Diesen Sonnabend wird dem französischen Philosophen Jacques Derrida während eines Festaktes in der Paulskirche der Adorno-Preis der Stadt Frankfurt überreicht. Manchen mag diese überaus hohe Ehrung überraschen, ist doch die Aufnahme dieses exponierten Vertreters der Dekonstruktion in Deutschland eher von Wechselfällen wenn nicht gar von Widerständen gezeichnet. Gerade der Frankfurter Schule galt er nahezu als Inkarnation des Feindbildes eines Irrationalismus, ein Eindruck, der nicht zuletzt durch Derridas betonte Nähe zum Denken Martin Heideggers unterstützt wurde. Dem Eingeweihten ist aber schon seit einiger Zeit nicht die Bewegung entgangen, die in die Lager gekommen ist und die ihren vorläufigen Höhepunkt in der Einladung gefunden hat, die Jürgen Habermas im vergangenen Jahr an Derrida ausgesprochen hatte und die dieser auch mit einem Erstaunen erweckenden Vortrag über die "Zukunft der Universität" in genau dem Hörsaal der Goethe-Universität Frankfurt beantwortete, in dem Adorno bis zuletzt gewirkt hatte.
Dabei ist das Thema "Derrida und Deutschland" ein überdeterminiertes Kapitel der neueren Philosophiegeschichte. Wie bei kaum einem anderen Denker Frankreichs steht Derridas intellektuelle Biographie ganz im Zeichen einer deutschsprachigen Tradition von Kant, Schelling, Hegel, Nietzsche, Freud, Husserl, Heidegger und Benjamin, um nur einige herausragende Namen zu nennen. Gerade die Phänomenologie bestimmt die Anfänge des 1930 in Algerien geborenen französischen Philosophen. Erst 1967, und bezeichnenderweise nach der früheren Übersetzung eines Textes von Husserl, tritt Derrida mit einer Kaskade von gleich drei Buchpublikationen auf die Bühne der Pariser Theoriedebatte: der Kritik an Husserls Präsenzmetaphysik in Die Stimme und das Phänomen, dem gewissermaßen Hauptwerk Grammatologie, in dem Derrida sein Prinzip der Dekonstruktion gegen Saussures Zeichen-, Levi-Strauss´ Struktur- und Rousseaus Sprachbegriff ins Feld führt, und schließlich der Aufsatzsammlung Die Schrift und die Differenz, in der das Konzept der Spur und der différance (als sich aufschiebendem Ursprung) durch Lektüren von philosophischen, poetischen und auch psychoanalytischen Texten vorbereitet wird. Das Datum war nicht von ungefähr gewählt. Die Ereignisse des Mai 68 warfen bereits ihre Schatten voraus, in den Pariser Intellektuellenkreisen gärte es, neue Denkansätze erklärten dem etablierten akademischen Wissensapparat den Krieg.
Es war ein Aufbruch, der sich nicht zuletzt der Rückbesinnung auf andere revolutionäre Brüche im Denken des 20. Jahrhunderts verdankte, neben der Phänomenologie und dem Denken Nietzsches vor allem dem Marxismus und der Psychoanalyse. Das spezifisch Neue war die ideologiefreie, keinem scholastischem Dogma verpflichtete Zusammenschau oder -stellung dieser unterschiedlichen Denkweisen, eine Leichtigkeit des Erkennens strukturaler Affinitäten, wie sie der vorhergehenden, durch Faschismus und Totalitarismus zutiefst misstrauisch gegen Allegorie und Analogie gewordenen Generation nicht möglich gewesen war. Aber 1968 galt nicht die epigonale Erhabenheit einer Postmoderne, sondern die kritische Zäsur eines Avantgardismus als roter Faden der genealogischen Konstellation: und dies machte auch, wie nur wenige damals würdigten, das eminent Politische des Denkansatzes von Derrida aus, das sich dann in seinem Engagement in der Bildungspolitik bis hin zur Gründung des Collège international de Philosophie für freie Forschung zeigte.
Er stand gewissermaßen am Anfang einer Epoche, die sich als politische Vollendung der Kritischen Theorie im "Gang durch die Institutionen" begriff und doch zunächst einmal nur das biographische Ende ihres Hauptrepräsentanten markiert war: Als Derrida sein nach Jahren der Tätigkeit als Philosophielehrer und -assistent zugegebenermaßen spätes Debüt gab, erlag Theodor W. Adorno, sichtlich überrollt, zumindest überfordert von der Welle studentischen Praxiseinforderung, im Sommer ´68 einem Herzanfall.
Nicht zuletzt hat Jürgen Habermas die geistige Nähe von Derrida und Adorno beschworen, als er Anfang der Achtzigerjahre in einer Reihe von Vorlesungen zum Philosophischen Diskurs der Moderne davon sprach, dass es "Verwandtschaft im Denkgestus" der beiden gebe. Er wollte sie im Randgängischen, in der gemeinsamen Idiosynkrasie gegen "anschlusshafte, totalisierende, sich alles einverleibende" Systeme erkannt haben: "sie treffen sich in einem negativen Extremismus, entdecken das Wesentliche im Marginalen das Recht auf Seiten des Subversiven und Verstoßenen, die Wahrheit an der Peripherie und im Uneigentlichen." Schnell wurde aber wieder die Differenz aufgemacht, dass Derrida - statt den performativen Selbstwiderspruch auszuhalten, der des Nicht-Identischen nur mit den Mitteln der identitätsstiftenden Präsenzmetaphysik gedenken lässt - eine Souveränität des Denkens als rhetorische wiederherstellen wolle. Ein ästhetizistisch missverstandener Nietzsche wird zum Kronzeugen für diese Preisgabe logischer Konsistenz zugunsten eines rhetorischen Gelingens: als "literarische" Stilkritik findet Derrida seine Würdigung, bleibt aber vor den Toren der Gralshüter philosophischer Wahrheit.
In der Folge schränkte sich die Anschlussfähigkeit Derridas an Kritische Theorie nur auf das mit Adorno geteilte Vertrauen ins Widerstandpotential einer ästhetischen Theorie ein. Dabei war es auch Anliegen Adornos, gegen eine Philosophie Einspruch zu erheben, die ihre Wahrheit über ihr Ausgedrücktsein erhebt. Gegen ein szientifisches Selbstmissverständnis erinnert er in der Negativen Dialektik gerade an das "sprachliche Wesen" der Philosophie, in dem Rhetorik ihren genuin philosophischen Stellenwert als "Postulat der Darstellung" hat. Derrida macht genau diese - wie Freud es genannt hat - "Rücksicht auf Darstellbarkeit" zur Kernfrage der philosophischen Aporie, und er ist dabei in bester Gesellschaft einer Aufarbeitung der metaphorischen "Beförderung" des Begriffs, nicht nur der Adornos, sondern auch der von Hans Blumenberg, letztlich aber schon der von Walter Benjamin. Dessen Reflexionen zur Sprache des Menschen und ihrer Ähnlichkeit mit den Dingen sowie ihrer Übersetzbarkeit stellen einen weiteren Angelpunkt der Konjunktion zwischen Derridas und Adornos Denken dar, dem als Abstoßungspunkt vielleicht der Bezug zu Heidegger "Jargon der Eigentlichkeit" gegenübergestellt werden kann.
Letztlich ist es aber der Kampf gegen Identität als Urform der Ideologie, der die Wahlverwandtschaft zwischen Ideologiekritik und Dekonstruktion ausmacht. Nichts liegt Derrida ferner als der imperative Gestus einer Grenzüberschreitung als Machtergreifung. Es geht vielmehr um ein Bewusstsein der Grenzen als Bedingung der Möglichkeit der eigenen Unmöglichkeit. Daher ist das Andere, um dessen Anerkennung es geht, für Derrida auch nicht besetzt durch den positiven Begriff von Utopie. Es wäre vielmehr das, was immer offen zu halten ist im radikalsten Sinne eines Unbedingten, in dessen Horizont der Unberechenbarkeit allein ankommen kann, was durch Regeln nicht zu erzwingen ist. Diese Auf-Gabe im doppelten Sinne des Wortes hat Derrida auf den verschiedensten aporetischen Begriffsfeldern - des Todes, des Holocaustes, der Trauer, der Gerechtigkeit, der Gabe, der Freundschaft, der Verantwortung - durchdacht. Was darin Utopie wäre, liefe für ihn eher auf die skeptische Frage hinaus: Wie nicht sprechen? Wie sagte es doch noch Adorno in der Negativen Dialektik: "Utopie wäre die opferlose Nichtidentität des Subjekts." Dem hätte Derrida sicherlich nichts hinzuzufügen.
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