Was alle fasziniert hat, das war sein Wesen: seine Sanftmut und Heiterkeit: Novalis war nicht nur der Dichter der blauen Blume, er repräsentierte als Prototyp des romantischen Genies auch ein neues Lebensmodell, einen neuen Menschentypus, nicht zuletzt ein anderes Männerideal. So hat vor allem ein Bild die Erinnerung an den Frühverstorbenen geprägt. Es zeigt einen zarten, ja mädchenhaften Jüngling, dessen blasses, bartloses Gesicht von großen dunklen Augen beherrscht wird. In ihm fehlen alle Züge, die man markant oder entschieden nennen könnte: es verkörpert eher das Ideal ästhetischer Vieldeutigkeit und geschlechtlicher Androgynität im platonischen Sinne.
So hat auch Friedrich Schlegel den Kommilitonen beschrieben, mit dem er zusa
em er zusammen dann in der neu gegründeten Zeitschrift Athenaeum den programmatischen Grundstein der deutschen Frühromantik legen sollte. Hier wurden die ersten Fragmente unter dem Pseudonym Novalis publiziert, der latinisierten Form von "Roden" beziehungsweise "Neulandbestellen". Damit schuf Novalis selbst die Legende vom Dichter als messianischen Erneuerer, die nach seinem Tod von den Freunden weitergesponnen wurde. "Wir sind auf einer Mission. Zur Bildung der Erde sind wir berufen", heißt es in den Blütenstaub betitelten Fragmenten. Und wohin diese Bildungreise geht, wird sogleich deutlich: "Nach innen geht der geheimnisvolle Weg. In uns oder nirgends ist die Ewigkeit ... Leben ist nur der Anfang des Todes."Wie kaum ein Dichter seiner Epoche verdankt Novalis seine Popularität der posthumen Verklärung der so kurzen und sozusagen im Ansatz abbrechenden Schaffensperiode. Er ist gewissermaßen das Phantom einer Autorschaft als Wiedergängertum, das schon ein Jahr nach seinem Tod mit der von Schlegel und Tieck edierten ersten Ausgabe der Schriften beginnt. Bereits hier inszeniert sich die Apotheose des romantischen Dichters durch eine willkürliche Montage und tendenziöse Bearbeitung selbst der noch zu Lebzeiten publizierten Texte. So entstand das Bild des genialen Fragmentisten und Propheten einer übersinnlichen, kosmischen Wahrheit, des romantischen Mystikers und Magiers der Nachtseiten und Todeswelten unseres Daseins. Was von den vielen Generationen der neu- oder neoromantischen "Novalisten" in zweihundert Jahren an Mystifikationen und Missverständnissen angehäuft wurde, spukt immer noch in den Köpfen, denen bei Nennung des Namens Novalis nur eine rückwärts gewandte, schwärmerische Sehnsucht nach mütterlichen Ursprüngen, Naturharmonie und Heimat, christlichem Mittelalter und poetischem Priestertum einfällt.Dabei können wir uns heute dank des unermüdlichen Fleißes der Herausgeber des nahezu kompletten handschriftlichen Nachlasses ein sehr genaues Bild vom Werk des Georg Philipp Friedrich Freiherr von Hardenberg machen, der für diese frühromantische Autorschaft verantwortlich zeichnet. So verliert der Kult des Irrationalen, der den Blick auf diese Geburtsstunde der ästhetischen Moderne lange verschleierte, nach und nach seine Legitimation. Wer immer noch begeistert das berühmte Frage-Antwort-Spiel: "Wohin gehen wir? Immer nach Haus" zitiert, darf nicht die komplementäre Bestimmung vergessen, dass Philosophie "eigentlich Heimweh" sei, nämlich der "Trieb überall zu Hause zu seyn". Ähnlich wie in Hölderlins Diktum vom "Kolonien liebt, und tapfer Vergessen der Geist" spricht sich im Denken von Novalis ein progressiv-expansives Aufbruchsgefühl der Moderne aus, für das Schelling dann auch die Leitfigur des Odysseus beschwor.Gerade die von Novalis vorgenommene Neubestimmung des Verhältnisses von Mensch und Natur bedurfte dabei der grundlegendsten Revision ihrer Rezeption. Sicherlich, es gibt den Naturmystizismus des Isis-Kultes in den Athenaeums-Fragmenten, den Märchen der Lehrlinge zu Saïs und vor allem des Heinrich von Ofterdingen; es gibt die morbiden Liebesmysterien mit Sophie von Kühn, der Kindfrau, die noch vor dem Erblühen mit 15 Jahren starb und deren Grab vom Dichter als Brautbett besungen wurde; und schließlich die Todessehnsucht der Hymnen an die Nacht mit ihrer für die Romantik so typischen Verschmelzung von Religiösem und Mythischem, von Traum und ekstatischer Verzückung. Das spezifisch Moderne am Denken des Novalis aber ist es, dass alle diese Aspekte in eine gemeinsame Konstellation zusammen mit anderen Phänomenen gebracht werden, die das archäologisch-geschichtliche Krisenbewusstsein in ein Utopiepotential umschlagen lässt. Philosophieren ist für ihn in diesem Sinne ein Akt der Freisetzung neuer spekulativer, diskursiver, aber auch politischer und naturwissenschaftlicher Einsichten: Es ist ein revolutionäres Denken, für das die reflexive Rückkehr zum Ursprung immer auch Bedingung der Möglichkeit für den potenzierenden Entwurf einer Zukunft ist.Auch wenn Novalis sicherlich kein Verfechter der Französischen Revolution in ihrer historischen Gestalt war, so hat er doch von 1789 die Radikalität geerbt, ganz im Sinne von Marx, für den "radikal sein" hieß, "eine Sache an der Wurzel fassen". In diesem Sinne heißt "Romantisieren" nicht, Wiederkehr des Altbackenen, sondern "qualitative Potenzierung", und zwar ein Potenzieren, das insofern "ächt" modern ist, als es sich im dialektischen Wechselspiel einer Entzauberung und Wiederverzauberung der Welt vollzieht.Überhaupt fällt in den Aufzeichnungen Hardenbergs diese unaufgehobene Dialektik von pragmatischen und schwärmerischen Zügen auf, von rationaler Fundierung und sinnlich zerstreuter Entgrenzung. Er ist der Vertreter einer neuen Generation, deren Einbildungskraft sich nicht in den Abgründen der Nacht, dem Schlaf der Vernunft und der verzehrenden Sehnsucht nährt, sondern die getragen wird von der konzentrierten Aufmerksamkeit eines überwachen, genau beobachtenden und gelehrsamen Verstandes. Hardenberg, der als Salinenassessor im mittelthüringschen Salzbergbau den Auftrag der kursächsischen Landesregierung einer geognostischen Erforschung der Landschaft durchführte und nach wirtschaftlichen Gesichtspunkten verborgene Kohlelager und andere wertvolle Mineralien der Vorzeit aufspürte, kommentierte gewissermaßen als Novalis seine Arbeit im Sinne der romantischen Überwindung der konventionellen Grenzen zwischen Chemie und Philosophie, Mathematik und Poesie, Geologie und Geschichte.Erste Beispiele für eine wechselseitige Verschränkung von Archäologie und Utopie bieten dem heutigen Leser bereits die umfangreichen Fichte-Studien. Hier zeigt sich der philosophische Ansatz der Frühromantik gleichsam im Reinzustand als Reflexion einer ursprünglichen Seinssphäre, einer Authentizität, die der Autonomie des Subjekts eine neue Potenz verleiht. Die zahlreichen naturwissenschaftlichen Studien, besonders Das allgemeine Brouillon, eine Materialsammlung für ein geplantes enzyklopädisches Universalbuch, demonstrieren dann den schier unstillbaren Bildungs- und Kombinationshunger Hardenbergs. Vor allem die neuen chemischen und physikalischen Theorien der Thermodynamik, des Galvanismus und der Elektrizität faszinierten ihn als Modelle der Lebensenergie einer Natur, deren Wirken sich für sein Verständnis vom Anorganisch-Mineralischen über die Pflanzen- und Tierwelt bis hin zu Politik und Kunst erstreckt.Das Revolutionäre dieses Universalismus liegt aber genau darin, dass die im 19. Jahrhundert wieder geschlossenen Grenzen der cartesianischen Differenz zwischen Natur- und Kulturwissenschaften, zwischen Mechanik und Hermeneutik oder zwischen Erklären und Verstehen souverän ignoriert werden. Seine Analogie-Bildungen lassen Novalis von den Fels- und Gesteinsformationen mühelos zu Staatenbildungen, von der prosaischen Nahrung des Ungekochten zur poetischen Nahrung der Heilmittel übergehen: wohlverstanden per analogia entis, das heißt kraft einer inneren substantiellen Verwandtschaft der Formkraft, und nicht nur als didaktische Stilfigur inhaltlicher Allegorie. Dieser oft als Analogiezauber abgetane magische Idealismus wird von Novalis buchstäblich ernst genommen und beweist vielleicht erst heute, angesichts der in Biologie und Physik geführten Debatten über die "Sprache der Natur" seine Aktualität. Ja man könnte verführt sein, in Novalis schon einen Prästrukturalisten zu erkennen, der auf die Frage danach, was Natur sei, klar antwortete: "ein encyclopaedischer Index oder Plan unsers Geistes."In diesem Sinnen schlägt ihm jede Reflexion auf die Sprache der Natur immer auch in eine semiotische über die Natur der Sprache um und wird die Natur dem Programm einer universalen Lesbarkeit unterzogen: als "Chiffernschrift ..., die man überall, auf Flügeln, Eierschalen, in Wolken, im Schnee, in Kristallen und in Steinbildungen, auf gefrierenden Wassern, im Innern und Äußern der Gebirge, der Pflanzen, der Tiere, der Menschen, in den Lichtern des Himmels, auf berührten und gestrichenen Scheiben von Pech und Glas, in den Feilspänen um den Magnet her, und sonderbaren Konjunkturen des Zufalls erblickt." Man hört förmlich das Programm der ästhetischen Moderne heraus, wie es im 19. Jahrhundert von Poe, Baudelaire oder Mallarmé ausgeführt wurde: Ein Dechiffrieren der Natur, die sich als Text erweist, ja einer Wirklichkeit, die sich überhaupt als Roman lesen lässt. Sicherlich bezieht Novalis sich hier auch auf die mittelalterliche Tradition von der "doppelten Offenbarung Gottes" in der Natur und in der Bibel, aber er lässt dieses Modell als wechselseitige Erhellung der zwei Aufschreibesysteme in einem modernen Sinne fruchtbar werden, der zum Teil erst heute im Zusammenhang der Diskussion um den Gen-Code des Biologischen evident wird.Hardenberg, der natürlich auch den Entwicklungen der Medientechnik, den neuen "Armaturen der Sinne" wie Fernrohr, Mikroskop und Telegraph, größte Aufmerksamkeit schenkte, war sich dennoch als der Dichter Novalis auch der Gefahr des cartesianischen Nicht-Verstehens des Naturzusammenhangs bewußt. "Nur die Dichter haben es gefühlt, was die Natur den Menschen sein kann", so warnt er seine Lehrlinge zu Saïs, auf dass sie beim Studium des Details den Zusammenhang nicht vergessen. Die Entschiedenheit für eine romantisierende, das heißt poetisch potenzierte Sichtweise der Natur artikuliert sich in der modernen Utopie des Gesamtkunstwerkes. "Poetisch" heißt in diesem Zusammenhang aber gerade nicht lyrisch verklärt (im eichendorffschen Sinne), sondern die Betrachtungsweise von einem schaffenden, konstruierenden Gesichtspunkt aus, der jedes Wirkliche immer auch im Horizont des Virtuellen, des Möglichen sieht.Mit seiner Radikalität ist Novalis eine Gestalt des Übergangs. Im 18. Jahrhundert geboren und noch Kind der Aufklärung und des Pietismus, ist er aber schon erfüllt von den Visionen des 19. Jahrhunderts und seiner Utopie von der ästhetischen Rechtfertigung des Daseins. Er ist ein Moderner durchaus im Sinne einer Avantgarde, deren Grundgefühl sich frei nach Benjamin wiedergeben läßt im Bekenntnis: Immer radikal, niemals konsequent.Auch sein früher Tod mit 28 folgt poetischen Prinzipien, ist mehrfach überdeterminiert. Am 25. März 1801, also drei Jahre und sechs Tage nach dem geplanten Hochzeitstage mit der Kindsbraut Sophie stirbt er an den Folgen der seit Monaten sich verschlimmernden Schwindsucht. Es ist kein männlicher Tod, kein Sterben auf dem Schlachtfeld oder nach erfülltem Lebenswerk, es ist ein weiblicher Tod, ein lautloses Davonschweben der Psyche, ein Dahinschwinden des früh Vollendeten, kein Bruch, keine Zerstörung: "so schlief er bis nach 12 Uhr, wo er ohne die mindeste Bewegung verschied. Sein Gesicht war im Tode so unverändert freundlich, als wenn er lebte", heißt es im Bericht des Bruders Karl.Es ist müßig, darüber zu spekulieren, was aus dem Dichter geworden wäre, hätte er weitergelebt, ob er wie sein Freund Friedrich Schlegel fett, reaktionär und katholisch geendet hätte. Novalis starb paradoxerweise im Augenblick des Wiedererblühens der Natur, im Frühling: Vielleicht hatte die blaue Blume in seiner Brust wieder zu wachsen begonnen und sein Leben aufgezehrt.
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