Der antike Dichter durfte noch auf Einflüsterungen der Musen hoffen, der romantische Schriftsteller sich gar als Genie bezeichnen, als Medium göttlicher Botschaften. Dem zeitgenössischen Autor hingegen bleiben nur noch die Stoffe: „Gestaltlos zuerst, ein bloßes Wollen, wachsen sie, werden dringlich und setzen das Schreiben in Gang“, so die Herausgeber Michel Mettler und Reto Sorg in ihrem Vorwort zu Dunkelkammern: Geschichten vom Entstehen und Verschwinden. In dem Band legen drei Schriftstellergenerationen aus der Schweiz neue Erzählungen vor. Gianna Molinari nimmt das erste Foto eines schwarzen Lochs zum Ausgangspunkt einer erkenntnistheoretischen Meditation; Lukas Bärfuss verfolgt die Spur eines in seinem verhassten Heimatort erfrorenen Flüchtlings, Hanna Johansen die militaristische Geschichte der neutralen Schweiz. In allen Texten führt ein Detail, eine Beobachtung oder eine Nachricht zu dessen Bearbeitung, die den Stoff schlussendlich in eine Form bringt. Die Herausgeber könnten zur Beschreibung dieser Affizierung wohl durchaus das Wort Inspiration verwenden, wenn sie es denn noch ungestraft dürften, ist der Begriff doch längst der literaturwissenschaftlichen Entzauberung der Welt zum Opfer gefallen.
Im ersten Text scheint es zunächst so, als wollte Monique Schwitter diese Entwicklung revidieren, als spielte ihre Erzählung in jener Zeit, in der man ja wohl noch sagen und schreiben durfte, was heute leicht einen Shitstorm auslöst. Hier beruht Kunst noch auf der Anschauung des schönen Körpers, hier ist sie von Eros gesegnete Ersatzhandlung körperlicher Begierde – allerdings mit ungewohnten Vorzeichen. Das Genie ist ein pubertierendes Schulmädchen und ihre Musen sind die Männer, die ihr im Zug begegnen. Mit ihren Augen zieht sie den Geruch der Herren in ihre Nase, diese daraufhin in Gedanken aus, um schließlich gewandte Literatur aus diesen Erlebnissen zu schaffen. In ihren Träumen entführt das Mädchen – als edle Heldin – seine Geliebten, natürlich aber nur, um sie vor größerer Gefahr zu retten. Man darf Schwitters Erzählung als etwas verspäteten Spott über jene Genieästheten verstehen, die seit der #metoo-Debatte doch ohnehin schon auf der Anklagebank sitzen.
Nicht straf- wohl aber presserechtlich relevant ist das Werk Tom Kummers. Er gehörte zu den Stars des Gonzojournalismus, bis herauskam, dass er mehrere Interviews mit Stars nicht geführt, sondern erfunden hatte. In Die Brücke lässt er wieder Prominente zu Wort kommen, vermengt Verbürgtes mit Unüberprüfbarem zu einem Drehbuch. Andy Warhol, Madonna und Kim Jong-un laufen durchs Bild, Kummers Programm: „Vielleicht könnte ich eine Geschichte des vergangenen Jahrhunderts entlang der Kirchenfeldbrücke erzählen. Einfach in die Köpfe von berühmten und weniger berühmten Passanten eintauchen – und die Brücke durch deren Augen betrachten.“ Jene Brücke verbindet die Berner Altstadt mit Botschaften und Villen im Kirchenfeldquartier. Diesseits gewachsene Stadt, jenseits privatwirtschaftlich geplante Siedlung. Kummer bewunderte als Kind eines Arbeiters diese Architektur gewordene Erfindung auf der anderen Seite, jene Kopfgeburt, die Geld und Glanz versprach. Sodann entschloss er sich zu Fiktionalisierung des Realen, genau wie Walt Disney, über den es hier heißt: „(E)r fand das Leben so unerträglich, dass es nur durch die Flucht in die Kunst und die Künstlichkeit zu ertragen sei.“ Es scheint, als schreibe Kummer seine eigene Lügengeschichte hier noch mal in Schönschrift ab, als überhöhe er seine Betrügereien zu Akten ästhetischen wie sozialen Widerstands, zu einer alpinen Version von Catch me if you can. Zum Glück nimmt er sich selbst aber nicht so ernst wie seine Erfindungen, sein Drehbuch bekommt er nicht verkauft, der Traummaschine Hollywood ist wohl nicht genug Wahres dran.
Kein Mangel, sondern ein Übermaß an Realität macht Heinz Helle zu schaffen. In Leise und laut erzählt er von einer Recherche zu den Verbrechen des Kinderschänders Marc Dutroux. Die Bilder der Gewalt lassen ihn nicht los, es wird ihm unmöglich, „kein Unwohlsein zu empfinden beim Anblick eines Kindes in der Straßenbahn oder im Bus“. Erholung findet er nur in der ständigen Wiederholung der Gedanken, die ihn quälen, bis er nichts mehr von den Wörtern wahrnimmt „außer einen völlig willkürlichen, unpassenden Klang“. Sprache trägt die Gewalt dessen in sich, was sich mit ihr beschreiben lässt. Einzig sie von ihrer Bedeutung zu befreien, hieße sich von den Albträumen der Wirklichkeit loszusagen. Der Stoff, im Vorwort als Verheißung besprochen, ist hier eher eine Fessel, sie hält den Autor in den Folterkammern der Geschichte fest. Ein Happy End winkt dennoch, zumindest für den Leser, der weiß, dass Helle den Roman fertiggeschrieben hat, um dessen Entstehen es hier zu gehen scheint, er sich nicht der Stille und Bedeutungslosigkeit ergab. Im Gegenteil, war sein Roman „Die Überwindung der Schwerkraft“ von 2018 doch eines der formschönsten Stücke Literatur der letzten Jahre.
Dunkelkammern – Geschichten vom Entstehen und Verschwinden Herausgegeben von Michel Mettler und Reto Sorg, mit Erzählungen von Melinda Nadj Abonji, Lukas Bärfuss, Heinz Helle, Hanna Johansen, Gianna Molinari, Adolf Muschg, Michail Schischkin, Monique Schwitter, Peter Weber u. v. a. Suhrkamp 2020, 237 S., 18 €
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