum das, was sich »durch die sinnliche Nähe von Distanz zwischen Personen, die in irgendwelchen Beziehungen zueinander stehen«, konstituiert. Und genau in diesem Sinne ist Hessels Prosa eine Poesie des Raums. Ihr kommt eine Leichtigkeit zu, die am Stil bemerkbar macht und an die schwebende Aufmerksamkeit des im 18. Jahrhundert gefeierten Vermögens der poetischen Phantasie erinnert und in ihrer Verspieltheit zugleich etwas unbeschwert Kindliches behält. dennoch zeigen sich hier auch die Grenzen der literarischen Ausdruckskraft, die Hessels Werk nicht am Siegeszug der ästhetischen Avantgarde teilhaben lassen. Die Leichtigkeit des Schweifenden verbirgt letztlich eine Rückwärtsgewandtheit, ein Träumen von Früher, letztlich einen nostalgischen Antimodernismus. Dieser hindert Hessel daran, eine stilistische Souveränität beim Suchen nach neuen Ufern zu finden und bannt seinen Blick auf den melancholischen Tiefsinn des Verlorenen und Vergangenen.Die Ausgabe des Igel-Verlages erlaubt es, all diese heimlichen Genüsse und Gedenken der Hesselschen Kleinprosa nachzulesen und vor allem neben dem Romancier, dem Erzähler und Essayisten auch den Lyriker und Dramatiker kennenzulernen. Leider wird der Genuss durch die buchgestalterische Ausführung der Ausgabe getrübt: Lieblos sind die Texte auf beinahe randlosen Seiten verteilt, als gälte es, die Fläche des Papiers maximal auszunutzen. Man merkt dem Verlag leider die Vergangenheit des Dissertationsdrucks an, der allerdings andere ästhetische Kriterien hat als Literatur. Bedenkt man zugleich, dass die Gesamtausgabe mit sensationellen Neuentdeckungen eigentlich nicht aufwarten kann, sondern mit den häufigen Wiederholungen innerhalb der Texte eher philologische Forschungsinteressen befriedigt, so wird der Neugierige als Einstieg in Hessels Prosa mit der von Karin Grund und Bernd Witte höchst geschmackvoll bei Brinkmann Bose edierten Tiefdruck-Auswahlausgabe Ermunterung zum Genuß (Berlin 1984) besser bedient sein.Franz Hessel: Sämtliche Werke in 5 Bänden. Romane, Prosasammlungen, Städte und Porträts, Lyrik und Dramatik, Verstreute Prosa, Kritiken, mit Zeittafel, Biographie und Nachweis. Herausgegeben von Hartmut Vollmer und Bernd Witte. Igel-Verlag, Oldenburg 1999, 1970 S., 198,- DM
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