Sonne, Sand und Originalschauplatz

Lokalkolorisierung Über die Nuancen der touristischen Sehnsuchtsproduktion am Beispiel der Halbinsel Sinai

Tourismus wird als Konsum von Zeichen und Bildern verstanden, das heißt als Abgleich der vor Ort erfahrenen Bilder mit jenen aus der Begehrensproduktion der Tourismusindustrie. Neben Prospekten und Katalogen sind daran auch andere Medien beteiligt: Literatur, Filme, Kunstwerke - und nicht zuletzt die Fotos und Souvenirs der Reisenden selbst, die als Indizien der erfolgreichen Erfüllung ihres Begehrens im unmittelbaren Bekanntenkreis weiteres Begehren produzieren.

Von No Go zu Must See

Trotz gesellschaftlicher Veränderungen und immer weiter fortschreitender Erschließungstechniken sind die prinzipiellen Mechanismen der touristischen Sehnsuchtsproduktion stabil geblieben. Sie ist ein aktiver Prozess der beteiligten Akteure, der zwar mit der Auswahl von Katalogen und Büchern aus dem vielfältigen Angebot professioneller Sehnsuchtsproduktionen beginnt, bei dem die Akteure aber bereits vor der Abreise das Publikum für die von der Reise mitgebrachten Erfahrungen ins Auge gefasst haben. Ihr Verhalten orientiert sich immer auch daran, Erfolg versprechende Erzählungen vom "Außeralltäglichen" für ihr jeweils spezifisches Publikum mit nach Hause zu bringen - einschließlich der Indizien, die den behaupteten Aufenthalt auch belegen können. Gerade diesem Kreislauf von professioneller Werbetext- und Bildproduktion, der Abdeckung mit den Bildern vor Ort, der Wiederabbildung der professionellen Bilder in touristischen Schnappschüssen und den Erzählungen unter Freunden und Bekannten zuhause wird die zentrale Bedeutung bei der Konstruktion neuer Attraktionen zugeschrieben: theoretisch lassen sich - demzufolge - alle Orte als touristische Attraktionen vermarkten, sofern signifikante Bilder geschaffen werden, diese Bilder der Begehrensproduktion am Zielort tatsächlich nachweisbar sind und der oben angesprochene Kreislauf in Gang gesetzt werden kann.

Sollten diese Thesen zutreffen, dann müssten sich mit perfektem Marketing selbst der Strand und die Meereswelten an jeder beliebigen Stelle der Welt nachstellen lassen. Tatsächlich passiert das auch, wie die vielen temporären innerstädtischen Strände beweisen, die von den Stadtverwaltungen implementiert werden - oder auch die "Tropenwelt" in der ehemaligen Zeppelin-Halle in Brandenburg. Allerdings funktionieren die "inszenierten" Erlebniswelten nicht überall gleichermaßen, und sie sprechen auch nicht überall dasselbe Zielpublikum an. Denn es existieren sehr wohl nuancierte Differenzen in den Sehnsuchtproduktionen sowie tradierte Erzählungen und Rituale, die einen integralen Bestandteil in der Choreografie des touristischen Erfolgserlebnisses darstellen. Daher gibt es allen postmodernen Theorien zum Trotz Authentifizierungsprozesse, die dem "realen" Meererlebnis nach wie vor einen Wettbewerbsvorteil einräumen: Sonne, Sand und See will die Mehrheit der Weltbevölkerung immer noch am Originalschauplatz erleben.

Dieser Bedarf baut auf einer hergebrachten Geschichte der Mythenproduktion, die ursprünglich auf der Differenz zwischen einer zivilisierten, aber selbst entfremdeten Kultur in den Metropolen und einer wilden, nicht disziplinierten, aber dafür umso authentischeren Natur beruht. Dem Leben in der Großstadt wurde die Außeralltäglichkeit der Naturerfahrung in den Bergen oder am Meer gegenübergestellt. Und dabei waren es Künstler, die maßgeblich dazu beigetragen haben, Berg und Meer von gefürchteten No-Go-Arealen in Must-See-Destinationen zu verwandeln. Auch am Beispiel Sinai kann man sehen, wie diese Überschreitung der Kultur-Naturdifferenz als essentielles Erlebnis vermarktet wird. Im Tauchsport werden zivilisierte Individuen angehalten, sich in Gebiete vorzuwagen, die eigentlich nur den Fischen vorbehalten waren. Die Individuen logieren dabei aber keineswegs tiergerecht, sondern in hochmodernen komfortablen Hotels, deren Dienstleistungsstandard und Bauformen weltweit selbstähnlich erscheinen.

Als mentaler Erlebnisraum repräsentiert der Strandurlaub trotzdem die Paradieserfahrung schlechthin. Eine 24-stündige All-inclusive-Hospitalisierung in einem romantisch aufgeladenen Bühnenset aus global zusammen getragenen Bildern und Gadgets wie Palmen, Sonnenschirmen, Liegestühlen, Strandbars, Cocktails und spezifischer Musik. Er schließt schon die Anreise mit ein, beginnend mit der Auswahl des Reiseziels über die Buchung, das Ritual des Packens bis zur Anreise selbst, deren beschränkte Strapazen den zeitlich begrenzten Aufenthalt im Paradies umso mehr legitimieren. Der erste sehnsüchtige Blick auf die Super-Attraktion Meer ist dabei jeweils jener vom Fenster eines modernen Flugzeuges aus.

Kreml und Weißes Haus

Tourismus gilt weltweit als der Hoffnungsmarkt schlechthin. Die touristische Erschließung stellte daher für ägyptische Regierungen (nach der Ölförderung und der Errichtung des Suezkanals) eines der zentralen Modernisierungs-Projekte des Landes dar. Wie in vielen anderen Destinationen wurden mit staatlichen Förderprogrammen private Investoren animiert zu investieren: neben dem Nilareal auch in den weitgehend unerschlossenen Gebieten der Sinaihalbinsel. Große Betriebseinheiten, billige Flüge und ein extrem niedriges Lohnniveau waren optimale Voraussetzungen für eine radikale Rationalisierung der Dienstleistungen, des Marketings und der Verwertungsstrukturen, die die Sinaihalbinsel für einen Massenmarkt erst erschwinglich macht.

Denn Hotelbetten werden schon lange nicht mehr einzeln an Laufkundschaft oder Individuen verkauft, sondern - in riesigen Kontingenten über Groß- und Zwischenhändler - auf Marktplätzen gehandelt, die sich bezeichnenderweise Börsen nennen. Lokale mittelständische Unternehmen ohne überregionale Kontakte und große Vermarktungszusammenhänge haben in diesem Kontext kaum Chancen, ohne hohe Anteile an Selbstausbeutung bestehen zu können. Im Sinai werden daher die Schilfhüttencamps, die von Individualreisenden aus Israel besucht werden, bald der Vergangenheit angehören.

Vor ihrer Erschließung war die Sinaihalbinsel weitgehend unbewohnt und unbekannt: eine semiotische und räumliche Leere, in der es nichts gab außer Sonne und Meer. Developer und Touristen mussten also erst ein- und ausgeflogen werden, die Dienstleister kommen vorrangig aus der Nilregion. Einheimisch sind hier nur die Beduinen, die aufgrund der Arbeitsmöglichkeiten im Tourismus mittlerweile größtenteils sesshaft geworden sind - bei Bedarf aber engagiert werden, um den Gästen ihre einstige nomadische Kultur vorzuspielen. Durch seine geografisch isolierte Lage erscheint das Reiseziel daher als eine riesige gated community, die allseits von Meer und Wüste umgeben ist. Selbst die Baumaterialien für die Rohbauten und die Ausstattung mussten von außerhalb importiert werden. Dieser Import trifft gewissermaßen selbst auf die Hoteltypologien zu.

Sie sind Bestandteil einer umfangreichen kulturellen Binnenkolonisierung. Wie einst bei den Grandhotels oder den Hotels der Moderne handelt sich um ortsungebundene, universale Typologien, die eins zu eins aus urbanen Kontexten in die Tourismusdestinationen versetzt wurden (und umgekehrt). Destinationen, die noch in der Blüte des Fordismus in zentralistisch regierten Kulturen erschlossen wurden - wie etwa die Retorten-Skigebiete in Frankreichs Alpen, die Küste Dalmatiens oder später Südspaniens -, sind oder waren zumindest zu Beginn vorrangig von rationalistischen Bauformen durchsetzt. Erst bei später erschlossenen Reisezielen, wie auf der Sinaihalbinsel, wird in postmoderner Strategie in der Oberflächengestaltung und im Interieur bewusst Zeichen lokaler Kulturen Geltung verschafft, um den Gästen eine Identifikation mit dem Ort auf emotionaler Basis zu ermöglichen.

Allerdings gibt es im Sinai gar keine lokalen Bauformen, auf die sich die Planer hätten berufen können, denn die einzigen indigenen Kulturen waren Nomaden, die nicht in befestigten Siedlungen wohnten, und deren Zelte sich nicht als Vorbild für die global identischen Komfortansprüche des Mittelstandes eigneten. Daher musste hier ein lokaler Stil neu konstruiert und projiziert werden, der scheinbar aus südmediterranen Stilen und arabisierenden Ornamenten zusammengesetzt wurde. Dabei entstand nun über den streng rationalisierten Strukturen eine durchaus beredte Architektur, eine lokale Destinationsmaske, die aber keineswegs mit einem Zeichenüberschuss prahlt - ganz im Gegenteil zu den neuesten Projekten in der Südtürkei, wo nicht mehr vermeintlich autochthone Bauformen nachgestellt werden, sondern populärkulturelle Superzeichen: Der Kreml in Moskau, das Weiße Haus in Washington, das Kreuzfahrtschiff Titanic, ja sogar die Zeichentrickwelt der Flintstones, scheinen hier als thematische Leitmotive für Clubanlagen aneignungsfähig.

Rohbau und Melancholie

An sich ist der touristische Alltag am Sinai wohlgeordnet und -organisiert. Der Fokus der Gäste reduziert sich tagsüber auf das Erlebnis von Sonne, Sand und See - und abends auf ein breites Angebot an Clubs. Der Mangel an Hinterland und das Fehlen eines vermarktbaren historischen Bauerbes oder informeller Märkte eliminiert jegliche Fluchtmöglichkeit und reduziert das Kulturprogramm auf die Inszenierung tanzender Derwische und knapp bekleideter Frauen in den Hallen der Hotelanlangen. Aber spätestens wenn die Gäste für den obligatorischen Tauch-Ausflug zum Korallenriff die künstlichen Dörfer und intakten All-Inclusive-Clubanlagen verlassen, können sich alternative Sehenswürdigkeiten in die Randzonen ihres touristischen Blicks schieben. Denn dann passieren sie mit dem Bus oder Jeep eine unerwartet hohe Zahl leer stehender Rohbauten von Hotelanlagen, die in ihrer Gesamtheit den Eindruck erwecken, als wäre ein Großteil der Erschließung im Sinai in seiner Entwicklung gehörig ins Stocken geraten.

Viele dieser im Wüstensand gestrandet erscheinenden Riesenskulpturen aus Beton sind Förderungsruinen (die Entwicklungsgesellschaft hat öffentliche Förderungen akquiriert und nun vorläufig kein weiteres Interesse am Projekt), Verlustabschreibungsruinen (die Gesellschaft wurde ohnehin nur mit dem Ziel begründet, Verluste zu schreiben, um die Einkommensteuer zu senken, und hat gar kein Interesse an einem Gewinn), Developer-Ruinen (die Entwickler warten auf Abnehmer, an die sie den Rohbau gewinnbringend veräußern können) oder Spekulationsruinen (tatsächlich ist kein Kapital für die Fertigstellung mehr vorhanden). Womöglich handelt es sich auch nur um einen Schwarzbau, der mit Bauverbot belegt wurde, womöglich um die indirekten Folgen von Terroranschlägen auf Tourismusanlagen, die als Mahnmale dem Touristenstrom aber keinen Abbruch tun. Die penibel aufgeräumten Rohbauten in der scheinbar unerschlossen Wüstenlandschaft üben zum einen eine Faszination auf viele Vorbeifahrende aus, die Indiz für eine spezifische Verfasstheit des europäischen Mittelstandes ist: Zuallererst sind Ruinen seit jeher die Schlüsselmotive der Bildungsreisenden schlechthin, und überdies gewährleistet das Unfertige, der Torso, kurzfristig Abstand vom durchorganisierten Bettenburgtourismus mit Vollverpflegung.

Zum anderen stehen diese Rohbauten in einem Übergangsstadium zwischen der politischen und architektonischen Moderne, die verloren vergangen ist, und einer postmodernen, emotionalen Sprache, die noch nicht auf die Gebäude appliziert wurde. Es handelt sich um melancholische Monumente der Moderne, die von einer postmodernen Kontaminierung gerade noch verschont geblieben sind. Dass dabei sämtliche Spuren einer Nutzung getilgt sind, macht sie umso offener für die Projektionen der Betrachter - und dass sie womöglich in der Zukunft doch noch fertig gestellt werden und dadurch ihre skulpturale Kraft unzweifelhaft verlieren könnten, steigert den Aspekt der Melancholie.

Für die Melancholie der verlorenen Moderne und der damit assoziierten Utopien ist der gebildete Mittelstand in besonderem Maße anfällig. Der Bedarf ist groß genug, so dass sich avancierte Lifestyle-Magazine wie Wallpaper immer wieder solchen Sujets widmen. Die Ruinen am Sinai bieten sich deshalb als Nischen-Destination (oder Pilgerstationen) für Bildungsreisende geradezu an. Sie bilden formidable Fotomotive, visuelle Marker für die Erzählungen über das Außeralltägliche, mit Hilfe derer distinktionsbedürftige Reisende ihrem Referenzpublikum zu Hause beweisen können, dass es selbst auf wohlfeilen Pauschalreisen etwas Spezielles zu entdecken gibt.

Michael Zinganel arbeitet als Architekturtheoretiker, bildender Künstler und Kurator in Graz und Wien; Lehraufträge und Gastprofessuren an unterschiedlichen Universitäten. Ausstellungen, Projekte und Publikationen, u. a. über Stadt und Verbrechen und zuletzt zur Touristifizierung des Alltags. Der Essay geht aus von einem Beitrag im Katalog Sinai Hotels, der zu einer Fotografie-Ausstellung von Sabine Haubitz und Stefanie Zoche in München 2006 erschienen ist.

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